Dienstag, 12. Dezember 2023

Chapelle Saint-Sixt bei Eygalières

 Der Coverboy der Provence heißt Sixtus. Mit dem Satz wollte ich ja schon immer mal beginnen. Eigentlich ist die Sache selbstverständlicher zu kompliziert, um sie in bloß sechs Wörter zu fassen. Alors: Eine Kapelle, die dem Heiligen Sixtus geweiht ist – die Chapelle Saint-Sixte – hat sich über Jahrzehnte zäh als das Motiv emporgearbeitet, das für die Provence steht. Als symbolischer Aufmacher von Artikeln, Cover von Zeitschriften, Foto von Websites, Umschlagbild von Reiseführern. (Für die Jüngeren: Reiseführer sind Tripadvisor auf Recyclingmaterial.) Immer mal wieder schafft es das kleine Gotteshaus ins Herz der Layouter und Bildredakteurinnen und damit vor die Augen von Leserinnen, Usern, wem auch immer. So wie jetzt:








Die Kapelle ist ja auch hübsch.

Saint-Sixte steht seit beinahe tausend Jahren etwa einen Kilometer östlich von Eygalières. Das ist, wenn man großzügig geographisch schätzt, ungefähr auf halber Strecke zwischen Saint-Rémy und Cavaillon. Eine romanische Kapelle, die im 12. Jahrhundert auf einem grauweißen Kalksteinhügel errichtet wurde, wo zuvor bereits ein antiker Tempel gestanden hatte. Aus den Steinwänden wachsen massige Stützwände wie Rippen, das Gotteshaus ist wirklich das: nicht größer als ein Haus. Die Kapelle ist auch zu bescheiden für einen richtigen Turm, stattdessen erhebt sich über den Dachfirst ein simples Glockengestell. Im Netz zeigen die meisten Fotos der Kapelle das Glockengestell noch so kahl wie mein Haupt. Doch in echt hängt längst wieder eine Glocke drin und ein schmiedeeisernes Kreuz steht noch obendrauf.






An eine Seite schmiegt sich ein ummauertes Mini-Kloster an das Gotteshaus, die Mönche, die hier einst wirkten, brauchten wirklich wenig Platz. Weil von Generation zu Generation mehr Pilger hierher kamen, wurde eine Vorhalle an den Eingang unterhalb des Glockengestells angebaut. Sie ist ein halbes Jahrtausend jünger, sieht aber genauso alt aus wie die Kapelle.

Gerade in ihrer Askese ist das Monument schön: Die Mauern sind frisch verputzt und schimmern grau, das Gewölbe der Vorhalle ist in einem kräftigen Ockergelb gehalten, ein starker Kontrast zum dunklen Grün der Zypressen, die als Wächter neben dem Gotteshäuschen stehen, und zum überirdischen Blau des Himmels. Diese Komplementärfarben hätten Vincent van Gogh gefallen, orange und blau, der niederländische Meister hat gerne mit derartigen Kontrasten gespielt. Es führt nicht einmal ein richtiger Weg den Hügel hinauf, muss es auch nicht. Der Felsboden ist so karg, dass Buschwerk nur hier und dort grüne Inseln formt, der Rest ist nackter und mithin leicht zu begehender Boden.

In einer Art Kranz rund um den Hügel haben sich Olivenbäume und Micocouliers aus Spalten gezwängt. Fast alle Stämme und Äste sind schwarz verbrannt von einem Feuer, das mindestens im Vorjahr, wenn nicht vor noch längerer Zeit gewütet haben muss. Doch die Bäume, die hier wachsen, sind zäh: An den äußersten Spitzen ihrer vernarbten Äste sprießt frisches grünes Laub.





Die schmucklosen Mauern und der karge Fels, die blassen Farben des Gotteshauses und die intensiven Farben der Natur, die Olivenhaine am Fuß der Anhöhe und der Blick auf die blau schimmernden Steinwogen der Alpilles, vom Vordach umrahmt – das ist die Provence. Die Natur ist karg und abweisend, aber der Mensch ringt ihr trotzdem Früchte und sogar den Glauben ab. Andererseits tut er das nicht in triumphierender Großspurigkeit, sondern bescheiden, still, weitab von aller Geschäftigkeit. Sant-Sixt gehört genauso in die Landschaft wie ein Stein oder ein Baum.

Ach ja, Sixtus, der Namenspatron und Coverboy: Sixtus II. war einer der ersten Päpste, er wurde am 6. August 258 in Rom aus einem Gottesdienst heraus verhaftet und noch am selben Tag enthauptet. Er ist der Schutzpatron, der bei Halsschmerzen hilft. (Logisch, selbiger wurde ihm ja durchtrennt, der Heilige weiß, wie sich das anfühlt.) Er steht schwangeren Frauen bei. (Don't ask me why.) Er behütet die Bohnenernte. (Dont ask me … genau.) Und, in der Provence extrem wichtig und vermutlich deshalb zog die Kapelle einst so viele Pilger an: Der Heilige Sixtus sorgt für ein gutes Gedeihen der Weintrauben.

Diese Kapelle ist also einen Besuch wert, nicht nur zu Weihnachten...

Donnerstag, 16. November 2023

Skorpione, Geckos und andere Hausbewohner

Vor, jetzt müssen wir alle mal ganz tapfer sein, tatsächlich schon beinahe zehn Jahren ist der erste Krimi um Capitaine Roger Blanc erschienen. Dort gibt es eine Einstiegsszene, die ich heute nicht mehr schreiben würde. Das hat nichts mit woken Sensitivity Readern zu tun (deren Tun ich mit großer Begeisterung verachte), sondern mit … Insekten. Genauer: einem Insekt.

Einem schwarzen Skorpion.





Der Einstieg geht nämlich folgendermaßen: Blanc wird gegen seinen Willen in die Provence versetzt, in seinem Frust kickt er einen Stein fort – und scheucht damit einen Skorpion auf. (mehr dazu hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2014/05/esmag-vielleicht-etwas-seltsam.html) Tatsächlich war es früher hier genau so. Du hast irgendwo irgendeinen beliebigen Stein angehoben, und schon hob Euscorpius flavicaudis seinen vorwitzigen Stachel und zwei vorwitzige Scheren. Sie waren auch gerne im Haus unterwegs, alte Steinwände und undichte Fenster, hey! Das war nicht lebensgefährlich, sondern alltäglich. Mich hat einmal so ein zwei Zentimeter kurzer Genosse in den Finger gestochen, das fühlte sich an wie eine Kombination aus Wespenstich und Stromschlag. Ein echter Wachmacher, aber nach ein paar Minuten hast du die Sache schon wieder verdaut. (D'accord, wer allergisch reagiert, findet sich vermutlich in der Notaufnahme wieder, aber das gilt leider ja auch für die Wirkung mitteleuropäischer Feld-, Wald- und Wieseninsekten.)

Doch dieses Jahr habe ich noch keinen einzigen Skorpion gesehen. Letztes Jahr auch nicht. Und vorletztes Jahr, glaube ich, auch nicht. Das Foto oben habe ich vor sechs Jahren gemacht...

Wo sind die Biester bloß alle hin? Skorpione, meinte ich irgendwo mal gelesen zu haben, sind neben Ratten die Tiere gewesen, die auf den Pazifikinseln überlebt haben, auf denen testweise Atombomben gezündet worden waren. Zähe Kerle jedenfalls, gedeihen in Wüsten, Regenwäldern, Höhlen und halten es in manchen Weltgegenden auch noch in fünftausend Metern Höhe aus. Wir versprühen im und um das Haus kein Gift, die Bepflanzung hat sich nicht großartig verändert, von irgendwelchen neuen Raubtieren habe ich auch nichts gehört. Aber die Skorpione sind fort.

Wenn man erst einmal darüber nachdenkt, fallen einem dann gleich ein paar andere Tiere ein, die von der mediterranen Bühne auf- oder abtreten. Früher flitzten viele Eidechsen über Wände und Mauern und nur sehr wenige Geckos. Heute sind es ausschließlich (und viele) Geckos. Nicht, dass ich etwas gegen Geckos hätte, im Gegenteil. Die flinken Minisaurier (Die Freundin unseres Sohnes taufte einen „Fridolin“) sind großartig, vor allem im Haus. Ein Gecko im Zimmer, und du hast Ruhe vor Fliegen und Mücken. Ein Gecko in der Küchenspüle, und du musst ganz schön flink sein, um ihn aus dieser Falle wieder zu befreien. Aber was ist aus den ebenfalls insektenvertilgenden und ebenfalls schnellen Eidechsen geworden? (Das ist mir aufgefallen, als ich beim Joggen im Wald eine Eidechse aufgescheucht habe. Da wurde mir klar, dass ich dieses Jahr zuvor bislang noch gar keine … genau.)





Oder das: Meine Liebste und ich sitzen im Spätsommer auf der Terrasse und trinken Espresso. Da bewegt sich etwas auf der Stuhllehne gegenüber – auf den Eisenbögen stolziert eine wirklich stolze, wirklich große Gottesanbeterin herum. Die habe ich als Kind anno Dunnemals mal in irgendwelchen Tierfilmen gesehen. Doch live in der Provence? Vermutlich leben die hier seit Jahrmillionen, aber zumindest in den letzten Jahrzehnten haben sie sich gut vor mir versteckt.

Jetzt jedoch kommen Gottesanbeterinnen zum Kaffeeklatsch.





D'accord, nun reden wir alle wieder über den Klimawandel. Und die Provence wird ja auch immer heißer (siehe hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2021/02/mimose-bluht-der-fruhling-kommt-zu-fruh.html). Aber, verdammt, Skorpione lieben doch gerade Hitze und Trockenheit! Und Eidechsen sind sicher keine Polarbären! Und Gottesanbeterinnen verspeisen Insekten, nicht wahr? Aber gibt es von Beutetieren plötzlich so viel mehr, dass sie jetzt überall jagen? Oder so viel weniger, dass sie sich aus früheren Verstecken hinaus und bis auf unsere Stuhllehne wagen müssen?

Vielleicht bin ich ja zu blöd das zu googeln, doch ich finde keine wissenschaftliche These, etwa zum Verschwinden der Skorpione. Liegt es also an mir? Bilde ich mir das alles bloß ein, weil die Skorpione irgendwo eine Rave-Party feiern und ich habe das als einziger nicht mitgekriegt? Für jeden sachdienlichen Hinweis wäre ich dankbar. Bis dahin kicke ich hin und wieder Steine weg und hoffe, endlich einen alten Bekannten zu treffen.

Montag, 9. Oktober 2023

Marseille, Vieux Port - et la Traversée vers Mascate

Marseille, Seefahrt, Hafenromantik! Eh bien... Sehen sich Landratten wie du und ich mal die Statistiken an – wieviele Tonnen Fracht werden pro Jahr umgeschlagen, wieviele Container aus- und eingeladen, wieviele Passagiere kommen und gehen von Bord, solche Sachen – tja, dann, surprise, ist unser guter alter provenzalischer Port tatsächlich immer noch eine große Nummer im Mittelmeer. Aber wen interessieren schon Statistiken? Genau.





Historiker verkünden: Griechische Seefahrer aus Phokaia haben, wohl so um 600 vor Christus, Massalia gegründet. Damit war in Marseille schon der Seebär los, als sie in Hamburg oder Rotterdam noch auf den Bäumen saßen. Der Vieux Port, der „Alte Hafen“, ist tatsächlich ein sehr alter Hafen, denn seine Kais erstrecken sich noch ungefähr da, wo schon die alten Griechen Molen erbaut hatten. Aber wen interessiert schon Geschichte? Genau.





Landratten sehen, wenn sie um den Vieux Port herum flanieren (da brachst du keine Viertelstunde, so riesig ist der nicht) hauptsächlich Masten und Außenbordmotoren, dazwischen ein paar unverdrossene Angler: der Vieux Port ist ein Yachthafen wie du und ich, richtig cozy, man darf auch gerne träumen, mal selbst am Steuer der einen oder anderen Yacht zu stehen, aber, hey, ein richtiger Hafen ist das nicht. (Immerhin haben Archäologen und Freiwillige vor einigen Jahren die Gyptis nachgebaut, nach dem Wrack eines antiken griechischen Fischerbootes, das im Erdreich von Marseille geborgen worden ist. Damit segeln Enthusiasten wieder herum, sehr schön und sehr Old School und der Heimathafen ist der Vieux Port.) Wo, zum Klabautermann, sind dann aber die ganzen Schiffe, ich meine: die richtigen Schiffe?





Alors: Das, was heute in nautischen Kreisen „Marseille“ heißt, findet im echten Leben eigentlich fünfzig Kilometer weiter westlich statt. In Fos-sur-Mer legen geradezu gigantische Containerschiffe und Tanker an, da wird die Tonnage gemacht. Nur: Zusehen darf man dabei nicht, das ist praktisch alles abgesperrt. Nix leichte Mädchen, schwere Matrosen, das ist alles Pipeline und Lastwagenstau auf der einzigen Zubringerstraße.





Wer es doch Hardcore haben möchte, dem empfehle ich Port-de-Bouc nebenan. Dort ist ein zweiter, kleinerer Tankerhafen angelegt worden, direkt gegenüber vom Yachthafen. Wer dort mit dem eigenen oder gecharterten Bötchen herumfährt, sieht Tanker, die langsam leergepumpt werden, bewundert das Ballett der Schlepper, atmet den lieblichen Duft diverser Erdölderivate ein.

Doch in Marseille? D'accord, hier landen größenwahnsinnige Kreuzfahrtschiffe an. Wer auf diese schwimmenden Hotels steht, kann an praktisch jedem beliebigen Tag auf jede beliebige Anhöhe der Stadt steigen und diese Neo-Titanics der Meere sehen. Der Hobbysegler in mir wundert sich stets aufs Neue, dass diese Kästen, die inzwischen wolkenkratzerhoch sind (und das ist keine Übertreibung), nicht einfach bei der ersten seitlichen Böe kentern, ja, dass diese Brocken überhaupt schwimmen. Da müssen Gesetze der Quantenphysik wirken, nicht der Physik wie du und ich.





Bref, Seefahrerromantik mit Reisenden wie aus der Dritten Klasse, Auswanderern, qualmenden Schornsteinen, rosttätowierten Rümpfen, übellaunigen Matrosen, überforderten Stewards, misstrauischen Zöllnern, wagemutig gestapelter Fracht - gibt’s das nicht mehr, nicht einmal in Marseille? Mais oui. Dafür geht man einfach in ein, genau, Einkaufszentrum.





Terrasses du Port heißt es, ist ziemlich neu und ziemlich luxuriös (luxuriös genug für einen Apple-Store) und liegt hinreißend direkt am Mittelmeer. Das heißt, eben nicht ganz direkt. Zwischen Konsum und Küstensaum erstreckt sich der Kai, an dem die Fähren für Korsika und den Maghreb anlegen. Und DIE sind cool. Hier ist Seefahrt noch nicht Kreuzfahrt, sondern nüchterner Personentransport, hier ist der Passagier nicht verwöhnter Gast, hier darf er noch Fracht sein. Wenn man ahnen will, wie es in den vielleicht denn doch nicht ganz so goldenen Zeiten der Dampfschifffahrt einst überall in Europas, Amerikas und eigentlich allen Häfen zuging: Wenn du die zwei Ströme der Ankömmlinge und der Abfahrenden sehen möchtest, der Jungen und Alten, der Hoffnungsvollen und Gescheiterten, derjenigen, die voller Energie ankommen und voller Glück abreisen (oder eben nicht), der Frauen, Männer, Kinder, dann stell dich auf den Quai de la Joliette vor oder das Dach auf den Terrasses du Port und staune. Ein-, Aus- und Rückwanderer, schwere und leichte Fracht und dahinter die offene See – das gibt’s direkt hinter dem Apple-Store, das ist mein Lieblingshafen in Marseille.

Ah, Vieux Port: Heute genießen den täglich viele Touristen, und er ist ja auch wirklich schön. Die Restaurants an seinen drei Ufern sind allerdings, nun ja, formulieren wir es so: Eben vor allem auf Touristen eingestellt. Wenn man hier speisen möchte, dann empfehle ich die Wanderung bis ganz ans Ende: Au Bout du Quai, Ecke Quai du Port, Avenue de Saint-Jean. Sehr nett, gutes Essen, und da der Laden von Frauen geführt wird, haben wir neben all den Seemännern ganz am Ende des Kais auch noch ein paar Seefrauen gewürdigt.






P.S.: Chère amies, cher amis, à partir du 11 octobre nous pouvons embarquer pour un voyage (historique) entre Marseille et Mascate. Bienvenue à bord du Champollion...

https://www.editions-jclattes.fr/livre/la-traversee-vers-mascate-9782702451212/

Und hier ist der Link zum Provencebrief rund ums Original:


https://provencebriefe.blogspot.com/2022/08/die-passage-nach-maskat.html

Freitag, 15. September 2023

Tour d'Horloge in Salon-de-Provence

Die Tour d'Horloge in Salon-de-Provence ist ganz sicher nicht das berühmteste Monument im Midi, doch ich finde diesen Uhrenturm richtig sympathisch. Das liegt gar nicht mal so sehr daran, was gebaut worden ist, also an seinem Äußeren, sondern eher, wie er gebaut worden ist, also an seiner Geschichte. (Klar, ich habe, erstens, in fernen vergangenen Zeiten noch fernere vergangene Zeiten studiert und bin, zweitens, auch schon mal mediterraner Bauherr gewesen, da freut man sich immer, wenn man was lernen kann.)





Also: Kurz vor dem Jahr 1600 beschließt der Rat der Stadt Salon, dass man eines der überflüssig gewordenen mittelalterlichen Festungstore durch einen Uhrenturm ersetzen soll, damit fürdahin alle Bürger wissen, wie spät es ist. Das ist auch eine Form vom Abschied aus dem Mittelalter und der Ankunft in der Moderne: Jeder muss jetzt pünktlich sein. Das ist ein öffentliches Bauvorhaben und, die Berliner unter uns kennen das, bei öffentlichen Bauvorhaben geht es Schlag auf Schlag: Schon gut ein Vierteljahrhundert nach dem Beschluss wird bereits der Grundstein gelegt. Der Baumeister Joseph Portau und die Maurer Sautel, Père et Fils, machen sich 1626 an die Arbeit, zwischendurch verklagt der eine den anderen oder den Stadtrat, aber 1630 ist der Turm fertig.

Oder, halt, doch nicht...

Die öffentlichen Bauherren, die Berliner unter uns kennen das, haben second thoughts. Zwei Etagen sind nicht genug für einen Turm, wer hätte das gedacht, es müssen, genau, drei Etagen sein! Leider, die Lauterbachs unter uns kennen das, kommt dann ein Virus dazwischen. Die Pest geht um, und von den damals gut dreitausend Bürgern Salons ist plötzlich die Hälfte tot. (Es lohnt sich, über solche Seuchen nachzudenken, bevor man mal wieder über Corona und Coronamaßnahmen weint.) Jedenfalls dauert es noch bis 1664, dann aber haben Salons Überlebende die dritte Etage endlich errichtet.





Ein Uhrmacher aus Lançon setzt ein Uhrwerk ein, das nicht allein die Zeit, sondern auch die Mondphasen anzeigt. Drei Glocken, insgesamt schlappe zweieinhalb Tonnen Bronze, werden mit der Mechanik gekoppelt und melden auch akustisch, wem welche Stunde geschlagen hat. Was ich übrigens genial finde: Man hat gerade diese Stelle der alten Stadtmauer als Platz des Uhrenturms gewählt, weil sie in der Hauptwindrichtung steht. So weht das Glockengeläut besonders oft und besonders laut über die Dächer, auf dass niemand mehr sagen kann, er wüsste nicht, wie spät es ist, Zeitdruck made im 17. Jahrhundert.

Nun, der Turm wirkt wie ein mittelalterlicher Donjon, nein, halt, wie ein Renaissancebauwerk, nein, halt, wie ein italienischer Campanile, nein, halt, manche Flaneure erinnert er sogar an eine chinesische Pagode, aber, hey, er tut seine Pflicht. Das Uhrwerk erwies sich als so solide, dass man bislang ungefähr einmal pro Jahrhundert neue Zahnräder und was man sonst so braucht einbauen muss, es läuft zuverlässiger als ein Renault und ist wartungsfreundlicher als ein iPhone. Als 1909 die Erde in der Provence bebte, blieb der Turm unerschütterlich stehen, das Uhrwerk allerdings auch: Es zeigte zehn nach neun Uhr abends an, den exakten Zeitpunkt des seismischen Ereignisses. Dann wurde die Mechanik wieder repariert und, tja, die Uhr läuft und läuft.





Was mich aber - d'accord, nicht als Historiker, wohl aber als Bauherren - vor Bewunderung wirklich auf die Knie sinken lässt, sind die Gesamtkosten für alles: für über sechs Jahrzehnte gestreckte Maurerarbeiten, drei Bronzeglocken, eine eisernen Spitze und eine hochkomplexe mechanische Uhr waren 11.161 Livres fällig.

Das entspricht nach heutigem Umrechnungskurs ungefähr 335.000 Euro.

Eh bien, unsere modernen Bauten schaffen wir nur noch mit ein paar Nullen bei den Kosten mehr, aber dafür halten sie dann auch ein paar Nullen bei den Jahren weniger lang.

Donnerstag, 13. Juli 2023

Verwunschene Kapellen und andere sommerliche Zufallsfunde in der Provence

Zufallsfunde sind die schönsten Funde – doch es passiert einem auch nicht alle Tage, dass man zufällig gleich über eine ganze Kirche stolpert, die sich im Wald verlaufen hat. Beziehungsweise eine halbe Kirche, die sich... Also, die Geschichte geht so:

Bei Recherchen für „Stille Sainte-Victoire“, meinen zehnten Krimi mit Capitaine Roger Blanc (mehr dazu hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2023/05/stille-sainte-victoire-roger-blancs.html), haben meine Frau und ich eines Tages Kurs auf ein Hochplateau bei Velaux genommen. Dort werden seit einigen Jahren ziemlich spektakuläre Dinosaurierfossilien entdeckt. Dafür steigen wir im Schatten von Aleppo-Kiefern einen nicht markierten Forstweg durch einen kleine Wald den Hang hinauf – und stehen plötzlich vor einer winzigen Kapelle.





Zwischen den Stämmen ragt ein kleines, ganz gut getarntes Gotteshaus auf: Die schmucklosen Außenmauern, formulieren wir es freundlich, ockerbraun verputzt, das Dach bekrönt von einem bescheidenen Glockengestell. (Das heißt, eigentlich wird das Dach von einem Micocoulier bekrönt, der aus selbigem herauswächst. Hier ist auf jeden Fall schon sehr, sehr lange kein Dachdecker mehr tätig gewesen.) Der Teilzeit-Architekturexperte in mir schätzt anhand von Form und Größe, dass die Kapelle zwischen einhundert und zweihundert Jahre alt ist. Also, für unsere in Epochen denkende Südregion, ein eher neuer Schuppen.

Nur: Von wem ist dieses Kirchlein erbaut worden? Und wozu?

Weit und breit wohnen weder Lebende in einem Ort, noch Tote auf einem Friedhof. Keine bedeutendere Straße ist in der Nähe, jeder mir bekannte Pilgerweg schlägt einen großen Bogen um diesen Flecken Erde. Genau genommen schlägt so ziemlich jeder Weg einen Bogen, denn außer dem Pfad der Förster und Waldarbeiter gibt es hier keine Schneise im Grün. Die Kapelle steht einsam im Wald, und niemand weiß warum.

Niemand kennt auch ihren Namen. Keine Inschrift am Giebel über dem Eingangsportal, keine Heiligenstatue, kein Heiligenbild. Eh bien, Bild... Der Innenraum, ich will nicht sagen: leuchtet, doch schimmert blau, rot, gelb, eigentlich in allen schönen Farben. Ein Abglanz alter Fresken, mit denen die Kapelle einst vollständig ausgemalt gewesen sein muss, ein buntes Schmuckkästchen Gottes. Heute noch, eben, schimmert es hier und dort, und ich fühle mich zwar nicht wie Howard Carter im Grab des Tutanchamun, aber doch wie ein Entdecker, der dem Abendglanz einer uralten Zivilisation bestaunt.





Dabei ist es doch bloß ein namenloses Kapellchen.

Davor steht ein schmuckloser Sockel, von dem aus vielleicht einst die so schmerzlich vermisste Heiligenfigur (Oder die Mutter Gottes? Oder ein Kreuz?) in den Himmel oder auf den verirrten Pilger blickte. Diesen Sockel verziert eine moderne, hingesprayte … Zielscheibe. Die Hand, die diese deformierte Zielscheibe malte, war so unsicher, dass ich mir lieber keine Waffe in selbiger Hand vorstellen möchte. Andererseits: Im Sockel stecken keine Einschüsse, wenn also nicht mit einer Knarre, womit hat der unbekannte Freischütz dann auf dieses Ding geballert? Pfeile mit Gummispitzen? Wasserpistolen? (Aber hier fließt weit und breit kein Bach, kein Tümpel ruhet still im Wald.) Paintball? (Ohne einen einzigen Fleck zu hinterlassen?)





Rätsel über Rätsel...

Die Provence hat circa drei Jahrtausende Kultur auf ihren Hügeln. Entdeckungen wie diese Kapelle sind selten, aber so selten denn wieder doch nicht. Von antiken Siedlungen bis zu eingestürzten modernen Tunneln darf sich so ziemlich jeder Liebhaber der letzten paar abendländischen Großepochen auf unverhoffte Zufallsfunde freuen. Sie sind spannend, schön, manchmal gruselig, gar gefährlich zu besichtigen, verwunschen, anstrengend, bescheiden, was du willst – sie geben mehr Fragen auf, als Antworten zu geben.

Alles also ziemlich coole Orte für einen Krimi.



Apropos Krimi, aber doch was ganz anderes: Am 18. Juli 2023 erscheint die Taschenbuchausgabe von „Die Passage nach Maskat“. (mehr dazu hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2022/08/die-passage-nach-maskat.html) Klein, handlich, also ich würde damit in Urlaub fahren, wenn ich nicht schon wüsste, um was es geht...






In diesem Sinne einen schönen Sommer!

Montag, 15. Mai 2023

Stille Sainte-Victoire, Roger Blancs zehnter Fall

Was hat die Provence berühmt gemacht? Lavendel? Oliven? Rosé? Eh bien, es sind die, genau, Dinosaurier. Es war nämlich vor langer, langer Zeit, da war der Midi der Jurassic Park von dem, was mal der Kontinent Europa werden sollte. Das wussten Sie nicht? Das wusste Capitaine Roger Blanc auch nicht. Aber jetzt, in seinem zehnten Fall, lernt er es und ist ziemlich erstaunt darüber. Sie können, wenn Sie Blanc & Co. gewogen sind, diese Ermittlungen vom 17. Mai an verfolgen.





Die Geschichte geht so: Die Sainte-Victoire ist der Hausberg Südfrankreichs. (siehe auch hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2020/07/montagne-sainte-victoire-bei-aix-en.html) Die tausend Meter hohe Felswand liegt direkt hinter Aix-en-Provence und scheint sich jedesmal verwandelt zu haben, wenn man ihr nahekommt. Mal wirkt die Sainte-Victoire wie eine Pyramide, die aus der Garrigue wächst, mal wie eine gigantische steinerne Klinge, die eine hügelige Landschaft zerteilt, mal wie ein Alpengipfel, der sich hierhin verirrt hat und geblieben ist, weil es so schön ist. Zu jeder Jahreszeit, zu jeder Tageszeit, zu jeder Stunde, gefühlt zu jeder Minute ändert sich die Farbe des Felsens: grau, gelb, ocker, rosa, orange, blau, der Gipfel ist die größte Leinwand im Umkreis von mindestens hundert Kilometern. Kein Wunder, dass Paul Cézanne die letzten Jahre seines langen Lebens in Aix-en-Provence und Le Tholonet verbracht hat, um diesen Berg immer und immer wieder zu malen, er konnte sich nicht sattsehen, er konnte sich nicht sattmalen.




Als Capitaine Roger Blanc und seine Freunde und Kollegen zur Sainte-Victoire gerufen werden, geht es allerdings nicht um Cézanne, sondern um Staudämme und knappes Wasser (zu Wasser, Dämmen und dem Vater von Zola: https://provencebriefe.blogspot.com/2023/04/lac-zola-der-sainte-victoire-bei-aix-en.html), um anarchische Trekker und Gleitschirmpiloten, die um das Gipfelkreuz schwirren wie bunte Rieseninsekten und dabei zufällig Augenzeugen eines Verbrechens werden.






Und es geht eben auch und vor allem um Dinosaurier. Seit dem 19. Jahrhundert ist ausgerechnet die Sainte-Victoire, gemeinsam mit den benachbarten Regionen um das Städtchen Velaux und entlang des Baches Arc, ein Eldorado der Paläontologen. Das, was heute ein Postkartenberg ist, war vor einigen Dutzend Millionen Jahren nämlich ein Sumpf. Und in dem stapften, selbst der Laie ahnt es bei diesem Namen: gewaltige Titanosaurier herum, die vom furchterregenden Arcovenator gejagt wurden, das ist die Marseiller Ausgabe vom T-Rex. Dazu finden Knochenjäger auch, zum Beispiel, seltsame Flugsaurier, in Herden grasende Pflanzenfresser, Riesenkrokodile und so viele versteinerte Eier, dass man in der Provence das größte Saurieromelette der Geschichte braten könnte.

Capitaine Roger Blanc erfährt nur zu rasch, dass Paläontologen zwar seriöse Wissenschaftler sind, aber eben auch Gelehrte mit einem manchmal unguten Sportsgeist. Sie liefern sich einen Wettlauf: Wer hat den Größten, den Spektakulärsten, den Schönsten? Dinosaurier, natürlich. Wer eine neue Art findet, darf sie beschreiben und benennen und macht sich in Knochenjägerkreisen unsterblich. Und wer bereits bekannte Skelette freilegt, darf sie, das ist ganz legal, meistbietend verkaufen. Dabei kann so ein oller Dino schnell mal mehr einbringen als eine Ladung Kokain. Und wo es um Millionensummen geht, ist die Gier nicht weit, denn die menschliche Gier ist größer als der größte Titanosaurier. Und wo die Gier groß ist, fließt irgendwann Blut...


Alle diese Fossilienfundstellen liegen mitten in der Natur versteckt, im Schatten der Sainte-Victoire und doch nahezu unbekannt – allein schon, um Plünderer abzuhalten. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie Capitaine Roger Blanc in diese verborgene Welt der Knochenjäger folgen und dabei die Sainte-Victoire mit neuen Augen sehen, so malerisch wie der geniale Cézanne, aber eben doch ganz anders.






P.S.: Das ist Roger Blancs zehnter Fall und damit für uns alle so etwas wie ein kleines Jubiläum. Um das zu feiern, gehe ich auf eine bescheidene Tour – mehr dazu gibt es hier:

https://www.dumont-buchverlag.de/verlag/aktuelles/detail/cay-rademacher-auf-lesereise/

Zehn Fälle, das bedeutet für Roger Blanc, dass er jetzt zehn Monate in der Provence ist, denn jeder Fall findet im folgenden Monat statt. Für uns Nicht-Romanfiguren hingegegen sind mal eben zehn Jahre verweht. Was den nettten, wenn auch etwas irritierenden Effekt hat, dass unser Gendarm in zehn Monaten Provence die Ereignisse der letzten zehn Jahre miterlebt hat. Mir macht das immer noch viel Spaß, ich freue mich, sic Deus lo vult, schon auf die nächsten zehn Monate, die zehn Jahre werden...

Montag, 24. April 2023

Lac Zola an der Sainte-Victoire bei Aix-en-Provence

Émile Zola ist ein Säulenheiliger der französischen Literatur, und gemeinsam mit seinem alten Kumpel Paul Cézanne formt er das Doppelgestirn von Aix-en-Provence, denn die beiden Großgenies sind ja, unter anderem, hier zur Schule getigert. Es ist aber sein Vater François Zola, dessen Werk jeder Besucher heute noch mit Augen, Ohren, Händen, sogar der Nase, wenn man aufmerksam genug schnuppert, bewundern kann. Ein Werk zudem, das mindestens so aktuell ist wie die Romane seines Filius, denn Zola Senior kümmerte sich ums Wasser, und das wird ja bekanntlich knapp.

Und so war das auch schon vor zweihundert Jahren, und das war DIE Chance für den Alten.





François Zola wird in Venedig geboren, ein ehemaliger Offizier, ausgebildeter Ingenieur, Doktor der Mathematik, ein Mann, der sich erst, aber das ahnt er da noch nicht, in der späten Blüte seiner Jahre in Aix-en-Provence niederlässt. Die Stadt ist weniger groß als heute und weniger malerisch, um es mal vorsichtig zu formulieren. 1835 und dann gleich noch mal 1837 bricht hier das große Sterben und das große Scheißen aus, denn die Cholera geht um. Der Erreger ist damals noch nicht bekannt, doch den Stadtvätern ist schon klar, dass – endlich – frisches, sauberes Wasser in den Ort fließen muss, damit das Elend sich nicht länger wiederholt. Aber wie?

François Zola hat die Idee: Stauen wir einen Bach im Vallée de Vauvernargues auf, einem Tal am Hang der Sainte-Victoire, des Hausbergs von Aix-en-Provence. Ein Stausee wäre ein großes, vor allem ganzjährig nutzbares Wasserreservoir. Über einen Kanal könnte man das kostbare Nass auch im trockenen Sommer bis nach Aix-en-Provence leiten.

Gesagt, getan und … eh bien, gesagt ja, getan nein, denn die französische Bürokratie hat im 19. Jahrhundert dasselbe Niveau wie im 21. Jahrhundert: Bedenken, Schlampereien, Verzögerungen, Schlafmützigkeit, Kompetenzgerangel, schiere Unfähigkeit. Es dauert (zum Glück für alle Beteiligten cholerafreie) zehn Jahre, bis, endlich, 1847 Zolas Grundstein gesetzt wird – und das darf man wörtlich nehmen.

Denn der Ingenieur plant einen gemauerten Staudamm, mehr als siebenunddreißig Meter hoch, oben noch sechs Meter breit. Um dem Druck der Wassermassen besser standhalten zu können, ist er zur Seeseite hin bogenförmig geschwungen. Es wird der größte Staudamm seiner Zeit und ein Prototyp aller modernen (allerdings aus Beton gefertigten) derartigen Barrieren.





Wie schade, dass Zola Senior das nicht mehr erlebt. Der Ingenieur, späte Blüte, tja, stirbt noch im ersten Jahr der Bauarbeiten an einer Lungenentzündung. Die Nachfolger werkeln nach seinen Plänen weiter, wenn auch der Umfang des Sees kleiner ausgeführt wird als vom Meister geplant. Am Ende werden zweieinhalb Millionen Kubikmeter Wasser aufgestaut und über einen Kanal beinahe acht Kilometer weit in die Stadt geleitet – wo das Wasser unter anderem aus dem prachtvollen, 1860 eingeweihten Brunnen an der Rotonde sprudelt, den Einheimische wie Touristen noch heute bewundern. (Und wo man das Wasser sehen und fühlen und rauschen hören und, ja doch, riechen kann, denn Süßwasser duftet.)

Zolas Kanal brachte bis in die 1970er-Jahre Wasser nach Aix. Dann wurde höher am Berg der deutlich größere Stausee von Bimont geschaffen. Heute ist der See an der Barrage Zola eher ein langgestreckter Tümpel, das Reservoir dient nun als Notaufnahmebecken für den Fall extremer Regenfälle, wenn die so heftig ausfallen sollten, dass der Lac de Bimont alleine die Wassermassen nicht mehr aufnehmen könnte.

Wer sich hierher verirrt – es sind recht wenige Wanderer -, steht in einem vergessenen Tal, auf dessen Grund der Rest-See cézannemäßig grün schimmert. Das Wasser selbst ist klar, doch wächst auf dem Boden irgendeine Pflanze, deren farbsatte Brillanz das ganze Gewässer tunkt. Der Staudamm ist von Zeiten und Feuchtigkeit geschwärzt, doch noch immer makellos gemauert. Wer darüber flaniert, wähnt sich beinahe auf dem Wall einer alten Burg, die durch irgendeinen magischen Trick ins Tal versenkt wurde. Und über den Hügeln leuchtet die graue Pyramide der Sainte-Victoire in jeder Tagesstunde irgendwie doch in einer anderen Farbe, und man versteht, warum Zola Juniors Jugendfreund Cézanne nach vielen Wanderjahren an diesen Ort zurückgekehrt ist.





Apropos Zola Junior: Émile Zola und seine verwitwete Mutter blieben nach dem unerwarteten Tod von François Zola erst einmal mittellos zurück. Frisches Wasser: ja. Frisches Geld: nein. Zum Glück konnte der Sohn ganz ordentlich schreiben.

Montag, 20. März 2023

Streiks, trockene Tankstellen und Hundehalter in Badelatschen

Manchmal fragen mich Freunde, wie das ist, in einem Land zu leben, in dem die Arbeitswoche aus zwei Tagen Wochenende und fünf Tagen Streik besteht. (In welchem anderen Land auf der Welt demonstrieren Siebzehnjährige nicht wegen Klimawandel, MeToo, Black Lives Matter oder was auch immer, sondern weil das Renteneintrittsalter um 24 Monate erhöht wird? In welchem anderen Land werden diese 24 Monate von führenden Oppositionspolitikerinnen und Gewerkschaftern als „brutal“ und „gewalttätig“ geschmäht, so, als sei Rente mit 64 ungefähr dasselbe wie Krieg in der Ukraine?)

Bien, also Streik. Streik in den Raffinerien, also kein Benzin mehr an der Tankstelle. Super, wir haben ein Elektroauto. Hat aber nur eine begrenzte Reichweite und vier Plätze. Am Wochenende muss ich die Austauschpartnerin unserer Tochter und mehrere Schülerinnen am TGV-Bahnhof von Aix-en-Provence abholen – wir sollen fünf Leute in der Karre sein und die Fahrt ist zudem ziemlich weit. Wir haben genau dafür auch einen Minivan, sieben Plätze, Diesel, so was von solide – und leider praktisch leergefahren, als CGT & Co. mit brennenden Reifen die Raffinerien blockieren. Wie hole ich die Kids nun ab? (Busfahrer streiken vermutlich auch, und wenn sie nicht streiken: Ihre Busse fahren ebenfalls mit Diesel und, tja, siehe oben.)

Alle Tanken in zwanzig Kilometer Umkreis sind seit letztem Wochenende leer, Putin würde sich in die Hosen machen vor Lachen. Frankreich kriegst du ganz ohne Krieg trocken. Na, jedenfalls muss ich unsere Tochter heute kurz ins Nachbardorf fahren, dafür reicht es noch, ich rolle zufällig am Supermarkt vorbei – und da steht ein Tanklastwagen an der Tankstelle!





Mit quietschenden Reifen hin, andere Autofahrer auch, wie ein Haufen Fliegen auf einen Haufen … genau. Na, jedenfalls stehen wir hinter dem Tankwagen, der Fahrer schließt oberschenkeldicke Schläuche an. Ein Heiliger! Wie lange dauert es, eine Tankstelle zu betanken? Eine gute halbe Stunde, danke, ich bin jetzt im Bilde.

Hinter uns wird die Schlange der Fliegen, äh Autofahrer lang und länger, raus auf die Zufahrtsstraße, schließlich raus auf den Kreisel, wo der Durchgangsverkehr nicht mehr weiterkommt. Gehupe, Gedröhne von Lastwagen, wenig nette Worte aus heruntergekurbelten Seitenfenstern, die übliche Folklore. Zwei engagierte Mitarbeiterinnen stürzen aus dem Supermarkt und versuchen, das Chaos irgendwie zu regeln. Dann kommen die Flics. Erst ein Streifenwagen, dann zwei, dann drei. Irgendwie wird zwar die Warteschlange immer länger, trotzdem passt der Durchgangsverkehr auf einmal durch den Kreisverkehr und ein paar Uniformen beruhigen auch sonst die Gemüter.

Während ich warte und fasziniert zusehe, was ein Tankwagenfahrer mit Tankschläuchen so alles macht (Er haut zum Beispiel mit einem Eisengerät auf die metallenen Endstücke und löst so irgendwelche Adapter oder was weiß ich.), geht ein Mann mit einem Hund spazieren. Typ: tiefentspannter Rentner, fröhlich, mit Tennissocken in Badelatschen. Flüchtig frage ich mich, wo dieser Mann wohl herkommt? Wer treibt seinen Köter in Adiletten auf einem Supermarktparkplatz zum Gassi? Wo, verdammt, ist überhaupt das nächste Haus hier?

Irgendwann endlich donnert der Tankwagen leer und glücklich davon. Diesel! Denkste. Der Rentnertyp mit dem Gassihund ist der, sorry, Klischees sind halt manchmal doch wahr, Mercedesfahrer, der direkt hinter dem Tankwagen wartete. Also, statt dass der Mercedes jetzt zur Zapfsäule rollt, muss erst der Rentner hinein. Nein, ach, zuerst der Hund, dann das Herrchen. Dann fährt der Typ zehn Meter bis zur Säule und, nein, merde, der Tankverschluss seiner Karre ist ja auf der anderen Autoseite, das ist ihm die letzte halbe Stunde gar nicht aufgefallen. So wird das nichts, der Schlauch der Zapfsäule ist nicht lang genug. Also noch mal rückwärts näher an die Säule ranfahren und rangieren. Dann steigt er aus und … und … und sieht einen Bekannten, irgendwo weit hinten in der Warteschlange. Der Bekannte steigt auch aus dem Wagen. „Salut!“ und großes Palaver.

Der Mann ist so tiefentspannt, der ahnt nicht einmal, dass hinter ihm hundert Leute in ihren Autos sitzen und kurz davor sind, ihn skrupellos niederzufahren. Mord wabert durch die Luft, und zum Glück sind sechs Flics da, die einem Hund und seinem Herrchen das Leben retten.

Endlich ist der blöde Daimler voll, und dann der Peugeot, und dann der Fiat 500 (Nur 28 Liter zeigt das Display der Zapfsäule, ich könnte die Fahrerin küssen, gelobt seien Kleinwagen, da bleibt für uns andere mehr übrig.) Endlich fließt der stinkende Saft auch in meine Karre. Das reicht für die nächsten tausend Kilometer.

Und bis zum nächsten Streik, nach dem nächsten Wochenende.