Freitag, 18. Januar 2019

Mistral


Wenn bei uns der Mistral so richtig wütet, dann schützen wir uns vor dem eisigen Gast, indem wir ... Kissen unter die Fensterläden stopfen. Das hat nichts damit zu tun, dass es bei starkem Wind ins Haus zieht: in unserem alten Kasten zieht es an manchen Ecken so stark, wie die Bundesbahn ihre ICEs gerne ziehen würde, wenn sie könnte. Da hilft aber auch ein Ballen Stoff nichts. Nein, wir klemmen stets ein altes Kissen außen zwischen Fensterladen und Mauer, weil der Mistral selbst am geschlossenen und verriegelten Laden so enervierend rüttelt, dass du nachts kein Auge zutun kannst. Der weiche Stoff ist so etwas wie ein Böen-Stoßdämpfer, jetzt klappert unser Laden nur noch dezent wie einstens unser Renault Espace. (Aber ja: Capitaine Blanc fährt einen uralten Espace, und zufälligerweise weiß ich genau, wie sich das anfühlt.)



Der Mistral kann im Rhône-nahen Teil der Provence zu jeder Jahreszeit Bonjour sagen. Selbst im Juli sind es im Schnitt acht Tage, allerdings meist verteilt auf die viereinhalb Wochen. Weiter östlich, in Aix-en-Provence zum Beispiel, lässt sich dieser Wind nur selten spüren. Diese Landesteile liegen zwar höher und näher an den Alpen, aber es ist halt das große Flusstal, das wie eine Düse wirkt. Je weiter entfernt von der Rhône man lebt, desto ruhiger wird es.
Wir allerdings wohnen, was das angeht, in diesem Januar genau in der Mitte der Rhône.
Putain, mehr Wind geht nicht. Sylvester verweht. Heilige Drei Könige verweht. Schulbeginn verweht. Hört das denn niemals auf? Anfangs ist es bloß so ein Gefühl, dass es eine derart ununterbrochene Beblasung noch nie zuvor gegeben hat. Inzwischen haben wir es amtlich: Bei uns, wie überall am Ufer des Étang de Berre, hat der Mistral vom 1. Januar an fünfzehn Tage lang niemals mit weniger als sechzig Stundenkilometern geblasen. Tag und Nacht, morgens und abends, Temperatur um die null Grad, Wind wie auf der Frontscheibe des Autos, und in Böen verdoppelt sich das.
Das hat es niemals zuvor gegeben, zumindest seit Météo France das Wetter aufzeichnet. Der bisherige Rekordhalter war der Januar 1965 mit zwölf Tagen nonstop.
Ist das jetzt auch der Klimawandel? Wird alles immer wärmer, obwohl sich das gerade so anfühlt, als bläst uns der Mistral in die Würm-Eiszeit zurück? Keine Ahnung. Wenn Gewitter und alle Arten sonstiger Stürme häufiger werden, warum soll dann nicht auch der Mistral Kapriolen schlagen? Zumal es im vorangegangenen Sommer gerade nicht geblasen hat. Wir erinnern uns: acht Tage Mistral ist das langjährige Mittel hier. Im Juli 2018 waren es allerdings bloß drei. Es war hier so heiß und so windstill, dass (nicht nur deswegen, aber auch) das Wasser im flachen Étang de Berre wochenlang über dreißig Grad warm war – und die Fische und Muscheln in der überwarmen, sauerstoffarmen Brühe zu Tausenden verreckt sind.
Das also ist der erste Vorteil des Dauermistral: er bläst, haben Meeresbiologen gemessen, wieder Sauerstoff in den Étang de Berre, das Gewässer wird ordentlich durchlüftet.
Zweiter Vorteil: Hundespaziergang.
Jeden Morgen schleppe ich ungefähr zu Sonnenaufgang einen noch schlaftrunkenen, halb bewusstlosen jungen Hund auf die bewaldeten Hügel hinter unserer alten Ölmühle. Und während Orson dann tut, was Hunde so tun, wenn sie endlich wach sind, explodiert über mir der Himmel. Zuerst funkeln noch die Sterne. (Mais oui, sie funkeln, die Luft muss nur klar genug sein!) Venus und Jupiter liefern sich ein lustiges Rennen an der Final Frontier und der Mond tut, was der Mond tun muss, wenn er nicht ganz untergegangen ist.



Dann ist es, als kippe Gott versehentlich einen Eimer stark verdünnter Wasserfarbe übers Firmament. Während oben noch die Sterne, genau, funkeln, leuchtet es am östlichen Horizont hinter den Scherenschnitten von Pinien und mediterranen Eichen weißbläulich, dann ein wenig rosa und orange, schließlich blau.



Ich bleib dann immer stehen, zücke mit klammen Fingern mein Handy und schieße kitschige Fotos wie ein Blöder. Zumindest so lange, bis Orson sich langweilt und mit gezielten Sprüngen gegen meine Hüfte die Bilder verwackeln lässt.



Übrigens: Es geht ein provenzalischer Mythos, dass der Mistral entweder einen Tag lang weht. Weht er jedoch mehr als einen Tag, dann weht er in einer durch drei teilbaren Zahl. Drei Tage, sechs Tage... Alles Quatsch, Aberglauben, Unsinn, Unwissenschaft, sagen die Experten von Météo France dazu. Dieselben Experten, die die Rekordzahlen aufzeichnen: zwölf Tage, fünfzehn Tage...