Freitag, 18. September 2020

Stille Nacht in der Provence / Miramas-le-Vieux

 Man traut sich ja kaum, das im September und bei dreißig Grad und Sonnenschein hinzuschreiben, aber: mein Weihnachtskrimi „Stille Nacht in der Provence“ erscheint. Ich bin nicht etwa festtäglich hoch organisiert und überpünktlich, im Gegenteil, die Geschenke, zum Beispiel, besorge ich eigentlich immer auf den hinterletzten Drücker. Doch die Kollegen im Verlag wissen, dass die Gesetze des Buchmarkts denen der Quantenphysik ähneln und also zu früh eigentlich genau richtig und genau richtig bereits zu spät ist.





Eh bien: Miramas-le-Vieux. Da spielt sich das weihnachtliche und doch ziemlich unheilige Kammerspiel ab, in das die deutschen Reisenden Nicola und Andreas zufällig und ganz gegen ihren Willen hineingeraten. Dieser Ort tief im Süden des Südens ist ein Nachzügler, ist so, wie die Provence vor fünfzig, hundert Jahren fast überall mal gewesen ist – nämlich halb vergessen und verfallen.





Miramas-le-Vieux, das ist eine Burg aus dem zwölften Jahrhundert, die auf einem Felssporn thront. Unter dem Schutz ihrer staudammähnlichen Mauern siedelten sich im fünfzehnten, sechzehnten Jahrhundert Bürger und Bauern an, indem sie mehr oder weniger große Häuser an die steilen Flanken des Hügels klebten. Dazwischen winden sich mehr oder weniger steile Gassen, und da, wo es gar zu steil wird, führen halt Treppen nach oben. Die längste und steilste ist die Escaliers des Soupirs, und wer diese „Seufzertreppe“ einmal erstiegen hat, der weiß, warum sie so heißt.





Wie haben die Provenzalen solche Orte vor hundertfünfzig Jahren gesehen? Die Burg: zugig und nutzlos. Die Häuser: eng und kalt. Die Gassen: unpraktisch und unbequem. Es wäre teuer gewesen, Wasser- und Abwasserleitungen den Berg hinauf und wieder hinunter zu führen, und später hatte auch niemand Lust, Strom- oder Telefonkabel über die Seufzertreppe zu schleppen.

Also: Bude dicht und der Letzte knipst das Licht aus, wenn es denn hier Licht gegeben hätte, das man hätte ausknipsen können, putain.

Um 1850 gaben die Bürger ihre Stadt nach und nach auf und siedelten in der Ebene an, wo sie ein neues Miramas gründeten. Dort war es platt, die Eisenbahn wurde gerade verlegt und brachte Geld und die Große Welt, und später gab es auch massig Platz für Parkplätze und Einkaufszentren. (Wie der Village de Marques, das kitschigste Shoppingareal in diesem Teil der Galaxis, wo man bis zum Covid-Killer Passagiere der in Marseille festmachenden Kreuzfahrtdampfer hingekarrt hat, um ihnen mal die Provence zu zeigen...)

Miramas-le-Vieux wurde eigentlich zu Miramas-le-Vide, das Städtchen leerte sich, bis nur noch jene Arten von Tieren durch die verfallenden Mauern strichen, vor denen sich selbst Tierschützer schütteln.





So ging das eigentlich überall in der Provence zu: oben auf dem Hügel war unmodern und unbequem, gebaut wurde unten im Tal oder man zog gleich ganz fort. Erst nach 1950 und, seien wir ehrlich, zu einem erheblichen Teil von Nicht-Provenzalen, wurde die Schönheit mittelalterlicher Städtchen wiederentdeckt. Sie wurden restauriert, renoviert, herausgeputzt. Heute schmücken sie Cover, Poster, Bildbände und ganz besonders schmücken sie die Bankkonten jener Makler, die mit den nun perfekten Preziosen Geschäfte machen.

Diese Begeisterung für das Gute, Wahre, Schöne ist allerdings, warum auch immer, Jahre lang an Miramas-le-Vieux vorbeigerauscht. Der Ort schlummerte weiter seinen ruinösen Schlaf, und ab und zu fiel mal wieder ein Stein aus irgendeiner Mauer.





Das hat sich erst vor gar nicht so langer Zeit schüchtern geändert. Seither zogen hier ein paar Lebenskünstler ein – und vor allem ein paar Köche und Eismacher allererster Sahne. „Le Quillè“ ist wohl der berühmteste Glacier, die berühmteste Eisdiele im ganzen Département. Was heißt schon „Diele“: Eine Terrasse zwischen den alten Burgmauern, von der aus man einen fantastischen Blick auf die Provence und beinahe bis auf das Mittelmeer hätte, wenn nicht, tja, wenn nicht die Gläser, in denen sie einem hier ihre Kreationen servieren, so unfassbar groß sind, dass du gar nicht mehr drüber gucken kannst.





Das gute Essen hat die Leute wieder nach Miramas-le-Vieux gelockt, nicht die guten Steine. Doch diese Leute haben sich, als sie denn erst einmal da waren, gedacht: eigentlich doch ganz nett hier...

Nicola und Andreas gehören zu diesen Besuchern, die sich verwundert umsehen und feststellen: Hier ist ja noch nicht alles renoviert. Miramas-le-Vieux ist dort, wo der Rest der Provence vor einem halben Jahrhundert schon war. Manche Häuser sind bereits wahnsinnig gut restauriert worden, andere wirken jedoch noch immer so verlassen und schroff, als hätten sie gerade einen Krieg hinter sich. Häuser, die wachgeküsst werden wollen!





Das denken Nicola und Andreas auch, und sie freuen sich auf wunderschöne Weihnachtstage in der alten Stadt, aber dann taucht leider ein Toter auf und, schlimmer noch, der Tote verschwindet gleich wieder. Aber das ist eine andere Geschichte, eine Weihnachtsgeschichte halt.

In diesem Sinne: Genießen Sie den Indian Summer, aber es schadet ja nichts, schon mal leise an den Heiligen Abend zu denken...