Montag, 20. März 2023

Streiks, trockene Tankstellen und Hundehalter in Badelatschen

Manchmal fragen mich Freunde, wie das ist, in einem Land zu leben, in dem die Arbeitswoche aus zwei Tagen Wochenende und fünf Tagen Streik besteht. (In welchem anderen Land auf der Welt demonstrieren Siebzehnjährige nicht wegen Klimawandel, MeToo, Black Lives Matter oder was auch immer, sondern weil das Renteneintrittsalter um 24 Monate erhöht wird? In welchem anderen Land werden diese 24 Monate von führenden Oppositionspolitikerinnen und Gewerkschaftern als „brutal“ und „gewalttätig“ geschmäht, so, als sei Rente mit 64 ungefähr dasselbe wie Krieg in der Ukraine?)

Bien, also Streik. Streik in den Raffinerien, also kein Benzin mehr an der Tankstelle. Super, wir haben ein Elektroauto. Hat aber nur eine begrenzte Reichweite und vier Plätze. Am Wochenende muss ich die Austauschpartnerin unserer Tochter und mehrere Schülerinnen am TGV-Bahnhof von Aix-en-Provence abholen – wir sollen fünf Leute in der Karre sein und die Fahrt ist zudem ziemlich weit. Wir haben genau dafür auch einen Minivan, sieben Plätze, Diesel, so was von solide – und leider praktisch leergefahren, als CGT & Co. mit brennenden Reifen die Raffinerien blockieren. Wie hole ich die Kids nun ab? (Busfahrer streiken vermutlich auch, und wenn sie nicht streiken: Ihre Busse fahren ebenfalls mit Diesel und, tja, siehe oben.)

Alle Tanken in zwanzig Kilometer Umkreis sind seit letztem Wochenende leer, Putin würde sich in die Hosen machen vor Lachen. Frankreich kriegst du ganz ohne Krieg trocken. Na, jedenfalls muss ich unsere Tochter heute kurz ins Nachbardorf fahren, dafür reicht es noch, ich rolle zufällig am Supermarkt vorbei – und da steht ein Tanklastwagen an der Tankstelle!





Mit quietschenden Reifen hin, andere Autofahrer auch, wie ein Haufen Fliegen auf einen Haufen … genau. Na, jedenfalls stehen wir hinter dem Tankwagen, der Fahrer schließt oberschenkeldicke Schläuche an. Ein Heiliger! Wie lange dauert es, eine Tankstelle zu betanken? Eine gute halbe Stunde, danke, ich bin jetzt im Bilde.

Hinter uns wird die Schlange der Fliegen, äh Autofahrer lang und länger, raus auf die Zufahrtsstraße, schließlich raus auf den Kreisel, wo der Durchgangsverkehr nicht mehr weiterkommt. Gehupe, Gedröhne von Lastwagen, wenig nette Worte aus heruntergekurbelten Seitenfenstern, die übliche Folklore. Zwei engagierte Mitarbeiterinnen stürzen aus dem Supermarkt und versuchen, das Chaos irgendwie zu regeln. Dann kommen die Flics. Erst ein Streifenwagen, dann zwei, dann drei. Irgendwie wird zwar die Warteschlange immer länger, trotzdem passt der Durchgangsverkehr auf einmal durch den Kreisverkehr und ein paar Uniformen beruhigen auch sonst die Gemüter.

Während ich warte und fasziniert zusehe, was ein Tankwagenfahrer mit Tankschläuchen so alles macht (Er haut zum Beispiel mit einem Eisengerät auf die metallenen Endstücke und löst so irgendwelche Adapter oder was weiß ich.), geht ein Mann mit einem Hund spazieren. Typ: tiefentspannter Rentner, fröhlich, mit Tennissocken in Badelatschen. Flüchtig frage ich mich, wo dieser Mann wohl herkommt? Wer treibt seinen Köter in Adiletten auf einem Supermarktparkplatz zum Gassi? Wo, verdammt, ist überhaupt das nächste Haus hier?

Irgendwann endlich donnert der Tankwagen leer und glücklich davon. Diesel! Denkste. Der Rentnertyp mit dem Gassihund ist der, sorry, Klischees sind halt manchmal doch wahr, Mercedesfahrer, der direkt hinter dem Tankwagen wartete. Also, statt dass der Mercedes jetzt zur Zapfsäule rollt, muss erst der Rentner hinein. Nein, ach, zuerst der Hund, dann das Herrchen. Dann fährt der Typ zehn Meter bis zur Säule und, nein, merde, der Tankverschluss seiner Karre ist ja auf der anderen Autoseite, das ist ihm die letzte halbe Stunde gar nicht aufgefallen. So wird das nichts, der Schlauch der Zapfsäule ist nicht lang genug. Also noch mal rückwärts näher an die Säule ranfahren und rangieren. Dann steigt er aus und … und … und sieht einen Bekannten, irgendwo weit hinten in der Warteschlange. Der Bekannte steigt auch aus dem Wagen. „Salut!“ und großes Palaver.

Der Mann ist so tiefentspannt, der ahnt nicht einmal, dass hinter ihm hundert Leute in ihren Autos sitzen und kurz davor sind, ihn skrupellos niederzufahren. Mord wabert durch die Luft, und zum Glück sind sechs Flics da, die einem Hund und seinem Herrchen das Leben retten.

Endlich ist der blöde Daimler voll, und dann der Peugeot, und dann der Fiat 500 (Nur 28 Liter zeigt das Display der Zapfsäule, ich könnte die Fahrerin küssen, gelobt seien Kleinwagen, da bleibt für uns andere mehr übrig.) Endlich fließt der stinkende Saft auch in meine Karre. Das reicht für die nächsten tausend Kilometer.

Und bis zum nächsten Streik, nach dem nächsten Wochenende.

Freitag, 17. März 2023

Mond und Sterne über der Provence

 "Der Weltraum, unendliche Weiten...“ Bei wem es jetzt klingelt, der gehört wahrscheinlich der männlichen Boomer-Hälfte an. Für alle anderen: It‘s Captain Kirk and Mister Spock, Honey! Aber was haben Star Trek und die Provence gemeinsam? Antwort: Den Blick auf die Sterne.





Fast jeden Abend, wenn ich aus dem Haus trete und den Kopf in den Nacken lege, fühle ich mich wie auf der Brücke der Enterprise: Du siehst Sterne und noch mehr Sterne und noch mehr Sterne. D‘accord, wer bis in die südliche Hemisphäre reist und dort an einem luftklaren Ort, beispielsweise Neuseeland, nach oben schaut, dem bietet sich ein noch schöneres Gestirnspektakel dar, aber, hey, für die Nordäquatorianer ist die Provence schon nicht schlecht. Weil das so ist, hat mir die Familie bereits vor einiger Zeit ein Teleskop geschenkt. Nicht, dass ich mich dabei sonderlich geschickt anstelle. Um Sternbilder zu identifizieren, benutze ich eine App auf dem Handy. Und mit dem Teleskop schaffe ich es so gerade, den Mond problemlos anzuvisieren. Aber wenn ich ihn dann mit dem Handy durchs Teleskop fotografieren will, stelle ich mich deutlich blöder an als ein Beduine auf dem Sinai. (Ungelogen: Ein Beduine hat mir dort mal gezeigt, wie man so etwas richtig macht.) Mein astronomisches Wissen ähnelt also alles in allem einem Schwarzen Loch: Ich sauge alles ein, aber es kommt verdammt wenig wieder heraus. Eh bien, ich finde Sterne trotzdem schön.

Neulich ist mir das wieder mal aufgefallen. Da wollte ich eigentlich bloß im ersten Stock die Fensterläden schließen, sehe zufällig dicht über die Baumwipfel und Hausdächer auf der anderen Talseite – und, wow, da glitzern zwei gar nicht so kleine weiße Lichtpunkte über Firsten und Zypressenwipfeln. Venus und Jupiter zogen, ein recht rares Himmelsphänomen, einträchtig, wenn auch unterschiedlich schnell, quer durchs Firmament.





Und sonst: der Gürtel des Jägers glänzt wirklich wie ein Disco-Gürtel aus den Siebzigern. Der Mond legt sich gerne eine Halo um und strahlt wie eine kleine Sonne, trotzdem kannst du mit den bloßen Augen auf seinen Meeren Schiffchen fahren. Oder er leuchtet gruselig als Blutmond. Und manchmal huscht ein Komet vorbei oder vielleicht auch bloß ein schnöder Satellit.





Jean-Pierre Luminet (passender Name, klingt nach Licht) hat ein Buch geschrieben (das meine Liebste entdeckt und mir geschenkt hat), über die Sterne, die van Gogh gemalt hat: Les Nuits Étoilées de Vincent van Gogh. Der geniale Niederländer hat nämlich auch nachts gearbeitet, in einem Dämmerlicht, in dem er grüne, rote, blaue Farben aus seinen Tuben kaum noch unterscheiden konnte. Für seine Nachtbilder verwendete er so gut wie kein Schwarz, sie sind blau, grün, gelb, was du willst, aber für van Gogh war die Nacht bunt.





Gelehrte können bei seinen Werken, zum Beispiel dem berühmten „Sternenhimmel über der Rhône“, inzwischen sehr genau feststellen, wo der Maler seine Staffelei aufgestellt hat - in diesem Beispiel an einer Stelle bei einer Biegung am östlichen Ufer des Flusses in Arles. Zudem sind seine Bilder oft auf den Tag genau zu datieren, da der Meister sie in seinen zahlreichen Briefen an seinen Bruder oder andere Adressaten erwähnt. Seit einiger Zeit rekonstruieren Astronomen deshalb mit Hilfe eines Programms nun genau, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit welche Sternbilder im Sichtfeld van Goghs geleuchtet haben.

Und siehe: Die übergroßen, wild leuchtenden Sterne in van Goghs Himmel sind keineswegs Ausgeburten einer irren Phantasie, sondern ziemlich präzise Wiedergaben des aktuellen Himmels in genau jener Nacht, in der er malte.

Realistisch ist das aber trotzdem nicht. Beim „Sternenhimmel über der Rhône“ hat van Gogh beispielsweise Arles und den Fluss so gemalt, wie sie südlich seiner Position am Ufer vor ihm lagen. Der sich darüber wölbende Nachthimmel zeigt jedoch die Sterne in nördlicher Sichtrichtung! Vermutlich, weil in jener bestimmten Nacht die im Norden leuchtenden Konstellationen spektakulärer waren als die „echten“, die er gerade über Arles beobachten konnte.

Natürlich darf man sagen, es ist doch egal, welche Sterne der irre Holländer in welcher Nacht gepinselt hat, das schreibt die Kunstgeschichte ja nicht fundamental um. Aber ich finde es einfach toll. Um Mister Spock zu zitieren: „Faszinierend!“



Weiterführende Literatur (diesen Begriff wollte ich schon ewig mal im Blog verwenden):

Jean-Pierre Luminet: Les Nuits Étoilées de Vincent van Gogh, Paris 2023 (Editions Seghers)