Freitag, 9. April 2021

Les Baux

 

Bei uns um die Ecke steht eine Burg herum, die auch J. R. R. Tolkien gefallen hätte. Zumindest würde Les Baux ziemlich gut in die Terre du Milieu (mais oui, übersetzt es ruhig...) passen. Im relativ unfinsteren Mittelalter ließ sich eine örtliche Nobelfamilie auf dem letzten Felssporn der Alpilles vor Crau, Camargue und Mittelmeer eine Festung errichten. Baou ist Provenzalisch und bedeutet eben dies: „Felssporn“.





Die Herrn von Les Baux waren zeittypische adelige Schläger, Räuber, Vergewaltiger mit etwas mehr als dem bauartbedingten blaublütigen Stich ins Größenwahnsinnige. Aus Gründen, die nur der liebe Gott allein kennt, hielten sie sich nämlich für Nachfahren von Balthasar, einem der Heiligen Drei Könige. Der, so machte die hiesige Sippe jedermann weis, folgte einst dem Stern von Bethlehem nicht bloß bis zu Jesus, Maria, Josef und der Krippe, sondern bestieg danach den nächsten Flieger und landete, eh bien, genau in der Provence an eben jenem Felssporn. Weshalb es der vielgezackte Stern von Bethlehem ins Wappen von Les Baux schaffte und noch heute auf Flaggen, Museumsbroschüren, Souvenirladenschildern leuchtet. Raimund von Turenne war der berühmteste Schläger von Les Baux, der waghahlsigste Gast war jedoch Peire Vidal.

Der gute Peire wurde um 1175 geboren (im Mittelalter wurden Geburtsdaten oft nur ungefähr, Todesdaten jedoch tagesgenau überliefert) und war ein früher Popstar. Er zählte zum fahrenden Volk der Troubadoure. Diese Sänger waren in Les Baux gerne gesehen, die Burg war ein Zentrum der südfranzösischen Troubadour-Kultur. Die Burgleute ließen sich von den Sängern unterhalten, allerdings fasste Peire den Begriff „Unterhaltung“ etwas zu großzügig auf: Er wurde im Bett der Burgherrin Azalais erwischt und musste Hals über Kopf fliehen, um selbige nicht zu verlieren. (Hals und Kopf, nicht Azalais.)

Die Burg wurde im 11. und 12. Jahrhundert, man kann es kaum anders formulieren, aus dem Berg herausgemeißelt: Wuchtige graue Mauern scheinen aus dem Felsen selbst zu wachsen. Wer durch die Gemäuer streift, erkennt erst oft bei genauem Hinsehen, wo natürliches in Menschenwerk übergeht. Zum Beispiel setzt sich eine Höhle als Gewölbe fort, ein Felsgrat wird zur Mauer, eine Spalte zum Gang – ganz große Steinmetzkunst, nur möchte ich das im Winter nicht heizen wollen.

Später wurde die Burg von ein paar Kriegen, vor allem aber vom Zahn der Zeit zerlegt. Heute ist es eine Ruine, die wirkt, als hätte hier mal eine Herde Orks so richtig die Sau rausgelassen. Die ganze Burg ist gespalten und, wenn man vom Eingang her auf das Plateau tritt, dann ist die linke Hälfte einfach fort: Da ist Luft und sonst nichts. Rechts hingegen werfen sich Mauern und Gewölbe auf und noch mehr Mauern und Gewölbe und noch mehr. Die Ruine ist aus der Ebene schon aus einigen Kilometern Entfernung zu erkennen, so wuchtig beherrscht sie noch immer den Berg. Und ist man erst einmal da, steht man staunend vor und in dem Gewirr zernarbter, rätselhafter, halb verfallener Räume.





Die Anlage ist ein Museum. Heute wird jeder Stein gestriegelt, die Verwalter haben es irgendwie hingekriegt, auf dem nackten Felsboden Lavendelgärten anzulegen, sie veranstalten gelegentlich (also dann, wenn mal kein Virus um die Welt tobt) nicht ganz und gar kitschfreie Mittelalterfeste. Und sie haben einige Belagerungsmaschinen des Mittelalters nachgebaut. Etwa einen gigantischen schwarzen Trébuchet, eine mordsmäßig beeindruckende Steinschleuder, die man auch in Mittelerde … ja, ja, ich höre damit auf. Jedenfalls lernt man viel, wenn man durch die Burg geht. Wenn man nicht zu wackelig auf den Füße ist, lohnt sich der Aufstieg auf die Tour Sarrasine, so ungefähr der höchste noch einigermaßen erhaltene Turm der Festung. Die von Regenfluten und Tausenden Fußspuren ausgetretenen Treppenstufen sind halsbrecherisch (und das ist mal keine Metapher), aber der Ausblick von oben über die Crau ist adelig. Eine weite Ebene in bläulichem Dämmer, der Kragen der Alpilles und in der Ferne ahnt man das Mittelmeer.

Meine Lieblingsstelle ist allerdings ein Tor knapp unterhalb der Tour Sarrasine. Eigentlich ein Burgtor wie du und ich, allerdings fällt das dahinterliegende Vallon d'Entreconque ziemlich steil in die Tiefe. Putain, warum hat man ausgerechnet hier ein Tor hineingebaut, wo man doch kaum den Weg hochkommt? Antwort: Das Tor ist gar kein Tor. Feinde sollten dieses Tor berennen. Und sie sollten es erstürmen. Denn dahinter … lauerte eine Falle. Ein Labyrinth aus Mauern und Bastionen ohne jeden Zugang zur eigentlichen Burg. Angreifer sollten hier hineingelockt werden, damit die Verteidiger sie anschließend aus sicherer Position von oben meucheln konnten. Keine Ahnung, ob der Trick je funktioniert hat, aber ein bisschen pervers ist er schon. Ich stelle mir jedenfalls vor, dass der gute Peire Vidal aus Azalais' Bett bis in dieses Labyrinth gesprungen und von dort aus dem gehörnten Balthasar-Nachfahren entkommen ist. Das wäre irgendwie gerecht.

Aber wann ist Geschichte schon mal gerecht?




Bei Les Baux öffnet sich übrigens das "Höllental" bis zu den "Steinbrüchen des Lichts". Was das ist, steht hier:

https://provencebriefe.blogspot.com/2016/02/dieholle-liegt-unter-den-ruinen-von-les.html


Und versteckt oberhalb der Burg liegt eine noch viel ältere Ruine:

https://provencebriefe.blogspot.com/2019/11/dieserbrief-beginnt-wie-der-vortrag.html

P.S.: Die Corona-Berichte aus Frankreich klingen in deutschen Medien ja manchmal so, als wären wir das Herz der Finsternis und hier würde gerade Ebola wüten. Alors, ganz so schlimm ist es nicht. Seit dieser Woche dürfen alle Menschen ab 55 geimpft werden, womit auch meine Frau und ich dran waren. Das ging problemlos, die Helfer im Impfzentrum waren unglaublich freundlich, und wenn sie das Tempo so durchhalten, sind im Frühsommer alle Süd-, West-, Nord- und Ostfranzosen immun. (Falls keine Mutante sich, beziehungsweise uns totlacht, klar.) Und das klingt doch so, als könnte man Les Baux & Co. bald wieder besuchen!