Mittwoch, 20. November 2019

Oppidum des Bringasses


Dieser Brief beginnt wie der Vortrag eines Studienrats und endet wie Indiana Jones. Zumindest ungefähr. Also der Beginn: Die Provence ist eine uralte Kulturlandschaft, und das hört sich ja in der Tat erst einmal nach uraltem Reiseführer an. Tatsächlich jedoch bedeutet das: hier kannst Du noch zu Indiana Jones werden.
In den meisten Regionen Europas ist jedes mittelalterliche oder gar antike Monument ein Denkmal, ein Museum, jedenfalls baut man einen goldenen Zaun darum und hängt eine Hinweistafel davor. Sehr schön, manchmal fotogen und gelegentlich sogar unterhaltsam – aber, hey, damit steht der alte Plunder auch in Google Maps und jeder Vollpfosten kann's finden. Doch im Midi bauten Ligurer, Griechen, Römer, Gallier und Co. schon vor drei Jahrtausenden Städte und Tempel in die Landschaft und haben es danach nie wieder bleiben lassen. Später haben Mönche Klöster in Einöden gegründet, Ritter Burgen auf Hügel gepflanzt und brave Bauern nach Sarazenenüberfällen oder Pestzügen Kapellen und Kreuze gespendet. Mit anderen Worten: Ruinen stehen hier überall.



Unmöglich, heute alle diese Schätze zu erhalten – zumal, trotz aller modernen Besiedlung, sich viele Relikte immer noch in der Wildnis verbergen.
Wie das Oppidum des Bringasses.
Den Namen kannst Du Provenzalen um die Ohren hauen, die meisten haben ihn noch nie gehört, geschweige denn, dass sie je dort gewesen wären. Dabei liegt diese Ruine nur ein paar Dutzend Meter Luftlinie neben einer der bekanntesten Sehenswürdigkeiten von Südfrankreich: der Burg von Les Baux.
Oppidum“ ist ein römischer Begriff, der in diesem Zusammenhang hier meint: „Stadt eines nicht-römischen Volkes“. Die Bringassen sind ein ligurischer Stamm, den der antike Chronist Diodor von Sizilien erwähnt: Ur-Provenzalen, die vielleicht schon in der Bronze-, spätestens jedoch in der Eisenzeit am Westrand der Alpilles siedelten, Gräber in den Felsen schlugen – und eben mindestens eine befestigte Stadt auf einem Bergrücken anlegten. (Noch im Namen „Les Baux“ schwingt übrigens der Name jener Ur-Provenzalen mit.)
Das Oppidum des Bringasses ist mit klugem Blick gewählt worden: Von dieser Anhöhe schweift nämlich eben jener kluge Blick weit über die Ebene der Crau, über die fruchtbaren Täler unterhalb der Alpilles, an klaren Tagen sogar bis ans Mittelmeer. Ein idealer Wachtposten und Rückzugsort. Wenn sich Feinde nähern, sieht man sie schon auf viele Kilometer und hat Zeit, sich oben zu verschanzen. Diese Festung müssen Angreifer erst einmal erstürmen.



Wenn sie diesen Ort denn überhaupt finden.
Denn selbst heute führt nur ein einziger, versteckter Pfad hinauf. Bei Les Baux ist das Val d'enfer, das „Höllental“, eine tiefe Kerbe im Gebirge. (siehe auch hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2016/02/dieholle-liegt-unter-den-ruinen-von-les.html) In deren Felswänden klafft irgendwo rechts ein Riss, eigentlich eine Spalte, von der man denken würde, dass sie nirgendwohin führt. Doch man muss sich nur über rutschiges Gestein, Dornenbüsche und wie Barrikaden umgestürzte Baumstämme kämpfen, dann steht man im Wald, der die Hügelrücken überwölbt. Die Kletterei ist vielleicht drei Minuten anstrengend, danach geht’s zwischen Eichen und Pinien eigentlich ziemlich einfach weiter. Ein Pfad. Gestrüpp. Wipfel. Du siehst nichts – bis Du wortwörtlich direkt vor den Ruinen stehst: ein in den nackten Felsen gehauener Graben, wie eine Zugbrücke führt eine Rampe hinüber, dahinter ragt eine Mauer aus sorgfältig geschichteten Steinen auf, an manchen Stellen noch zwei Meter hoch und Dutzende Meter lang.
Dahinter: ein magischer Ort. Der Boden ist blanker, grauer Fels, fast wie poliert, nach dem Regen schimmern hier Pfützen wie Silber im Licht. Das Oppidum des Bringasses ist von der Grundfläche her vielleicht so groß wie eine mittelalterliche Burg, allseits ummauert, still. Wenige Trümmerreste liegen im Innern, an der dem Eingang gegenüberliegenden Seite haben antike Steinmetze Treppenstufen in den Fels geschlagen. Sie führen auf einen natürlichen Balkon hoch – und dort weitet sich der Blick nicht allein über Ebenen und hin bis zum Horizont.



Sogar das weltberühmte Les Baux liegt einem zu Füßen. So hast Du die Burg noch nie gesehen. Die alten Ligurer nämlich hatten sich für ihr Festung einen höheren Bergrücken ausgesucht als die mittelalterlichen Adeligen von Les Baux. Ihr Oppidum überragt die Burg um etliche Dutzend Meter.
Im Frühlicht schwimmen die Alpilles wie in bläulichem Dunst. Im Tal werfen die Wipfel der Olivenhaine Wellen. Laubfeuer kräuseln sich in den Himmel, graue Schleier, die von den niedrig über das Mittelmeer heranziehenden Wolken aufgesogen werden. Unter den uralten Mauern rauscht der Wind im Laub. Irgendwo schlägt ein Vogel wütend Alarm.



D'accord, das ist weder Troja noch der Heilige Gral, und ich bin nicht Indiana Jones, aber trotzdem: Wann hat man schon mal die Antike ganz für sich allein?

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