Dieser
Brief beginnt wie der Vortrag eines Studienrats und endet wie Indiana
Jones. Zumindest ungefähr. Also der Beginn: Die Provence ist eine
uralte Kulturlandschaft, und das hört sich ja in der Tat erst einmal
nach uraltem Reiseführer an. Tatsächlich jedoch bedeutet das: hier
kannst Du noch zu Indiana Jones werden.
In
den meisten Regionen Europas ist jedes mittelalterliche oder gar
antike Monument ein Denkmal, ein Museum, jedenfalls baut man einen
goldenen Zaun darum und hängt eine Hinweistafel davor. Sehr schön,
manchmal fotogen und gelegentlich sogar unterhaltsam – aber, hey,
damit steht der alte Plunder auch in Google Maps und jeder
Vollpfosten kann's finden. Doch im Midi bauten Ligurer, Griechen,
Römer, Gallier und Co. schon vor drei Jahrtausenden Städte und
Tempel in die Landschaft und haben es danach nie wieder bleiben
lassen. Später haben Mönche Klöster in Einöden gegründet, Ritter
Burgen auf Hügel gepflanzt und brave Bauern nach Sarazenenüberfällen
oder Pestzügen Kapellen und Kreuze gespendet. Mit anderen Worten:
Ruinen stehen hier überall.
Unmöglich,
heute alle diese Schätze zu erhalten – zumal, trotz aller modernen
Besiedlung, sich viele Relikte immer noch in der Wildnis verbergen.
Wie
das Oppidum des Bringasses.
Den
Namen kannst Du Provenzalen um die Ohren hauen, die meisten haben ihn
noch nie gehört, geschweige denn, dass sie je dort gewesen wären.
Dabei liegt diese Ruine nur ein paar Dutzend Meter Luftlinie neben
einer der bekanntesten Sehenswürdigkeiten von Südfrankreich: der
Burg von Les Baux.
„Oppidum“
ist ein römischer Begriff, der in diesem Zusammenhang hier meint:
„Stadt eines nicht-römischen Volkes“. Die Bringassen sind ein
ligurischer Stamm, den der antike Chronist Diodor von Sizilien
erwähnt: Ur-Provenzalen, die vielleicht schon in der Bronze-,
spätestens jedoch in der Eisenzeit am Westrand der Alpilles
siedelten, Gräber in den Felsen schlugen – und eben mindestens
eine befestigte Stadt auf einem Bergrücken anlegten. (Noch im Namen
„Les Baux“ schwingt übrigens der Name jener Ur-Provenzalen mit.)
Das
Oppidum des Bringasses ist mit klugem Blick gewählt worden: Von
dieser Anhöhe schweift nämlich eben jener kluge Blick weit über
die Ebene der Crau, über die fruchtbaren Täler unterhalb der
Alpilles, an klaren Tagen sogar bis ans Mittelmeer. Ein idealer
Wachtposten und Rückzugsort. Wenn sich Feinde nähern, sieht man sie
schon auf viele Kilometer und hat Zeit, sich oben zu verschanzen.
Diese Festung müssen Angreifer erst einmal erstürmen.
Wenn
sie diesen Ort denn überhaupt finden.
Denn
selbst heute führt nur ein einziger, versteckter Pfad hinauf. Bei
Les Baux ist das Val d'enfer, das „Höllental“, eine tiefe
Kerbe im Gebirge. (siehe auch hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2016/02/dieholle-liegt-unter-den-ruinen-von-les.html) In deren Felswänden klafft
irgendwo rechts ein Riss, eigentlich eine Spalte, von der man denken
würde, dass sie nirgendwohin führt. Doch man muss sich nur über
rutschiges Gestein, Dornenbüsche und wie Barrikaden umgestürzte
Baumstämme kämpfen, dann steht man im Wald, der die Hügelrücken
überwölbt. Die Kletterei ist vielleicht drei Minuten anstrengend,
danach geht’s zwischen Eichen und Pinien eigentlich ziemlich
einfach weiter. Ein Pfad. Gestrüpp. Wipfel. Du siehst nichts – bis
Du wortwörtlich direkt vor den Ruinen stehst: ein in den nackten
Felsen gehauener Graben, wie eine Zugbrücke führt eine Rampe
hinüber, dahinter ragt eine Mauer aus sorgfältig geschichteten
Steinen auf, an manchen Stellen noch zwei Meter hoch und Dutzende
Meter lang.
Dahinter:
ein magischer Ort. Der Boden ist blanker, grauer Fels, fast wie
poliert, nach dem Regen schimmern hier Pfützen wie Silber im Licht.
Das Oppidum des Bringasses ist von der Grundfläche her vielleicht so
groß wie eine mittelalterliche Burg, allseits ummauert, still.
Wenige Trümmerreste liegen im Innern, an der dem Eingang
gegenüberliegenden Seite haben antike Steinmetze Treppenstufen in
den Fels geschlagen. Sie führen auf einen natürlichen Balkon hoch –
und dort weitet sich der Blick nicht allein über Ebenen und hin bis
zum Horizont.
Sogar das weltberühmte Les Baux liegt einem zu Füßen.
So hast Du die Burg noch nie gesehen. Die alten Ligurer nämlich
hatten sich für ihr Festung einen höheren Bergrücken ausgesucht
als die mittelalterlichen Adeligen von Les Baux. Ihr Oppidum überragt
die Burg um etliche Dutzend Meter.
Im
Frühlicht schwimmen die Alpilles wie in bläulichem Dunst. Im Tal
werfen die Wipfel der Olivenhaine Wellen. Laubfeuer kräuseln sich in
den Himmel, graue Schleier, die von den niedrig über das Mittelmeer
heranziehenden Wolken aufgesogen werden. Unter den uralten Mauern
rauscht der Wind im Laub. Irgendwo schlägt ein Vogel wütend Alarm.
D'accord,
das ist weder Troja noch der Heilige Gral, und ich bin nicht Indiana
Jones, aber trotzdem: Wann hat man schon mal die Antike ganz für
sich allein?
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