Freitag, 15. Mai 2015

Vincent van Gogh und das Licht der Provence

Die Natur hier ist außerordentlich schön“schreibt Vincent van Gogh seinem Bruder Theo - und lobt damit die Provence. Genauer: Arles, die Rhône, die Camargue, Saintes-Maries, das Mittelmeer... Am 19. Februar 1888 reist er nach Süden, fünfzehn Monate weilt er in und bei Arles, es sind die glücklichsten seines kurzen Lebens. „Überall ist die Himmelskuppel von einem wunderbaren Blau, die Sonne strahlt ein blasses Schwefelgelb aus.“




Tatsächlich mag man als Maler trunken werden von den Farben der Provence oder vielleicht auch wahnsinnig, denn keine Palette der Welt kann die Nuancen fassen, in der hier Himmel und Erde, in der Felsen, Wolken, Laubkronen, Rebstöcke, Gemäuer, in der noch alltäglichste Dinge wie Bänke oder Briefkästen leuchten, flimmern, glühen.
Eine simple Besorgungsfahrt, ein Fußweg von fünf Minuten, ein Blick von der Terrasse, kann hier zum Bilderrausch mutieren, halb Spaziergang durch eine imaginäre Galerie, halb psychedelischer Trip.

Morgens legt sich das Frühlicht wie Honig über Hausmauern und Hügelkuppen. Manchmal, wenn meine Tochter zur Grundschule unseres Städtchens geht, blickt sie auf ein weites Tal, in dem, hundert Meter unter ihren Füßen, Nebelfiguren aufquellen wie Totengeister. An anderen Morgenden drückt der Mistral ebendort das hochgewachsene, noch sattgrüne Getreide in Wellen zusammen, die wie Schauer eines Fieberkranken über die Felder zucken.
Mittags ist der Himmel blassblau, beinahe weiß vor Hitze, weiß ist die Sonne, weiß glänzt der Sandboden, silbern schimmern die schmalen Blätter der Olivenbäume. Schatten wie Scherenschnitte, klein, präzise, tintenschwarz. Die schmiedeeiserne Krone des städtischen Glockenturms steht in der Luft wie ein chinesisches Schriftzeichen.
Nachmittags glüht der Boden, als würde er der Sonne antworten. Alles schimmert warm und rot, das knotige Holz unter den Weinreben, die jahrhundertealten Stützmauern der terrassierten Felder, die Dachschindeln aus gebranntem Ton. Das Mittelmeer liegt da wie flüssiges Gold, man darf absurderweise denken, dass die Boote, die durch dieses Wasser gleiten, gleich entzündet werden und in Flammen vergehen.



Abends ist das Band des Horizonts violett wie schwerer Damast. Manchmal, wenn erst zur späten Stunde der Mistral aufkommt, zerreißen Böen Wolkentürme zu gewaltigen Gebilden, zu Kontinenten ohne Substanz, zu Fabelfiguren und Höllengebilden, die von einem Licht, das aus ihren Leibern selbst zu strahlen scheint, rot und rosa, orange und gelb schimmern. Nach wenigen Augenblicken schon ist der Spuk zerfetzt, sind seine Farben verglüht zu Eisengrau.
Nachts ist der Mars ein rötliches Signallicht auf schwarzem Samt, ist die Venus ein weißer Stecknadelkopf, sind die Sterne verstreute Glassplitter, sind Pinienkronen und Eichenäste Konturen in einer zweidimensionalen Welt, nur zu ahnen, weil ihre Massen noch schwärzer sind als der schwarze Himmel.
Manchmal höre ich gar nicht mehr auf hinzusehen. Und ich weiß nicht, ob es ein Fluch ist, dass ich nicht malen kann, oder nicht vielmehr eine Gnade. Denn könnte ich malen, würde mich dieses Licht einfach fortspülen wie die Meeresströmung einen Schwimmer.

Ich habe ein schreckliches Bedürfnis nach – soll ich das Wort sagen – nach Religion“, gesteht Vincent van Gogh dem Maler Émile Bernard, „dann gehe ich nachts hinaus ins Freie und male die Sterne.“