Montag, 18. Mai 2020

Verlorenes Vernègues


In „Verlorenes Vernègues“ muss Roger Blanc nicht allein mit seinen Freuden und Feinden (und mit sich selbst) klarkommen – sondern auch mit einem Rudel Wölfe. Wölfe sind für manche Menschen archaische Todesboten aus finstersten Zeiten, für andere The World's Sexiest Vierbeiner Alive. So oder so: Sie gehören wieder zur Provence dazu wie Olivenbäume oder Lavendelsträucher oder die Flamingos der Camargue.



Das Comeback der Wölfe hat vor fast dreißig Jahren begonnen. Eigentlich waren die Tiere in Frankreich ausgerottet worden. Doch ab den 1990er-Jahren wanderten zunächst einzelne Wölfe, dann ganze Rudel von Italien aus in die französischen Alpen ein. Dort, im Nationalpark Mercantour, wurden sie nicht mehr geschossen, sie waren fruchtbar und vermehrten sich – und sie hatten Hunger. Zunächst haben sie Bergziegen und Murmeltiere gejagt und was sonst noch im Gebirge herum hüpft. Doch sehr rasch spezialisierten sich viele Wölfe auf eine sehr einfach zu erlegende und zudem sehr schmackhafte Beute: Schafe.
Schäfer sind in den Alpen, in der Provence, überhaupt in Südfrankreich ungefähr so exotisch wie Automechaniker in Baden-Württemberg: Das ist ein Beruf wie Du und ich, allein in der Région PACA (Provence-Alpes-Côte d'Azur) sind es mehr als 1500, ungefähr sechzig Jungschäfer kommen jedes Jahr hinzu, insgesamt hüten sie etwa 600 000 Schafe. Wer nicht gerade in einer Großstadt wohnt, hat Schäfer im Freundes- und Bekanntenkreis. Wir, zum Beispiel, leben nur ein paar Dutzend Meter neben einem alten Schäferpaar. Und eine Mutter aus der Schule unserer Jüngsten ist Schäferin, sie versorgt uns regelmäßig mit Lammfleisch. (Sorry, hier ist niemand Veganer.)
Aber nun gibt es den Wolf.
Zuerst waren es ein paar Dutzend Schafe im Jahr, die gerissen wurden – sicherlich weniger, als streunenden Hunden oder rasenden Autofahrern zum Opfer fielen. Inzwischen sind es allerdings mehr als 10 000 Schafe im Jahr, mindestens. Ein Wolfsangriff gilt nur als solcher, und der Schäfer wird nur dann vom Staat entschädigt, wenn im getöteten Schaf eine DNA-Probe genommen wird, die eindeutig einem Wolf zuzuordnen ist. Wird zum Beispiel ein Lamm gerissen und verschwindet für immer im Unterholz, dann taucht es in dieser blutigen Statistik nicht auf.



Durch Frankreich streifen mindestens 500 Wölfe (das sind die Schätzungen von Naturschützern), vielleicht sind es auch schon wieder 1000 Tiere (das sind die Vermutungen von Schäfern und Jägern). In der Provence sind inzwischen mehrere Rudel am Mont Ventoux und im Umland von Aix-en-Provence heimisch, Einzeltiere – vermutlich zumeist junge Rüden, die weite Wanderungen machen – sind schon neben dem Krankenhaus von Manosque und der Grundschule von Digne-les-Bains gesichtet worden, mitten in Weinstöcken, im Sumpf der Camargue und sogar direkt neben den Raffinerien von Berre. (Und das alles in Vor-Corona-Zeiten, als sich Wildtiere gemeinhin noch nicht so weit in die Wüsteneien gewagt haben, die wir Zivilisation nennen.) Und ein junger Wolf ist übrigens auch schon in den Hügeln hinter unserer Ölmühle gesichtet worden, durch die ich jeden Morgen jogge – das gibt einem ein ganz neues Laufgefühl, auch wenn ich bei meinen Touren bislang bloß Kaninchen, Eichhörnchen oder bestenfalls mal ein Wildschwein aufgescheucht habe.
Manche Schäfer verlieren bis zu einhundert Tiere im Jahr, ein ausgewachsenes Schaf hat einen Wert von etwa 200 Euro, es geht hier also auch um ganz beachtliche Summen.
Man kann sich denken, was kommt, oder?
Schäfer, die selbstverständlich auch längst im 21. Jahrhundert angekommen sind, filmen inzwischen ihre Herden nach einem Wolfsangriff und stellen die Bilder auf YouTube – nix für schwache Nerven, manche Schafherden sehen nach einem Wolfsangriff aus, als sei nachts in ihrer Mitte eine Bombe explodiert. Viele legen sich Patous zu, riesige Hütehunde, die für Menschen weitaus gefährlicher sind als Wölfe (und genehmigungspflichtig wie Kampfhunde). Andere sind bewaffnet. Und vor einiger Zeit haben sich Dutzende Bürgermeister ländlicher Gemeinden mit ihren Knarren ablichten lassen und diese Fotos auf Facebook gepostet, verbunden mit der kaum verklausulierten und total illegalen Aufforderung, demnächst diese Tiere einfach abzuknallen. Die Aktion nannte sich: „Loups – n'obligez pas les maires à faire ça.“



Die Wolfsfreunde sind kaum weniger aggressiv, nur andersrum. Als sich beispielsweise ein Bauernsohn, ein Teenager, nachts bei seiner Herde umsah, wurde er plötzlich von einem Wolfsrudel umzingelt. Es geschah ihm nichts, aber er fühlte sich bedroht. Das zumindest berichtete eine Lokalzeitung (nicht der Junge selbst) – und seither wird der arme Kerl mit Morddrohungen und Hass überzogen, nur weil er angeblich gesagt hat, dass er Angst vor Wölfen hat.



Wölfe, hysterische Menschen, Waffen... Das, finde ich, ist doch mal einen Krimi wert. Roger Blanc ermittelt also diesmal in Vieux Vernègues, einer gespenstischen Ruinenstadt (siehe hier: ) und in den antiken Ruinen von Château Bas. Eigentlich haben bloß zwei alte Schäfer ein paar Tiere an die Wölfe verloren, und das ist nun schon beinahe Routine. Doch dann werden die Menschen nervös, dann schießwütig, dann schießen sie tatsächlich – und nicht nur auf die Tiere...



Ich hoffe, Sie haben Spaß bei der Lektüre. Und seien Sie versichert: Es sind nicht die Wölfe, die hier die Killer sind.

                                                  

P.S.: „Verlorenes Vernègues“ kommt am 19. Mai 2020 heraus, geschrieben habe ich den Text im letzten Jahr. Doch als ich das Manuskript Anfang diesen Jahres mit meiner verehrten Lektorin durchgearbeitet habe, ist mir plötzlich aufgefallen, wie gespenstisch das ist: Ein archaischer Schrecken, die Menschen werden panisch, suchen Schuldige, bald herrscht Ausnahmezustand... Es muss kein zentnerschwerer Wolf sein, so etwas schafft auch ein winziges Virus.

P.P.S.: Hier gibt es noch ein Interview zum Thema: