Dienstag, 2. Juli 2024

Sommer in Eyguières / Mystery Magazine July 2024

Gibt es in diesen Tagen auch gute Nachrichten aus Frankreich? (Die schlechten Nachrichten muss ich nicht extra aufführen, die kann sich jedefrau und jedermann in drei Sekunden ergooglen.) Lieber was mit Sommer, Sonne, Sympathie, d’accord?





D’accord. Neulich wollte ich ganz um die Ecke von hier etwas recherchieren, in den Alpilles westlich von Eyguières. Zwischen dem Mont Menu und den Gipfeln von Les Opies hat sich etliche Milliönchen von Jahren die Durance durch die Berge gefräst. Vor etwa 800 000 Jahren hatte sie keinen Bock mehr und sich stattdessen weiter nördlich in die Rhône ergossen. Das Vallon des Glauges ist dabei zurückgeblieben, ein Tal wie eine Bresche durch die Alpilles, fruchtbarer Boden, und wenn du auch nur ein wenig im Erdreich wühlst, förderst du noch immer rundgeschliffene Flusskiesel zu Tage.

Hier wandert man durch eine Art Miniatur-Bilderbuch-Provence. Im Hintergrund leuchten blassblau und hellgrau die Felsenklippen der Alpilles mit ihrem grünschwarzen Flickenteppich aus Garrigue und mediterranen Eichen. Wer von Süden kommt, flaniert zunächst durch Olivenhaine. Es gedeihen Olivenbäume und Zypressen in trauter Eintracht, die hätte van Gogh sicher gerne gemalt.




Okay, die Agave rechts unten hätte der Meister nicht gemalt, die gab es zu seiner Zeit noch nicht. Das ist eine invasive Art in der Provence, so eine Art Pest mit stachelig-spitzen Blättern, gedeiht wie Unkraut, aber, hey, ich darf nicht meckern, bin ja schließlich selber eine invasive Art.

In manchen Hainen breiten die Bäume ihre übervollen Wipfel über den sandigen Boden.





Hundert Meter weiter sind ihre Kumpels aber wirklich, wirklich arg beschnitten worden:





(Keine Panik, das wird wieder. Die treiben neu aus, und nächstes Jahr kann man schon wieder richtig viele Oliven ernten.)

Oliven sind nicht so Ihr Ding? Macht nichts, einfach weitergehen – und schon steht man im Wein, beziehungsweise zwischen Reben, die Trauben tragen, aus denen im Herbst der nächste Jahrgang Rosé gekeltert wird, und Roten und Weißen gibt es in den umliegenden Weingütern auch. In diesem alles in allem (für unsere Verhältnisse) recht feuchten Frühsommer stehen die älteren Reben in Saft und Kraft und wunderbaren kräftiggrünen Blättern. Die Reihen der jüngst gepflanzten Stöcke stehen noch ein bisschen bescheidener in der Sonne herum.





Und nach noch einmal zehn Minuten Fußmarsch mehr tritt man dort, wo sich das Tal beim Weiler Saint-Pierre-de-Vence (ungefähr zweieinhalb Bauernhäuser) nach Norden hin öffnet, in eine antike Villa. Eh bien, zumindest stolpert man über die Grundmauern einer spätrömischen Villa, die immerhin noch erahnen lassen, wie groß dieser Gutshof aus dem 4. nachchristlichen Jahrhundert einst gewesen ist.





Die Ruinen stehen am Ende eines Feldwegs, inmitten von Reben – und also auf privatem Grund. Doch der Besitzer, gepriesen sei sein Name, hat die Relikte eben nicht untergepflügt, um noch einige Weinstöcke mehr zu pflanzen, sondern die Anlage bewahrt, einfach so. Kein Eintritt, kein Zaun, eine leicht angerostete Schautafel mit den notwendigsten Erklärungen, und ansonsten darfst du hier herumgehen, wie es dir gefällt, oder so ungefähr, wie es dir gefällt: Bitte nicht auf die Mauerreste steigen, das könnte sie beschädigen!

Alors, Alpilles, Oliven, Zypressen, Wein, Ruinen, und das auf einem einzigen lockeren Spaziergang. Nicht schlecht, oder? Das Beste zum Schluss: Ich habe das vor wenigen Tagen gemacht, schon Sommer, Hauptsaison – und doch habe ich keinen zweiten Wanderer gesehen. Ich hatte das alles für mich alleine, kein Massentourismus, keine Konservenmusik, nix, nada. Und wenn man geduldig genug in den makellosen Himmel sieht und wahnsinnig viel Glück hat, hatte ich diesmal nicht, aber okay, falls doch, dann entdeckt man vielleicht sogar über den Gipfeln der Alpilles die schwarzen Silhouetten großer Vögel, die im Aufwind kreisen. Das könnte einer der seltenen Adler der Alpilles sein, oder sogar einer der genauso seltenen Geier, die hier leben.

Es gibt sie also noch, die guten Nachrichten aus Frankreich. In diesem Sinne: Schönen Sommer, Vive la France, Vive la République!





P.S.: Something which might interest our friends in Canda, the USA or UK: This story is no Roger Blanc, though, surprise, it is a "histoire noire" in Southern France. But, hey, English is the language of short stories, I always wanted to try my hand in it... Thank you Kerry and your team for publishing "The Black Scarf"! Mystery Magazine is available on Amazon, either for Kindle or as a PoD:


https://www.amazon.com/dp/B0D8BPDPPH?&linkCode=sl1&tag=mysteryweekly-20&linkId=3d031f860e0748816aa1adb580de05d4&language=en_US&ref_=as_li_ss_tl

Montag, 13. Mai 2024

Unheilvolles Lancon - Capitaine Roger Blancs elfter Fall

Endlich ist es Mai im Midi! Capitaine Roger Blanc ist jetzt seit elf Monaten in der Provence – was bedeutet, dass Sie (sofern Sie mir gewogen sind) und ich dem Flic und seinen Freunden, Kollegen, Nachbarn sowie Finsterlingen aller Art seit elf Jahren auf seinen Irrungen und Wirrungen folgen. Und endlich, endlich, erscheint „Unheilvolles Lançon“ - der neue Band mit Blanc, der genau in jenem Wonnemonat ins Bücherregal taumelt, in dem unser Held auch ermittelt.





Wobei, Wonnemonat…

Der Mai ist hier schon reichlich heiß und trocken. (D’accord, dieses Jahr 2024 ausnahmsweise nicht, da fühlt sich die Provence an wie Hamburg, ziemlich feucht, aber alles schön grün hier. Doch normalerweise, ahhh, da ist der Mai inzwischen unser erster sowie schönster Sommermonat.) Heiß & trocken schon im Mai, das bedeutet enorme Schwierigkeiten, doch auch ein paar enorme Chancen für die Winzer in unserer direkten und etwas weniger direkten Nachbarschaft. (Lançon liegt bei uns um die Ecke, wer sich an den „Brennenden Midi“ erinnert, erinnert sich vielleicht auch noch an eine alte Burg und ein abgestürztes kleines Flugzeug ebendort; siehe https://provencebriefe.blogspot.com/2016/05/furcapitaine-roger-blanc-konnte-der.html)






Ich wollte keinen Wein-Krimi schreiben, der Dich und mich mit Klischees abfüllt, Weinproben, schönes Gästehaus, knorziger Winzer, solche Sachen, die interessieren auch Roger Blanc nicht die Traube. Lieber will ich zumindest andeuten, dass es ein sehr altes, sehr kunstreiches Metier ist, aber eben auch eines, bei dem die Beteiligten heute mit sehr hohem Einsatz spielen: Einsatz an High-Tech und Phantasie, an Wissen und Mut zum Risiko, an Arbeit, Sorgen und, ja doch, richtig viel Geld. (Und das interessiert einen ehemaligen Korruptionsermittler schon eher…)








Winzer machen sich beispielsweise Sorgen um Buschbrände. Nicht, dass ihre Reben brennen, fürchten sie, sie fürchten den Rauch, weil der … na, lesen Sie es ruhig nach. Winzer kämpfen Olympia-mäßig um Goldmedaillen. Winzer, manche zumindest, verkaufen ihre Güter an Hollywoodstars in der Liga von Angelina Jolie und Brad Pitt. (zum Wein in seiner Schlechthinnigkeit: https://provencebriefe.blogspot.com/2024/04/weinanbau-in-der-provence.html)

Und also Weltklasse-Krimistoff, ganz ohne Zynismus.


Außerdem überragt bei einem Weingut hier ein wirklich schroffer, steiler, wilder Felsen Reben, Olivenhaine, Buschwerk. Dieser Felsen ist ein ideales Spielgerät für Freeclimber, die sich gerne an den steilen Flanken austoben. ("Felsen", "Freeclimber", daran denkt man ja auch nicht sofort, wenn man "Wein" und "Provence" hört.) Jedenfalls haben Regen, Wind und ich-weiß-nicht-welche tektonischen Kräfte über Äonen oben auf der schmalen Kuppe eben jenes Felsens kleine Becken ausgehöhlt, bei denen mein krimiautordeformierter Verstand sofort an Gräber denken musste. Gräber, in denen ein Mörder sein Opfer ablegt... Ein Opfer, das ausgerechnet von dort oben spurlos verschwindet, als Blanc und die anderen Gendarmen hinaufklettern und nachsehen...

Das ist doch auch ein Krimistoff, nicht wahr?





Und damit es nicht zu idyllisch wird, kommt auch Marseille vor: Ein altes Schiff im Alten Hafen. Das Haus des Verrückten. Und ein wahnsinnig hässliches Krankenhaus mit einem wahnsinnig schönen Ausblick auf die schönste und chaotischte Stadt am Mittelmeer. (Und, mais oui, Blancs und unser alter Freund Kad Djendelli spielt auch mit.)





Hier jedenfalls gibt's mehr zum Buch:

https://www.dumont-buchverlag.de/buch/cay-rademacher-unheilvolles-lancon-9783755810056-t-5914


Es würde mich also wirklich sehr freuen, wenn Sie Roger Blanc und den Seinen auch auf dieser, seiner elften Reise ins Herz der Provence begleiten…


P.S.: Was ganz anderes, aber noch ein Krimi: In ein paar Tagen erscheint im Kampa-Verlag die Neuausgabe eines Krimis von Georges Simenon: Maigret und das Gespenst (übersetzt von Julia Becker, Barbara Klau, Hansjürgen Wille). Da hatte ich die Ehre und das Vergnügen, ein Nachwort schreiben zu dürfen. Maigret, Paris, Sechziger Jahre… fühlen Sie sich auch diesen Klassiker ans Herz gelegt.

Freitag, 12. April 2024

Weinanbau in der Provence

 Araber und Russen haben Öl, Franzosen haben Wein. Die Sorte, die in der Provence in vielen Barrel gefördert wird und weltweit viele Konsumenten antreibt, ist der Rosé. So weit, so gut.

Und jetzt die schlechte Nachricht: der Klimawandel, putain, schon wieder der.





In der guten, alten Zeit war es so: Die antiken Griechen haben Marseille & Co. vor ungefähr zweieinhalb Jahrtausenden gegründet und dabei Weinreben und Olivenbäume als Immigranten aus der alten Heimat mitgebracht. Weinbau war so ungefähr die beste antike Idee überhaupt und hat sogar noch besser funktioniert als die Demokratie. Rotwein, Weißwein, die Leute haben das immer gewählt, und seit einigen Jahrzehnten hat der provenzalische Rosé mit kräftigen Ellenbogen die anderen Farben beinahe aus dem Regal gedrückt und sich zum echten einheimischen Bölkstoff und zugleich globalem Exportschlager entwickelt.

Promis haben diesen, wie so viele Trends natürlich erst spät mitbekommen. Dafür haben sie das Geld, um ihren erkenntnistheoretischen Rückstand in cash aufzuholen. Beispiele? George Lucas hat in guten Zeiten im Midi Château Margüi für 9 Millionen Euro gekauft, das Traumpaar Brad Pitt und Angelina Jolie die Domaine de Miraval für 16 Millionen (ein Schnäppchen, zumindest war später noch genug Schotter für Scheidungsanwälte übrig), der irischer Milliardär Paddy McKillen Château La Coste für 10 Millionen, der französische Unternehmer Pierre Gattaz Château de Sannes für 11 Millionen. Teuer? Nö. In fetten Vor-Putins-Krieg-Zeiten war ein Hektar provenzalisches Weingut für schlappe 150 000 Euro zu haben. (Wer oenologisch noch etwas drauflegen möchte: Ein Hektar in Burgund kann bis zu 35 Millionen Euro kosten.)

So ein provenzalisches Weingut wie du und ich ist zum Beispiel, direkt bei uns um die Ecke, Château Virant, schön nahe am Étang de Berre: 180 Hektar Weinstöcke, in normalen Jahren sind die gut für wirklich jeden Durst löschende 120 000 Hektoliter. (Und 100 000 Liter Olivenöl wächst bei denen an den Bäumen, auch nicht ganz schlecht.) Zuerst wird der Muscat für den Weißwein gelesen, dann Sauvignon, Chardonnay, schließlich kommen alle anderen Arten ins Fass.

Nur, hey, alle, alle Jahreszeiten werden inzwischen immer heißer und trockener, da kannst du deine Hand zwischen Weinstöcken festkleben, das ändert jetzt leider auch nichts mehr. Früher war Weinlese vielleicht mal eine Angelegenheit für den Herbst – nun schneiden Arbeiter im August die Trauben ab. Rekordhalter ist eben jenes Château Virant, Lese 2003, Erntebeginn: 8. August. Wer sich als Erntehelfer bewerben möchte, dem muss ich den Enthusiasmus etwas dämpfen: Im Hochsommer ist es so heiß, dass die Lese nachts oder bestenfalls in den frühesten Morgenstunden erfolgen muss. Wenn du meinst, dass sechs Uhr morgens früh ist, such dir besser einen anderen Job.





Noch ein Knaller: Seit den alten Griechen musste man niemals, niemals den Wein gießen. Es gab wenig Regen in der Provence, doch der hat zweieinhalbtausend Jahre ausgereicht. Seit einigen Jahre, eh merde, nun nicht mehr. Winzer müssen wässern – bis zu einer Millionen Liter Wasser pro Hektar pro Saison. (Und, siehe oben, so ein eher normalgroßes Weingut wie Château Virant hat 180 Hektar…)

Was machen George Lucas und die anderen armen Winzer nun? Ein Nachbar von uns, der seit ewig und im Familienbetrieb ein richtig tolles kleines Gut bewirtschaftet, denkt ernsthaft darüber nach, alle seine Reben auszureißen und durch solche zu ersetzen, die mehr Trockenheit und Sonne aushalten. In fünf Jahren würden sie die erste Trauben tragen, in zehn Jahren wäre dieser Wein dann richtig gut. Hoffen wir, dass bis dahin der Süden Frankreichs nicht schon wieder zu heiß und trocken auch für diese Rebsorte geworden ist.

Und wo diese neue Rebsorte herkommt? Aus Griechenland, wie schon vor zweieinhalb Jahrtausenden.

Mittwoch, 6. März 2024

Cote Bleue im Sturm

Neulich hat das Mittelmeer mal Atlantik gespielt, und das war schon schön. Den Szenenwechsel hatten wir dem Südwind zu verdanken. Wind aus Süden, das bedeutet eine Ahnung von Afrika, schön warm, und manchmal trägt er sogar Saharasand zu uns, bis die Luft im gelbraunem Staub diesig schimmert. Meistens aber saugen sich die fröhlichen Böen über dem Meer mit Wasser voll und laden das dann an Land über unseren Köpfen wieder ab.





So war es auch vor ein paar Tagen – nur ausnahmsweise mit Windstärke acht oder neun, keine Ahnung wieviel, jedenfalls habe ich ordentlich was auf die Mütze bekommen. Wir sind mal wieder an der Côte Bleue gewandert, und da sagt unsere Tochter: „Das sieht aus wie England.“





Und tatsächlich fühlte es sich an wie Broadchurch mit Pinien. (One of my favorite tv series, especially seasons one and two.) Die Küste ist steil und felsig, fällt aus zwanzig, dreißig Metern nahezu lotrecht ins Wasser, dahinter das große Blau.

Well, diesmal das große Grau.

Der Himmel ist von Horizont zu Horizont fahlgrau, darin dunkelgraue, weiße, silbrige Wolkenstreifen und Wolkenfetzen. Das Mittelmeer hat die Farbe von Schiefer angenommen, geriffelt von zahllosen hellen Schaumkronen, in Landnähe leuchtet es türkis. Der Wind treibt die Wellen gegen die Küste, wo sie sich zu Brechern aufbäumen, bevor sie in haushohen Gischtwänden an den Felsen zerstieben. Du hörst ihr dumpf grollendes Branden, lange bevor du das Meer siehst. Ist mir hier noch nie zuvor passiert.





Am Horizont halten eine Fähre nach Algerien und ein Frachtschiff – wie es aussieht: reichlich unbeeindruckt – stur Kurs gen Süden. Der Leuchtturm von Planier blinkt tagsüber nicht (zumindest kann ich keine Leuchtzeichen ausmachen) und steht bloß als brauner Bleistiftstummel vor dem fernen Himmel. Feinste Tropfen wirbeln von den Brechern hoch zum Küstenweg, es duftet nach Meer, und auf den Lippen liegt der Geschmack von Salz. Möwen segeln auf gezackten, ruckartig die Höhe wechselnden Kursen durch die Böen. Du folgst mit den Augen ihrem Flug, und ganz plötzlich sind sie weg, als hätte sie der Sturm oder das Meer verschluckt.





Wir erreichen die Calanque des Anthénors, eine winzige Bucht, kaum mehr als eine Kerbe in der Steilküste. Am Meeressaum ein paar Handbreit Kieselstrand, die Steine über Äonen vom Wasser glattgeschliffen. Drumherum zernarbte sandfarbene und graue Felsen. Und ganz allein, hart diesseits der auslaufenden Wellen auf dem Boden sitzend, eine junge Frau, Muslima, Kopftuch, ihr Körper umhüllt von einem langen, modischen Wintermantel, den sie sich gegen die Böen eng um den Leib geschlungen hat. Aus dem Maghreb, denke ich, vielleicht hat sie das Mittelmeer, ihr Mittelmeer, noch nie so entfesselt gesehen. Sie bemerkt uns nicht, sie hört uns nicht (die Brecher…), sie blickt bloß unverwandt aufs Meer hinaus, hält ihr schönes Gesicht in diesen salzigen Wind.

Auf ihren Zügen spiegelt sich das pure Glück.




Donnerstag, 15. Februar 2024

Gruselgeschichten aus der Provence

 Das sei ja gruselig, sagt die beste Ehefrau von allen, nachdem ich ihr, meiner Erstleserin, eine Kurzgeschichte gegeben habe. Recht hat sie. Die Provence ist gruselig – zumindest manchmal.

Da joggst du morgens friedlich mit dem Köter durch den Wald, und plötzlich joggt ein kleiner Keiler fröhlich mit. Da fragt man sich beklommen: Putain, wo treibt sich wohl der Rest der Rotte rum? Und dann gruselt’s einen. (Der Hund ist in solchen Fällen eher keine Hilfe – der hält sich schön hinter mir versteckt, wenn’s hart auf hart kommt.)






Ein anderes Mal quillt aus der winzigen Touloubre Nebel auf, als sei sie die große Themse zu Zeiten von Sherlock Holmes selig. Gruselig. Gruselig auch, wie der verdammte selbe Nebel nachts um die Häuser streicht und ein provenzalisches Mas in ein Schloss à la Edgar Wallace verwandelt. (Sherlock Holmes, Edgar Wallace, die Älteren unter uns erkennen die Verneigung vor den Altmeistern, für alle anderen gilt: Frag mal ChatGPT.)









In einem schönen kleinen Städtchen steht eine schöne kleine und schwangere Jungfrau Maria in einer Wandnische neben der schönen kleinen Kirche herum. Wenn man genau hinsieht – d’accord, wenn man sich etwas verrenkt -, dann wird die schwangere Lady Mother allerdings von bronzenen Füßen, nun ja, zertrampelt. (Schön ist das Ensemble aber doch, ne?)





An einem Abend schlendern die beste Ehefrau und ich durch Aix-en-Provence. Gleich geht’s in ein winziges Theater nahe am Cours Mirabeau. (Le Flibustier, 7 Rue des Bretons – falls Sie mal in Aix sind und an einem Abend mal gerade nichts zu tun haben. Es gibt geschätzt allerdings kaum dreißig Plätze, eine Reservierung wäre nicht schlecht. Weitere Infos hier: https://www.leflibustier.net/) Na, also, Theater: Wir schlendern durch Aix, sehen uns verträumt alte Häuser an – und wer sieht verträumt zurück? Ein Totenkopf. Ich meine, hey, wer meißelt sich freiwillig einen Totenschädel über die Eingangstür. Gruselig, oder?





Und dann gibt’s da noch die Müllcontainer am Rand einer Route Départementale. Darüber steht ein großes Schild, dass man doch bitte ja, ja, ja keinen Müll vor die Container abstellen soll. Und was steht davor? Ein altes Klo. Putain. Die gruseligsten Geschichten schreibt nicht die Natur, die denkt sich immer noch der Mensch aus.




Dienstag, 12. Dezember 2023

Chapelle Saint-Sixt bei Eygalières

 Der Coverboy der Provence heißt Sixtus. Mit dem Satz wollte ich ja schon immer mal beginnen. Eigentlich ist die Sache selbstverständlicher zu kompliziert, um sie in bloß sechs Wörter zu fassen. Alors: Eine Kapelle, die dem Heiligen Sixtus geweiht ist – die Chapelle Saint-Sixte – hat sich über Jahrzehnte zäh als das Motiv emporgearbeitet, das für die Provence steht. Als symbolischer Aufmacher von Artikeln, Cover von Zeitschriften, Foto von Websites, Umschlagbild von Reiseführern. (Für die Jüngeren: Reiseführer sind Tripadvisor auf Recyclingmaterial.) Immer mal wieder schafft es das kleine Gotteshaus ins Herz der Layouter und Bildredakteurinnen und damit vor die Augen von Leserinnen, Usern, wem auch immer. So wie jetzt:








Die Kapelle ist ja auch hübsch.

Saint-Sixte steht seit beinahe tausend Jahren etwa einen Kilometer östlich von Eygalières. Das ist, wenn man großzügig geographisch schätzt, ungefähr auf halber Strecke zwischen Saint-Rémy und Cavaillon. Eine romanische Kapelle, die im 12. Jahrhundert auf einem grauweißen Kalksteinhügel errichtet wurde, wo zuvor bereits ein antiker Tempel gestanden hatte. Aus den Steinwänden wachsen massige Stützwände wie Rippen, das Gotteshaus ist wirklich das: nicht größer als ein Haus. Die Kapelle ist auch zu bescheiden für einen richtigen Turm, stattdessen erhebt sich über den Dachfirst ein simples Glockengestell. Im Netz zeigen die meisten Fotos der Kapelle das Glockengestell noch so kahl wie mein Haupt. Doch in echt hängt längst wieder eine Glocke drin und ein schmiedeeisernes Kreuz steht noch obendrauf.






An eine Seite schmiegt sich ein ummauertes Mini-Kloster an das Gotteshaus, die Mönche, die hier einst wirkten, brauchten wirklich wenig Platz. Weil von Generation zu Generation mehr Pilger hierher kamen, wurde eine Vorhalle an den Eingang unterhalb des Glockengestells angebaut. Sie ist ein halbes Jahrtausend jünger, sieht aber genauso alt aus wie die Kapelle.

Gerade in ihrer Askese ist das Monument schön: Die Mauern sind frisch verputzt und schimmern grau, das Gewölbe der Vorhalle ist in einem kräftigen Ockergelb gehalten, ein starker Kontrast zum dunklen Grün der Zypressen, die als Wächter neben dem Gotteshäuschen stehen, und zum überirdischen Blau des Himmels. Diese Komplementärfarben hätten Vincent van Gogh gefallen, orange und blau, der niederländische Meister hat gerne mit derartigen Kontrasten gespielt. Es führt nicht einmal ein richtiger Weg den Hügel hinauf, muss es auch nicht. Der Felsboden ist so karg, dass Buschwerk nur hier und dort grüne Inseln formt, der Rest ist nackter und mithin leicht zu begehender Boden.

In einer Art Kranz rund um den Hügel haben sich Olivenbäume und Micocouliers aus Spalten gezwängt. Fast alle Stämme und Äste sind schwarz verbrannt von einem Feuer, das mindestens im Vorjahr, wenn nicht vor noch längerer Zeit gewütet haben muss. Doch die Bäume, die hier wachsen, sind zäh: An den äußersten Spitzen ihrer vernarbten Äste sprießt frisches grünes Laub.





Die schmucklosen Mauern und der karge Fels, die blassen Farben des Gotteshauses und die intensiven Farben der Natur, die Olivenhaine am Fuß der Anhöhe und der Blick auf die blau schimmernden Steinwogen der Alpilles, vom Vordach umrahmt – das ist die Provence. Die Natur ist karg und abweisend, aber der Mensch ringt ihr trotzdem Früchte und sogar den Glauben ab. Andererseits tut er das nicht in triumphierender Großspurigkeit, sondern bescheiden, still, weitab von aller Geschäftigkeit. Sant-Sixt gehört genauso in die Landschaft wie ein Stein oder ein Baum.

Ach ja, Sixtus, der Namenspatron und Coverboy: Sixtus II. war einer der ersten Päpste, er wurde am 6. August 258 in Rom aus einem Gottesdienst heraus verhaftet und noch am selben Tag enthauptet. Er ist der Schutzpatron, der bei Halsschmerzen hilft. (Logisch, selbiger wurde ihm ja durchtrennt, der Heilige weiß, wie sich das anfühlt.) Er steht schwangeren Frauen bei. (Don't ask me why.) Er behütet die Bohnenernte. (Dont ask me … genau.) Und, in der Provence extrem wichtig und vermutlich deshalb zog die Kapelle einst so viele Pilger an: Der Heilige Sixtus sorgt für ein gutes Gedeihen der Weintrauben.

Diese Kapelle ist also einen Besuch wert, nicht nur zu Weihnachten...

Donnerstag, 16. November 2023

Skorpione, Geckos und andere Hausbewohner

Vor, jetzt müssen wir alle mal ganz tapfer sein, tatsächlich schon beinahe zehn Jahren ist der erste Krimi um Capitaine Roger Blanc erschienen. Dort gibt es eine Einstiegsszene, die ich heute nicht mehr schreiben würde. Das hat nichts mit woken Sensitivity Readern zu tun (deren Tun ich mit großer Begeisterung verachte), sondern mit … Insekten. Genauer: einem Insekt.

Einem schwarzen Skorpion.





Der Einstieg geht nämlich folgendermaßen: Blanc wird gegen seinen Willen in die Provence versetzt, in seinem Frust kickt er einen Stein fort – und scheucht damit einen Skorpion auf. (mehr dazu hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2014/05/esmag-vielleicht-etwas-seltsam.html) Tatsächlich war es früher hier genau so. Du hast irgendwo irgendeinen beliebigen Stein angehoben, und schon hob Euscorpius flavicaudis seinen vorwitzigen Stachel und zwei vorwitzige Scheren. Sie waren auch gerne im Haus unterwegs, alte Steinwände und undichte Fenster, hey! Das war nicht lebensgefährlich, sondern alltäglich. Mich hat einmal so ein zwei Zentimeter kurzer Genosse in den Finger gestochen, das fühlte sich an wie eine Kombination aus Wespenstich und Stromschlag. Ein echter Wachmacher, aber nach ein paar Minuten hast du die Sache schon wieder verdaut. (D'accord, wer allergisch reagiert, findet sich vermutlich in der Notaufnahme wieder, aber das gilt leider ja auch für die Wirkung mitteleuropäischer Feld-, Wald- und Wieseninsekten.)

Doch dieses Jahr habe ich noch keinen einzigen Skorpion gesehen. Letztes Jahr auch nicht. Und vorletztes Jahr, glaube ich, auch nicht. Das Foto oben habe ich vor sechs Jahren gemacht...

Wo sind die Biester bloß alle hin? Skorpione, meinte ich irgendwo mal gelesen zu haben, sind neben Ratten die Tiere gewesen, die auf den Pazifikinseln überlebt haben, auf denen testweise Atombomben gezündet worden waren. Zähe Kerle jedenfalls, gedeihen in Wüsten, Regenwäldern, Höhlen und halten es in manchen Weltgegenden auch noch in fünftausend Metern Höhe aus. Wir versprühen im und um das Haus kein Gift, die Bepflanzung hat sich nicht großartig verändert, von irgendwelchen neuen Raubtieren habe ich auch nichts gehört. Aber die Skorpione sind fort.

Wenn man erst einmal darüber nachdenkt, fallen einem dann gleich ein paar andere Tiere ein, die von der mediterranen Bühne auf- oder abtreten. Früher flitzten viele Eidechsen über Wände und Mauern und nur sehr wenige Geckos. Heute sind es ausschließlich (und viele) Geckos. Nicht, dass ich etwas gegen Geckos hätte, im Gegenteil. Die flinken Minisaurier (Die Freundin unseres Sohnes taufte einen „Fridolin“) sind großartig, vor allem im Haus. Ein Gecko im Zimmer, und du hast Ruhe vor Fliegen und Mücken. Ein Gecko in der Küchenspüle, und du musst ganz schön flink sein, um ihn aus dieser Falle wieder zu befreien. Aber was ist aus den ebenfalls insektenvertilgenden und ebenfalls schnellen Eidechsen geworden? (Das ist mir aufgefallen, als ich beim Joggen im Wald eine Eidechse aufgescheucht habe. Da wurde mir klar, dass ich dieses Jahr zuvor bislang noch gar keine … genau.)





Oder das: Meine Liebste und ich sitzen im Spätsommer auf der Terrasse und trinken Espresso. Da bewegt sich etwas auf der Stuhllehne gegenüber – auf den Eisenbögen stolziert eine wirklich stolze, wirklich große Gottesanbeterin herum. Die habe ich als Kind anno Dunnemals mal in irgendwelchen Tierfilmen gesehen. Doch live in der Provence? Vermutlich leben die hier seit Jahrmillionen, aber zumindest in den letzten Jahrzehnten haben sie sich gut vor mir versteckt.

Jetzt jedoch kommen Gottesanbeterinnen zum Kaffeeklatsch.





D'accord, nun reden wir alle wieder über den Klimawandel. Und die Provence wird ja auch immer heißer (siehe hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2021/02/mimose-bluht-der-fruhling-kommt-zu-fruh.html). Aber, verdammt, Skorpione lieben doch gerade Hitze und Trockenheit! Und Eidechsen sind sicher keine Polarbären! Und Gottesanbeterinnen verspeisen Insekten, nicht wahr? Aber gibt es von Beutetieren plötzlich so viel mehr, dass sie jetzt überall jagen? Oder so viel weniger, dass sie sich aus früheren Verstecken hinaus und bis auf unsere Stuhllehne wagen müssen?

Vielleicht bin ich ja zu blöd das zu googeln, doch ich finde keine wissenschaftliche These, etwa zum Verschwinden der Skorpione. Liegt es also an mir? Bilde ich mir das alles bloß ein, weil die Skorpione irgendwo eine Rave-Party feiern und ich habe das als einziger nicht mitgekriegt? Für jeden sachdienlichen Hinweis wäre ich dankbar. Bis dahin kicke ich hin und wieder Steine weg und hoffe, endlich einen alten Bekannten zu treffen.