Dienstag, 18. März 2014

Wilder Spargel aus der Provence

Wenn Du Spargel essen willst - richtig guten Spargel, dessen Geschmack auf Deiner Zunge explodiert wie ein sensorischer Knallfrosch -, dann hast Du in der Provence genau einen Tag Zeit. „Wenn der Spargel reif ist, muss man am Samstag gehen, denn am Sonntag ist er weg“, behauptet eine Bekannte. Denn hier wächst der Spargel wild und in den Wäldern, unter mediterranen Eichen und Pinien.
In den Wäldern, nur wenige Schritte neben dem Haus, lernt der Großstädter mühsam wieder sehen und schmecken. Denn Rosmarin wächst dort beispielsweise im Überfluss, Thymian oder Fenchel. Aus Felsspalten und Mauerrissen wuchern Feigen, deren mürbe, blauviolette Früchte im Sommer, wenn sie reif sind, dem Sammler buchstäblich in die Hand fallen. Im Oktober und November drängen Pfifferlinge aus dem Wurzelgeflecht der Eichen heraus. Man muss das alles bloß sehen können...
Spargel ist ein schüchterneres Gewächs. Die Pflanze breitet ihre feinblättrigen, dünnen Zweige, die fast wie grüne Pfauenfedern aussehen, nur wenige Handbreit, bestenfalls armlang zwischen anderem Gesträuch am Boden aus. Und nur auf trockenem, steinigen Boden. Und nur dort, wo auf winzigen Lichtungen oder unter Lücken im Geäst die meiste Zeit des Tages die Sonne direkt auf sie scheint. Hat man ein Exemplar entdeckt, muss man tief Richtung Erdboden tauchen: Denn manchmal, manchmal (!) wächst wenige Zentimeter neben ihr ein neuer Trieb heraus: kaum bleistiftdünn, mehr oder weniger gerade, blattlos, bekrönt von der typischen Spargelspitze, nur eben winzig klein.
Diese Spitze, leicht abzubrechen oder abzuschneiden, ist der Lohn des Sammlers. Was ihr an Volumen fehlt, macht sie in Geschmack mehr als gut. Nur - finde erst einmal eine! Es ist wie beim Pilzesuchen. Nach einiger Zeit bekommt man einen Blick für vielversprechende Stellen, für typische Formen. Allerdings ist die Spargelpracht rascher vergangen als die der Pilze: Mitte März kommen diese Triebe hervor, am ersten Wochenende, wenn es so weit ist, streifen Kenner durch den Wald. Am Sonntag findest Du nur noch fedrige Pflanzen - und geköpfte Minitriebe.
Wer aber rechtzeitig im Wald ist, wird zum Spargelstecher provenzalischer Art.

Ach ja, ein Rezept: Rührei schlagen, die Wildspargelspitzen in die Mischung geben, das ganze zum Omelette braten. Dazu Baguette und ein Glas Rosé. Gibt keinen Michelin-Stern, aber man möchte beinahe sterben vor Glück.


Donnerstag, 13. März 2014

Eine kleine Stadt in der Provence

Cornillon-Confoux ist eine provenzalische Stadt, die auf einem der letzten Hügel vor dem Mittelmeer klebt: Romanische Kirche aus sandgelben Steinen, eckiger Glockenturm, übereinander gebaute Häuser, und am Horizont flimmert der Étang de Berre wie ein riesiger zerbrochener Spiegel unter mediterraner Sonne. Ein Restaurant, von dem niemand weiß, an welchen Abenden es geöffnet ist. Eine Dorfschule, ein Dorfpolizist, ein Dorfladen, nicht einmal 1400 Bürger, kein Bäcker, kein einziger Cent kommunale Verschuldung. Ein Rathaus. Und um dieses Rathaus wird gekämpft - verbissen, heftig, hinterhältig.
Denn am 23. und 30. März ist Wahl in Frankreich, und in mancherlei Hinsicht ist diese Abstimmung wichtiger als die für das Präsidentenamt oder das Parlament. La Grande Nation leistet sich nämlich etwa 36.000 Gemeinden, dreimal mehr als Deutschland. Davon haben 31.500 weniger als 2000 Bürger. Aber alle, alle haben einen Bürgermeister.
In Cornillon-Confoux treten zwei Kandidaten ein: Der eine ist Anfang Sechzig und der seit zwölf Jahren amtierende Maire, der andere zwanzig Jahre jünger, ein Bauer und Enkel eines früheren Bürgermeisters. Keiner der beiden gehört einer Partei an. Ihre Programme und Parolen verbreiten sie auf Briefen, die man manchmal morgens im Kasten findet. Sie berufen Versammlungen ein, auf denen oft bloß ein Dutzend Leute erscheinen. Sie lassen sich in der Kirche blicken und bei Konzerten des Chores und Vorträgen des Geschichtsvereins. Und niemals, niemals dürfen sie dabei auf benachbarten Stühlen Platz nehmen. Denn ihr Kampf hat nichts von Folklore.
Zwar werden die ideologischen Schlachten des letzten Jahrhunderts um den Hügel von Cornillon-Confoux nicht mehr ausgefochten. Andernorts in Frankreich treten beispielsweise noch kommunistische Kandidaten an mit Parolen, die selbst der späten SED peinlich wären. Doch in der Provence geht es eher um Wasserleitungen und Bebauungspläne, um die Koordination der Buslinien und eine bessere Internetverbindung. Praktische Probleme, die sich einvernehmlich lösen ließen, möchte man meinen.
Stattdessen jedoch beharken sich die Kandidaten mit Vorwürfen, als ginge es um Krieg und Frieden. Üble Geschichten machen die Runde, keiner weiß, wie sie aufkommen, sie werden bloß immer weiter erzählt: Der Bürgermeister soll einem politischen Rivalen, der am Rathaus wohnte, allabendlich gegen dessen Wohnzimmerfenster gespuckt haben, bis der Bespuckte eine kleine Kamera installierte und die Tat filmte. Der Herausforderer soll heimlich dem Front National nahestehen und aus dem Bergstädtchen eine Festung der Rechtsextremen machen. Unfassbare Realtität? Oder unfassbare Verleumdung? Kommt drauf an, wen man fragt.
Es ist ein Kampf ohne Rücksicht auf Verluste, denn dem Sieger winkt kleinfürstliche Macht. Ein Bürgermeister hat in Frankreich ähnliche Kompetenzen wie sein deutscher Gegenpart, Aufwandsentschädigung inklusive. Doch jede Stadt ist zudem eingebunden in ein schier undurchschaubares Geflecht höherer Instanzen. Mehrere Gemeinden formen Verbünde - „Ouest Provence“ im Fall von Cornillon-Confoux. Darüber amtiert der Conseil Général des Départements, darüber die Region. Dazwischen, oft eher in Konkurrenz dazu, beanspruchen die Präfekten und Unterpräfekten ihre seit der Revolution geheiligte Autorität. Gebietskörperschaften regeln darüberhinaus zum Beispiel den Schutz von Flussläufen und der öffentlichen Gesundheit; Jäger, Feuerwehrleute, Gendarmen konkurrieren um die Waldpflege; die quasi-staatliche EDF legt Stromleitungen (oder legt sie eben nicht). Und über allem wacht, regelt und greift ein: Paris.
Innenministerium, Wirtschaftsministeriumn, Kultusministerium, Bildungsministerium regieren bis ins Alltägliche hinein. Als die Regierung etwa von den Massenprotesten gegen die neu geregelte Ehe gleichgeschlechtlicher Paare böse überrascht wurde, beschloss das Bildungsministerium, den „Kampf gegen die Homophobie“ zum Unterrichtsinhalt zu machen. Die fünfjährigen Erstklässler in Cornillon-Confoux müssen seither auf eine Stunde Sport verzichten, um stattdessen Toleranz zu trainieren.
Der Bürgermeister ist Lotse im Strudel der Instanzen. Derjenige, der weiß, wann man beim Präfekten vorsprechen muss, wann im Conseil Général, wann im Vorzimmer des Ministers. Der Gelder loseist, zur Not von der Europäischen Union. Der Sachen ermöglicht, die sonst nie oder in hundert Jahren erst erlaubt werden. Wenn Du die Anschlussverbindungen des Schulbusses zur Nachbarstadt ändern möchtest - frag den Bürgermeister. Wenn du eine Scheune auf einem Feld bauen willst - frag den Bürgermeister. Wenn du eine Sickergrube anlegen musst oder angeln willst oder einen Gesangsverein gründen möchtest oder zum Namenstag des Kirchenheiligen eine Prozession vorbereitest oder ein Fremdenzimmer einzurichten planst - frag den Bürgermeister. Leiht der Bürgermeister dir sein Ohr, wird die Provence zum Paradies. Stellt Monsieur le Maire sich taub, dann hast du ein Problem.
Ein französischer Bürgermeister ist deshalb, residierend im Rathaus, das stets eine Spur zu prachtvoll ist für den Ort, den es verwaltet, ein lokaler Sonnenkönig, ein Patron - und manchmal auch ein Pate. Im Januar 2014 beispielsweise wurde der Maire von Tarascon, ein Gaullist, wegen Korruption zu acht Monaten Haft auf Bewährung und 10.000 Euro Geldstrafe verurteilt.
Wer von den beiden Kandidaten in Cornillon-Confoux also auch gewinnen mag - nach dem bitteren Wahlkampf wird er bittere Feinde haben im Ort. Gräben durchziehen die Stadt, Gräben, die sich mit jeder Präsidenten- oder Parlamentswahl nicht nur vertiefen, sondern sich vervielfältigen, sich ausbreiten wie Risse in der Glasscheibe nach einem Steinschlag.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 hat Marine Le Pen in Cornillon-Confoux 24,24 Prozent der Stimmen geholt, ziemlich durchschnittlich für eine Stadt im Midi. Im Ort wurde der Front National damit zweitstärkste Partei. In manchen ähnlich zerstrittenen Nachbargemeinden reicht das Viertel der Wählerstimmen bereits, um zur stärksten Kraft zu werden.

Und Ende Mai sind Europawahlen.

Der erste Brief aus der Provence

Bonjour,

die Provence ist so schön, dass man sie mit den Augen austrinken möchte. Sie duftet nach Thymian und trockener Erde, sie schmeckt nach Rosé und Olivenöl, und einen römischen Ehrenbogen trennen hier zwei Jahrtausende und doch nur wenige Kilometer vom Grab von Albert Camus. Die Region ist alles - nur keine Idylle. Die Provence kann auch hart und düster sein, und kompliziert ist sie obendrein. Genau das aber macht den Midi nicht bloß angenehm, sondern auch spannend.
Seit einigen Monaten lebe ich in der provenzalischen Heimat meiner Frau, hier werden auch unsere Kinder groß. Anlass genug, hoffe ich, sich hin und wieder auch in Briefen dieser (Wahl-)Heimat zu nähern.
Amicalement,
Cay Rademacher