Cornillon-Confoux
ist eine provenzalische Stadt, die auf einem der letzten Hügel vor
dem Mittelmeer klebt: Romanische Kirche aus sandgelben Steinen,
eckiger Glockenturm, übereinander gebaute Häuser, und am Horizont
flimmert der Étang de Berre wie ein riesiger zerbrochener Spiegel
unter mediterraner Sonne. Ein Restaurant, von dem niemand weiß, an
welchen Abenden es geöffnet ist. Eine Dorfschule, ein Dorfpolizist,
ein Dorfladen, nicht einmal 1400 Bürger, kein Bäcker, kein einziger
Cent kommunale Verschuldung. Ein Rathaus. Und um dieses Rathaus wird
gekämpft - verbissen, heftig, hinterhältig.
Denn
am 23. und 30. März ist Wahl in Frankreich, und in mancherlei
Hinsicht ist diese Abstimmung wichtiger als die für das
Präsidentenamt oder das Parlament. La Grande Nation leistet sich
nämlich etwa 36.000 Gemeinden, dreimal mehr als Deutschland. Davon
haben 31.500 weniger als 2000 Bürger. Aber alle, alle haben einen
Bürgermeister.
In
Cornillon-Confoux treten zwei Kandidaten ein: Der eine ist Anfang
Sechzig und der seit zwölf Jahren amtierende Maire,
der andere zwanzig Jahre
jünger, ein Bauer und Enkel eines früheren Bürgermeisters. Keiner
der beiden gehört einer Partei an. Ihre Programme und Parolen
verbreiten sie auf Briefen, die man manchmal morgens im Kasten
findet. Sie berufen Versammlungen ein, auf denen oft bloß ein
Dutzend Leute erscheinen. Sie lassen sich in der Kirche blicken und
bei Konzerten des Chores und Vorträgen des Geschichtsvereins. Und
niemals, niemals dürfen sie dabei auf benachbarten Stühlen Platz
nehmen. Denn ihr Kampf hat nichts von Folklore.
Zwar
werden die ideologischen Schlachten des letzten Jahrhunderts um den
Hügel von Cornillon-Confoux nicht mehr ausgefochten. Andernorts in
Frankreich treten beispielsweise noch kommunistische Kandidaten an
mit Parolen, die selbst der späten SED peinlich wären. Doch in der
Provence geht es eher um Wasserleitungen und Bebauungspläne, um die
Koordination der Buslinien und eine bessere Internetverbindung.
Praktische Probleme, die sich einvernehmlich lösen ließen, möchte
man meinen.
Stattdessen
jedoch beharken sich die Kandidaten mit Vorwürfen, als ginge es um
Krieg und Frieden. Üble Geschichten machen die Runde, keiner weiß,
wie sie aufkommen, sie werden bloß immer weiter erzählt: Der
Bürgermeister soll einem politischen Rivalen, der am Rathaus wohnte,
allabendlich gegen dessen Wohnzimmerfenster gespuckt haben, bis der
Bespuckte eine kleine Kamera installierte und die Tat filmte. Der
Herausforderer soll heimlich dem Front National nahestehen und aus
dem Bergstädtchen eine Festung der Rechtsextremen machen. Unfassbare
Realtität? Oder unfassbare Verleumdung? Kommt drauf an, wen man
fragt.
Es
ist ein Kampf ohne Rücksicht auf Verluste, denn dem Sieger winkt
kleinfürstliche Macht. Ein Bürgermeister hat in Frankreich ähnliche
Kompetenzen wie sein deutscher Gegenpart, Aufwandsentschädigung
inklusive. Doch jede Stadt ist zudem eingebunden in ein schier
undurchschaubares Geflecht höherer Instanzen. Mehrere Gemeinden
formen Verbünde - „Ouest Provence“ im Fall von
Cornillon-Confoux. Darüber amtiert der Conseil Général des
Départements, darüber die Region. Dazwischen, oft eher in
Konkurrenz dazu, beanspruchen die Präfekten und Unterpräfekten ihre
seit der Revolution geheiligte Autorität. Gebietskörperschaften
regeln darüberhinaus zum Beispiel den Schutz von Flussläufen und
der öffentlichen Gesundheit; Jäger, Feuerwehrleute, Gendarmen
konkurrieren um die Waldpflege; die quasi-staatliche EDF legt
Stromleitungen (oder legt sie eben nicht). Und über allem wacht,
regelt und greift ein: Paris.
Innenministerium,
Wirtschaftsministeriumn, Kultusministerium, Bildungsministerium
regieren bis ins Alltägliche hinein. Als die Regierung etwa von den
Massenprotesten gegen die neu geregelte Ehe gleichgeschlechtlicher
Paare böse überrascht wurde, beschloss das Bildungsministerium, den
„Kampf gegen die Homophobie“ zum Unterrichtsinhalt zu machen. Die
fünfjährigen Erstklässler in Cornillon-Confoux müssen seither auf
eine Stunde Sport verzichten, um stattdessen Toleranz zu trainieren.
Der
Bürgermeister ist Lotse im Strudel der Instanzen. Derjenige, der
weiß, wann man beim Präfekten vorsprechen muss, wann im Conseil
Général, wann im Vorzimmer des Ministers. Der Gelder loseist, zur
Not von der Europäischen Union. Der Sachen ermöglicht, die sonst
nie oder in hundert Jahren erst erlaubt werden. Wenn Du die
Anschlussverbindungen des Schulbusses zur Nachbarstadt ändern
möchtest - frag den Bürgermeister. Wenn du eine Scheune auf einem
Feld bauen willst - frag den Bürgermeister. Wenn du eine Sickergrube
anlegen musst oder angeln willst oder einen Gesangsverein gründen
möchtest oder zum Namenstag des Kirchenheiligen eine Prozession
vorbereitest oder ein Fremdenzimmer einzurichten planst - frag den
Bürgermeister. Leiht der Bürgermeister dir sein Ohr, wird die
Provence zum Paradies. Stellt Monsieur le Maire sich taub, dann hast
du ein Problem.
Ein
französischer Bürgermeister ist deshalb, residierend im Rathaus,
das stets eine Spur zu prachtvoll ist für den Ort, den es verwaltet,
ein lokaler Sonnenkönig, ein Patron - und manchmal auch ein Pate. Im
Januar 2014 beispielsweise wurde der Maire von Tarascon, ein
Gaullist, wegen Korruption zu acht Monaten Haft auf Bewährung und
10.000 Euro Geldstrafe verurteilt.
Wer
von den beiden Kandidaten in Cornillon-Confoux also auch gewinnen mag
- nach dem bitteren Wahlkampf wird er bittere Feinde haben im Ort.
Gräben durchziehen die Stadt, Gräben, die sich mit jeder
Präsidenten- oder Parlamentswahl nicht nur vertiefen, sondern sich
vervielfältigen, sich ausbreiten wie Risse in der Glasscheibe nach
einem Steinschlag.
Bei
den Präsidentschaftswahlen 2012 hat Marine Le Pen in
Cornillon-Confoux 24,24 Prozent der Stimmen geholt, ziemlich
durchschnittlich für eine Stadt im Midi. Im Ort wurde der Front
National damit zweitstärkste Partei. In manchen ähnlich
zerstrittenen Nachbargemeinden reicht das Viertel der Wählerstimmen
bereits, um zur stärksten Kraft zu werden.
Und
Ende Mai sind Europawahlen.
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