Dienstag, 17. März 2020

Covid-19 in der Provence


Nach den Worten von Präsident Macron gestern Abend befindet sich Frankreich im Krieg. Und seit ein paar Minuten gilt Ausgangssperre. Putain, wer hätte gedacht, dass einem so etwas mal in der Provence passieren könnte?
Damit das gleich klar ist: Zu unserer Familie zählen mehrere Ärztinnen und eine Krankenschwester, die ungefähr die Woge sehen, die da auf das Land zurollt. Niemand von uns nimmt das deshalb cool und easy, Macron hat, finde ich, gut und absolut richtig gesprochen. Das klingt für deutsche Ohren immer ein bisschen pathetisch, und die Beschwörung der Union Sacrée wie 1914 ist schon schweres rhetorisches Kaliber. Aber, hey, wenn man sich einmal die Statistiken ansieht und nachrechnet, wie viele Opfer es allein in Frankreich theoretisch geben könnte, dann ist das Gerede vom Krieg plötzlich gar kein Gerede mehr, sondern eine nüchterne Beschreibung dessen, was uns bevorstehen könnte, wenn wir nicht alle ein wenig auf uns und unsere Mitbürger aufpassen.



Also: Masken haben wir nicht, sind längst alle, brauchen wir auch glücklicherweise momentan nicht. Desinfektionslösung: zwei Fläschchen. Vorräte haben wir auf dem Land eh immer, also verzichten wir auf Hamsterkäufe. Allerdings ist uns aufgefallen, dass unserem Hund bald das Fressen ausgehen würde. Also ist meine Frau heute morgen zum Laden nach Lançon gefahren, wo es eigentlich Pferdebedarf gibt, aber auch was für Schnuffi und Mausi. Die haben dort über Nacht einen Drive-in organisiert, McDonalds für Heu und Hundefutter und die Hälfte der Kunden fährt mit Pickups und Geländewagen vor. Dann hat meine Liebste noch schnell Grundnahrungsmittel eingekauft: Baguettes bei der Boulangerie. Dann wollte sie noch tanken.
Erste Tankstelle: leer. Bei der zweiten Tankstelle füllt sie den Wagen – und direkt danach leuchtet ein rotes Warnsignal. Tanke leer. Meine Gattin hatte diese Tankstelle leergeschlürft, weitere werden sicherlich folgen. Vermutlich werden auch die Supermärkte inzwischen in Wüsteneien verwandelt worden sein. Und vermutlich wird ab Mitte dieser Woche alles wieder normal verproviantiert sein, nur wird es dann kaum noch Kunden geben, die die Sachen kaufen, denn wir müssen ja jetzt alle zu Hause bleiben.
Für Frau, Sohn und Tochter gibt’s kein Home Office, die müssen raus und arbeiten. Ich hingegen sitze sowieso immer im Home Office, das war auch in seuchenfreien Zeiten schon so. Insofern ändert sich da wenig. (Und unser Nachbar treibt wie eh und je seine Ziegen in den Wald und Scheiß auf Quarantäne.) Nur unsere Jüngste freut sich über Coronaferien, und ich habe das zweifelhafte Vergnügen, einer pubertierenden Tochter zu erklären, dass sie weiterhin pauken soll. Unterricht gibt’s per Computer, die entsprechenden Webseiten sind teils sofort aufgrund des Ansturms kollabiert. Teils wissen wir nicht, ob diese Seiten kollabieren würden, denn in unserem Tal ist die Internetverbindung so zwanzigstes Jahrhundert (Gefühlt Modemverbindung mit Telefonhörer in Muschel, erinnert sich noch jemand daran?), dass die Lektionen byteweise durch die Kupferleitungen tröpfeln.



Ansonsten? Ruhe mitten im Sturm. Meine nächsten Lesungen in Frankreich und Deutschland haben sich ins Nirwana verabschiedet. Unsere Tochter muss weder zum Tanzen, noch zum Klavierunterricht oder ins Theater gefahren werden. Meine tiefreligiöse Schwägerin muss Catho-TV sehen, denn es werden keine Messen mehr gelesen. Im Bekanntenkreis hat es leider einen (vom Virus ganz unabhängigen) Todesfall gegeben – und sie können nun wohl praktisch niemanden zur Trauerfeier kommen lassen. Meine Frau hat Bücher für die ruhigen Tage bestellt, online, denn die drei Leib-und-Magen-Buchhandlungen der Nachbarstädte sind nun bedauerlicherweise genauso dicht wie Büchereien. (Da fällt mir ein: Wir haben per Mail ein paar Mahnungen bekommen, weil gleich etliche ausgeliehene Sachen fällig sind. Wie bringen wir die bloß zurück?)
Meine Frau arbeitet in einer Behinderteneinrichtung. Da sind über Nacht die Hälfte aller Handdesinfektionsflaschen abhanden gekommen, vermutlich von einer oder mehreren Mitarbeiterinnen gestohlen. Wir haben spontan eine Whats-App-Gruppe, die eigentlich für ganz trivial-praktische Dinge eingerichtet worden war, in eine Art „Geht's-Euch-allen-gut?“-Runde verwandelt. Und wir haben ein PDF-Formular von der Seite des Innenministeriums heruntergeladen, das wir jedes Mal ausfüllen und auf Ehre signieren müssen, wenn wir fortan für Einkäufe, Arztbesuche und die zwei, drei anderen noch erlaubten Exkursionen das Haus verlassen wollen. (Hunderttausend Gendarmen und Polizisten werden die Straßen abpatrouillieren, um zu kontrollieren, dass sich die notorisch undisziplinierten Franzosen auch wirklich an das Ausgangsverbot halten. Jeder, der angehalten wird, muss so eine Erklärung vorweisen können, sonst hagelt es eine Strafe. Das ist die Theorie. Mal sehen, wie das in der Praxis funktionieren wird...)



Zum Joggen, Spazieren- und Gassigehen darf man übrigens auch noch raus, sofern man es alleine tut. Laufen ja, Fußballspielen nein. Promenade ja, Picknick nein. Draußen vom Walde komme ich her, und muss Euch sagen, es ruhet sehr: Ich bin ganz allein durch die Gegend gelaufen. Auf der Route Départementale ist kein Auto gefahren. Und obwohl wir gar nicht so weit vom Flughafen von Marseille entfernt wohnen, kreuzt kein Jet, kein Kondensstreifen mehr den Himmel.
Jetzt arbeite ich und harre der Dinge und höre von draußen die Vögel singen. Sie klingen unglaublich fröhlich – und ein ganz klein bisschen so, als lachten sie uns aus.

Kleines Update, vor allem für die Freunde in Deutschland, denen der Shutdown ja noch bevorsteht:
Tag drei der Ausgangssperre. Einer der wenigen erlaubten Gründe, um sein Haus zu verlassen: Einkaufen! Also lade ich mir von der Seite des Innenministeriums ein PDF-Formular herunter und drucke es aus, eine Art Ehrenerklärung: handschriftlich fülle ich darin Namen, Adresse, Geburtsdatum aus, kreuze an, dass ich Fressalien holen will (weitere Gründe, um das Haus zu verlassen, sind zum Beispiel Arztbesuche oder Hilfe für Familienangehörige), datiere und unterschreibe das. Jedes Mal, wenn ich das Haus in den nächsten Tagen verlassen werde, muss ich selbiges Formular neu ausdrucken und ausfüllen – schöne Sch..., wenn man vor dem Ausnahmezustand die Druckerpatronen nicht nachgefüllt hat...
Gut, mit dem Papier im Auto geht’s zum kleinen Supermarkt der kleinen Stadt nebenan. Gendarmen kontrollieren überall, mein Sohn ist gleich am ersten Tag zweimal angehalten worden. Wenn man das Formular nicht dabei hat, oder die Flics einem den vorgeblichen Grund der Fahrt nicht glauben, hagelt es 135 Euro Strafe.
Bon. Heil zum Supermarkt gekommen, Parkplatz voll wie nie, aber immerhin keine Schlange am Eingang. Die Kunden tragen Einwegplastikhandschuhe, manche auch Masken. Eine Frau hat sich aus buntem Stoff und Gummibändern von Jogginghosen einen ganz eigenwilligen Gesichtsschutz fabriziert. Niemand lacht, klar, überhaupt sagt kaum jemand ein Wort. Zwischen Regalen und Einkaufswagen schiebt man sich mehr oder weniger artistisch aneinander vorbei – ein Meter Abstand, putain! Ein älterer Herr, der mich unbedingt überholen will, hält tatsächlich vorher die Luft an, stürzt sich an mir vorbei und atmet zwei Meter weiter tief ein, als wäre er soeben aus hundert Metern aufgetaucht.
Gefühlt ist – es ist Freitagmittag – bereits die Hälfte der Regale leer, wobei sich seltsame Schlagseiten gebildet haben. Warum ist Müsli ausverkauft, Cornflakes sind es nicht? Warum sind Toastbrote fort, aber noch massig Tüten mit Milchbrötchen und anderem Gebäck da? Warum fehlen Eier, Milch und Joghurt, aber Käse (ausgerechnet Käse in Frankreich!) quillt aus dem Kühlregal? Warum fehlen Nudeln und Reis, aber Couscous wird nicht angerührt? Warum, ja doch, ist tatsächlich auch die letzte Rolle Toilettenpapier weggebeamt? (Verwechseln die Leute Corona- mit Noro-Viren?) Andererseits: Warum sind Obst und Gemüse, also genau die Sachen, die dein Immunsystem stärken, im Überfluss vorhanden? Glauben die Kunden, sie stecken sich mit Tomaten und Orangen an, mit Spaghetti aber nicht? Rätsel über Rätsel...
Kein Rätsel: Beim Drogeriebedarf ist jedes Wässerchen, das auch nur einen Hauch Alkohol enthält, fort: Anti-Pickel-Lotion, das Handwaschgel der Generation Corona.
Während man durch die Regale um Mitkunden Slalom fährt, hallen Durchsagen durch den Markt: mehr und mehr Kollegen sollen die Kassen bemannen. Zwischen diesen Ankündigungen läuft das Mantra der Regierung, eine offizielle Verlautbarung, der du nirgends mehr entkommen kannst, im Fernsehen nicht, im Internet nicht, im Radio nicht und auch nicht im Supermarkt: Hände waschen, Abstand halten...

Vor der Kasse sind mit orangefarbenem Tesaband Ein-Meter-Abstandsmarkierungen auf den Boden geklebt worden – und die Leute halten sich auch daran. (Abgesehen davon, dass jeder hoch beladene Einkaufswagen eh wie eine Barriere wirkt.) An der Kasse bedient mich ein junger Mann, in den anderen Reihen arbeiten seine Kolleginnen. Seine Stimme klingt dumpf hinter der Maske, aber er sagt jedem Kunden freundlich „Bonjour“. Wenn du Helden sehen willst, dann hier: ein Junge, der für den Mindestlohn schuftet und mit Gummihandschuhen und einem Mundschutz vom Baumarkt auf Posten bleibt, wie ein Soldat in der Schlacht.

P.S.: Diesmal gibt’s keine passenden Fotos zum Text, denn Menschen mit Gesichtsmasken und Schlangen vor Apotheken habe ich in den letzten Tagen so viele gesehen, dass es für mein Restleben reicht. Stattdessen: die Provence mal hier, mal dort. Sieht ja auch nicht schlecht aus.