Freitag, 1. Dezember 2017

Genialer Kreisverkehr

Die genialste Erfindung der an genialen Erfindungen reichen französischen Kultur ist ohne Zweifel der Kreisverkehr. In Deutschland pflügen quadratisch-praktisch denkende Tiefbauingenieure Kreuzungen durch die Landschaft, an deren roten Ampeln man dann selbst nachts, wenn nur noch Füchse und Eulen unterwegs sind, endlose Minuten dumm auf der Straße steht. Bestenfalls erdenken sie, wie bei meinem Vater praktisch vor der Haustür, einen Kreisverkehr mit so vielen durch Betonbarrieren unterteilten Ein- und Ausfädelspuren, dass man ein Diplom an der TH Aachen errungen haben muss, um die richtige Ausfahrt aus diesem Labyrinth zu treffen. In Frankreich bauen sie stattdessen seit dem Neolithikum einen Kreisel, um den die Autofahrer wie im Karussell brausen, bis sie, quasi auf natürliche Weise, durch die Fliehkraft an der richtigen Ausfahrt wieder hinausgeschleudert werden.



Der einzige, entscheidende Trick eines jeden rond-point: In dessen Mitte wölbt sich ein kleiner, künstlicher Hügel auf. Der muss höher sein als die Sitzposition der normalen Chauffeure. Wenn man als Autofahrer nämlich wegen dieses Hügels nicht sehen kann, wer alles schon durch den Kreisverkehr flitzt und zugleich jedoch weiß, dass die, die schon drinnen sind, Vorfahrt haben, dann, eh bien, fährt man einigermaßen langsam und vorsichtig in die Spirale ein.
Ungefähr ebenfalls seit dem Neolithikum waren eben jene künstlichen Sichtbehinderungen stets kleine, konische Erdhaufen, auf denen unzerstörbar robustes Gestrüpp wucherte. Seit wenigen Jahren jedoch vollzieht sich, zumindest hier im Midi, eine ästhetische, straßenbautechnische und finanzielle Revolution: Die Hügel in der Mitte der Kreisverkehre werden von den jeweils für sie zuständigen Städten zu, nun ja, Denkmälern? Monumenten? Werbeinseln? Auf jeden Fall zu bizarren Formationen umgestaltet.
In Salon-de-Provence etwa stiert seit ein paar Monaten der örtliche Säulenheilige Nostradamus als metallischer Schattenriss die kreiselnden Autofahrer an. Und wenn keiner vorbeifährt, dann schaut der große Renaissance-Visionär auf einen Möbelladen, einen Citroën-Händler und die Rampen, die zu einer Schnellstraße hinaufführen. Ob das der Wahrsager in seinen verrätselten Prophezeiungen auch irgendwo vorausgesagt hat?



Ein paar Hundert Meter weiter, gleiche Stadt, gleicher Kitsch, prunkt eine monströse, quaderförmige Marseiller Seife auf einem Kreisverkehr, der, zum Beispiel, direkt auf eine Autobahnzufahrt mündet.
Mein Lieblinskreisverkehr wölbt allerdings die D113 auf, eine Route départementale, die von Salon-de-Provence bis nach Marseille führt, wo die Pendler wie die Wahnsinnigen rasen und wo deshalb jedes Jahr mehr Leute sterben als in so manchem Schützengraben des Ersten Weltkriegs. Dort hat die Stadt Lançon (Die dem einen oder anderen geneigten Leser vielleicht aus dem einen oder anderen Roger-Blanc-Krimi bekannt ist.) einen wahrhaft pharaonischen Bau errichtet. (Ich darf das sagen, ich habe kürzlich die Pyramiden gesehen und verkünde hiermit autoritativ, dass selbst Cheops nicht auf die Idee gekommen wäre, einen solchen Kreisverkehr zu errichten.)



Da erhebt sich, im Irgendwo zwischen Olivenbäumen und Feldern und einem Laden für Reiterbedarf, ein Mount Everest des Kreisverkehrs auf. Darauf: Eine natursteinverkleidete Mauer, in der Mitte ein halb geöffnetes, gigantisches schmiedeeisernes Tor, drumherum Grünzeug wie im Park zu Versailles, in den vier Hauptachsen das in den Boden eingelassene Stadtwappen, so groß, dass es noch die Astronauten von der ISS aus sehen können. Das Tor öffnet sich zum blauen Himmel, die Mauer begrenzt nichts als die Luft drumherum und wenn man das Monument aus der Nähe bewundern will, dann müsste man zu Fuß den Kreisverkehr queren, was, siehe oben, latent suizidal wäre und deshalb meines Wissens noch nie jemand gewagt hat.
Da fragt man sich schon: Putain, warum setzen die Städte plötzlich solche Monumente auf ihre Straßen?
Ich habe da eine Theorie, die selbstverständlich vollkommen unsoziologisch ist:
Erstens fördert eine Stadt mit pharaonischen Bauten zuallererst die lokale Industrie. Das gewaltige und gewaltig überflüssige Tor von Lançon etwa wurde von einem örtlichen Schmied gefertigt, und der wird sich das fürstlich bezahlt haben lassen. Das sichert Arbeitsplätze, Gewerbesteuern und im Zweifelsfall die Wiederwahl eben jenes Bürgermeisters, der diesen Kreisverkehr geformt hat.
Zweitens schließen sich gerade alle Städte in gefühlt hundert Kilometer Umkreis zu einer Metropolenregion Aix-Marseille zusammen, einer Art Mega-Großstadt. Praktisch niemand hat dieser von der Regierung in Paris dekretierten Reform zugestimmt, und das ist noch eine Untertreibung. Von den 120 betroffenen Bürgermeistern waren 119 dagegen: Nur der Bürgermeister von Marseille war dafür, dass jetzt alle Gemeinden des Umlands verwaltungstechnisch, vereinfacht ausgedrückt, zukünftig ungefähr so wie außen liegende Stadtbezirke behandelt werden.
Denn die allgemeine, wahrscheinlich und traurigerweise höchst realistische Befürchtung ist, dass, ist erst einmal die Metropole da, alle Gelder aus allen diesen schönen Städten in den korruptionszerfressenen Taschen von Marseille verschwinden werden. Alors: Die Städte haben, bevor die Metropole jetzt per Gesetz über sie gekommen ist, das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen, nein, hinausgeschleudert.
Die kleine Route départementale zwischen unserem Dorf und unserem Städtchen, drei Kilometer den Hügel hoch, ungefähr so breit wie eine Go-Kart-Bahn, ist in den letzten Monaten was-weiß-ich-wieviele-mal aufgerissen, neu asphaltiert, wieder aufgerissen,wieder neu asphaltiert worden. Das lässt sich mit Behördenirrsinn alleine nicht mehr erklären, das muss Methode haben: Lieber vergräbt man seine Euroscheine im Asphalt einer Landstraße, als sie nach Marseille zu überweisen.
Und so hat halt auch jede Stadt in hundert Kilometer Umkreis um Marseille pseudo-antike Ruinen, ausrangierte Militärflugzeuge, metallene Riesenherzen, eingravierte Wahlsprüche, gekünstelte Olivenmühlen und was weiß ich noch auf ihre Kreisverkehre gepflanzt. Hauptsache, das lokal dem Steuerzahler sauer abgeknöpfte Geld wird lokal verbaut und nicht in die verhasste Mafiakapitale investiert.
Drittens, und hier es doch ein ganz klein wenig traurig, müssen auch in der Provence Städte zu Marken werden, es ist der Kapitalismus, Baby! Salon-de-Provence etwa setzt auch deshalb Nostradamus und Riesenseifen an Umgehungsstraßen, weil auf eben jenen Umgehungsstraßen Shopper dahinbrausen. Nur wenige Kilometer weiter nämlich, in Miramas, hat der Bürgermeister eine Village de marques auf die (in der Trockenheit hier nicht so arg) grüne Wiese gesetzt: Ein riesiges Outlet-Center, das sich als provenzalisches Dorf verkleidet hat: Jeder Shop ein pseudo-mediterranes Haus, keine Hundescheiße auf dem Trottoir, Security ist da, und Parkplätze gibt es, dass dir die Augen tränen.
Seit dem Neolithikum weiß jeder, dass solche Shoppingareale dir die Innenstädte töten können. Wer geht in die Boutiquen, zum Bäcker, in die typischen, tollen, großartigen Cafés, Bistrots und Restaurants, wenn er, kostenlos parkend, in eine desinfizierte Neo-Provence eintauchen kann? Leider viele.
Salon-de-Provence ist eine lebendige Stadt, 50 000 Einwohner, eine Burg in der Mitte, schöne Läden drumherum. Aber wenn sie das noch lange bleiben will, obwohl direkt nebenan so ein Konsumententempel hochgezogen worden ist (Mon Dieu, Hunderte Passagiere, die auf Kreuzfahrtschiffen in Marseille ankern, werden mit Bussen direkt in die Village de marques gekarrt! Das ist für diese Touris der Provence-Ausflug des Tages...), dann muss sie halt ... genau: Werbung machen!

Diese Kreisverkehre sind deshalb stolze, laute und vielleicht ein ganz klein wenig verzweifelte Reklametafeln für die Stadt. Das Aufbäumen einer Gruppe unbeugsamer Gallier gegen die Caesaren des globalen Konsumkapitalismus. Ein Akt des Widerstands, gewissermaßen. In diesem Sinne: Bei den nun anstehenden Weihnachtseinkäufen umrase ich Nostradamus, zwinkere ihm zu – und lass mich auf die Straße hinausschleudern, die mich in die Innenstadt führt. Zu den Cafés und Bistrots und, ja doch, auch zu den Ständen des Weihnachtsmarktes.


PS: Falls jemand zufällig gerade Lust auf die Provence hat, gibt es hier aktuell noch schüchterne Anregungen:
http://de.france.fr/de/lektueretipps-fuer-frankreich-fans/rubric/149701/interview-mit-cay-rademacher-tipps-fuer-ihre-provence-reise?btl=1