Freitag, 1. April 2022

Tunnel du Rove bei Marignane / Jules Verne

 Wenn man seit dem einen oder anderen Jahr in der Provence lebt, wird einem irgendwann erstaunt klar: Du lebst im Land von Jules Verne! Selbstverständlich stehen überall antike und mittelalterliche Monumente in der Gegend herum, und etliche Neuzugänge sind auch nicht von schlechten Bauherrn. Doch wenn man sich etwas genauer umsieht, dann stolpert man mal hier, mal dort über Relikte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die ziemlich schräg sind, technisch anspruchsvoll, ästhetisch gelungen und manchmal auch bloß schlicht wahnsinnig. Kurz: Stein und Stahl gewordene Bauten aus der Epoche von Jules Verne. Zeugnisse einer naiv optimistischen und beinahe schreckenerregend tatkräftigen Epoche, in der ein paar Visionäre geglaubt haben, sie könnten mit Dampfkraft, Elektrizität und überhaupt mit Technik die Welt durchmessen – und dann wurden diese Visionen einfach gebaut.

Die Eisenbahn an der Côte Bleue habe ich ja schon mal beschrieben: unfassbare Steinbögen, die Schienen quer durch eine Steilküste tragen. (siehe hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2018/08/wasfallt-einem-spontan-zum-begriff.html)





Aber bei uns im Süden findet sich zum Beispiel auch der Tunnel du Rove, der seinerzeit größte Unterwassertunnel der Welt: mehr als sieben Kilometer lang, mit zweiundzwanzig Meter weiten Bögen, über fünfzehn Meter hoch, vier Meter Wassertiefe. Er führt bei Marignane am Étang de Berre, nah beim modernen Flughafen Marseille-Provence, in die Berge der Chaîne de l'Estaque – und kommt am Mittelmeer bei eben jenem Marseiller Viertel namens Estaque wieder heraus.

Der Tunnel war genau so ein Jules-Verne-mäßiges Projekt. Frachtschiffe fuhren die Rhône hinunter, bis sie via Port de Bouc und einen Kanal in den Étang de Berre gelangten. Problem: Die Frachtkähne sollten eigentlich nach Marseille. Dafür mussten sie lange ihre letzte Etappe vom Étang de Berre bis zur Hafenmetropole über das Mittelmeer zurücklegen. Allerdings stürmt es auf dem Meer heftiger als auf Binnengewässern, auch sind die Wellen höher. Also haben sich irgendwann ein paar Ingenieure gedacht: Zwischen Étang de Berre und Marseille liegt doch eigentlich nur ein Gebirge. Warum sollen die empfindlichen Kähne übers Meer schippern, wenn man doch einen Tunnel durch diese blöden Felsen bohren kann?

Gesagt, getan: Im März 1911 hackten und sprengten sich vor allem italienische, spanische und portugiesische Arbeiter durch den Stein. Ab 1914 sollten dann auch deutsche und österreichische Kriegsgefangene mittun. 2,3 Millionen Tonnen Abraum mussten über die Jahre abtransportiert werden, nachdem man sie zuvor mit 1300 Tonnen Dynamit mehr oder weniger zerlegt hatte. Die Steine hätte man mit einer normalen Dampflokomotive niemals fortschaffen können, denn für ihren Betrieb gab es im Tunnel nicht genug Sauerstoff – also wurde aus Amerika eine Speziallokomotive eingeführt, die mit Pressluft aus riesigen Zylindern beatmet wurde. Trotz aller viktorianischen High Tech sind Dutzende, vielleicht Hunderte Arbeiter hier gestorben, niemand hat sie gezählt, die meisten Gebeine liegen vermutlich noch heute im schlammigen Kanalgrund.





1926 war der Tunnel fertig. Er war so groß, dass sich zwei Frachtschiffe mit je bis zu anderthalbtausend Tonnen Zuladung unter Tage entgegenkommen konnten, ohne diese sehr spezielle Wasserstraße zu blockieren. Bis zu 300 000 Tonnen Fracht wurden fortan Jahr für Jahr durch den Tunnel du Rove transportiert, noch 1962 passierten ihn etwa dreitausend Schiffe.

In der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1963, in einem nun leider Un-Jules-Verne-mäßigen Zeitalter, stürzten allerdings Tausende Tonnen Gestein etwa einen Kilometer nach der Einfahrt bei Marignane durch das Gewölbe, auf dem Berg weit oberhalb des Tunnels senkte sich ein fünfzehn Meter tiefer und fünfzig mal dreißig Meter weiter Krater. Seither ist der Tunnel du Rove der Hades der Provence: Ein Fluss, der in die Unterwelt führt, dann allerdings in tiefster Schwärze vor einer gewaltigen Felsbarriere endet, eine Industrieruine, ein Monument aus im doppelten Wortsinne versunkener Zeit.

Umweltschützer kämpfen seit Jahren dafür, den Tunnel wieder zu öffnen, damit sauerstoffreiches, frisches Meerwasser in den Étang de Berre strömen kann, doch was die Vorväter einfach machten, das schafft heute niemand mehr: Paris hat keinen Plan, kein Geld, keine Energie, keinen Willen, wohl schlicht keinen Bock, das Ding wieder zu öffnen.

Der Tunnel du Rove ist deshalb heute ein beinahe unsichtbarer und reichlich vergessener Einschnitt in einem Villenviertel von Marignane. Verirrt man sich hierher, sieht man zuerst bloß einen verwilderten Grünstreifen, Gräser hoch wie Weizen, Disteln, Ginster. Plötzlich senkt sich eine Böschung wohl fünfzig oder mehr Meter steil nach unten, Kiefern, Wacholder, Büschel mit hohem Bambus krallen sich irgendwie in den Hang, daneben ein Warnschild mit rotem Text: „Danger! Access Interdit – Risque du Chute“





Zuerst erblickt man einen Kanal, das Wasser ist beinahe wellenlos und so grün, als wäre hier Aquarellfarbe in die künstliche Schlucht gekippt worden. Der Kanal führt auf ein Portal wie auf einen Eisenbahntunnel zu, ein gewaltiger Bogen in einem grün überwuchertem Felshang, mit wuchtigen, eckigen An- und Vorbauten zu beiden Seiten. Das Gewölbe ist aus kopfgroßen grauen Steinen gemauert, die Grünspan überzogen hat. Im Innern sind die Steine von Feuchtigkeit schwarz und stellenweise schon versintert. Fingerdünne, hellbraune Stalagmiten haben vom Gewölbe aus ihre Jahrhunderte währende Reise Richtung Boden aufgenommen. Der Tunnel verliert sich nach wenigen Dutzend Metern in vollständiger Schwärze. Auf dem zernarbten Beton der Treidlergänge zu beiden Seiten des Kanals zerfrisst der Rost Festmacherringe und Poller. An einigen Stellen hat herabtropfendes Wasser winzige Sinterhügel gebildet, die im Licht der Taschenlampe gelblich glänzen wie zerlaufener Käse. Der schwere Duft von Süßwasser liegt in der Luft. Es ist kühl und feucht hier - und sehr still. Das sanfte, unaufhörliche Plätschern der Tropfen ist der einzige Laut in dieser vergessenen Welt.

Der Tunnel du Rove steht vermutlich in keinem Reiseführer, und es stimmt ja auch: Es ist verboten und gefährlich, hier hineinzugehen. Aber, hey, verrückt ist es schon. Zwar nicht 20 000 Meilen unter den Meeren, doch immerhin ein paar Meter unter der Chaîne de l'Estaque.

Jules Verne jedenfalls hätte das gefallen.



P.S.: Capitaine Roger Blanc est arrivé en France, enfin! Voilà "Le Mistral Meurtrier". Vive Le Masque, Vive La France!