Was
fällt einem spontan zum Begriff „Provence“ ein? Richtig:
Eisenbahn. Ah ... denn doch nicht? D'accord, in der
Fünf-Millionen-Einwohner Region Provence-Alpes-Côte-d'Azur
verkehren tatsächlich weniger Züge, als auf meiner
Spur-N-Modellbahn im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts. Da
hier zudem Straßenbahnen, U-Bahnen und Busse unbekannt oder zutiefst
verhasst sind und es zu steil und zu heiß ist zum ungedopten
Fahrradfahren, brausen tatsächlich neunzig Prozent der Provenzalen
mit Auto oder Scooter zur Arbeit oder sonstwohin. Das macht unsere
engen Routes départementales zu Kriegsgebieten und die Luft
... ich schweife ab.
Also:
Eisenbahnen. EINE Linie pflügt sich doch durch den Süden, die
selbst Lokführern und Modelleisenbahnern gewisse Freudentränchen in
die Augen treiben kann. Es ist der Regionalzug von Marseille nach
Miramas entlang der Côte Bleue,
etwa anderthalb Stunden Fahrt im graffittibesprühten Rumpelzug,
macht etwas mehr als zehn Euro. (Für Fremde zumindest - Einheimische
fahren, gefühlt, grundsätzlich schwarz.)
Die
Linie wurde im 19. Jahrhundert geplant, ihr Ursprung war hirnrissig.
Frankreich hatte gerade den Krieg gegen Preußen-Deutschland
verloren, und irgendein Großstratege in Paris fiel auf, dass ja beim
nächsten Mal die verdammten Boches
Marseille angreifen könnten. Und Marseille, mon
Dieu, wurde bislang nur
durch eine einzige Eisenbahnlinie versorgt! Eine zweite Linie musste
also her.
Nur,
wo?
So
viel Auswahl gab es nicht, eigentlich blieb nur, die Schienen vom
Knotenpunkt Miramas westlich um den Étang de Berre herum und dann
die Küste hinunter bis zur Hafenmetropole zu verlegen. Kleines
Problem: Von diesen etwa sechzig Kilometern entfielen ungefähr die
Hälfte auf die Côte Bleue, und auf diesem von Calanques
zerfurchteten Meeressaum gab es keine, aber auch gar keine natürliche
Trasse. Die Schienen mussten irgendwie in die Kalksteinfelsen
hineingefräst werden.
1908
begannen etwa 5000 Männer diesen Teil der Arbeit, und er schritt
schon damals so voran, wie auch heute noch alle öffentlichen
Arbeiten im Süden voranschreiten: erst einmal wurde gestreikt. Dann
wurde gestreikt. Und dann wurde zur Abwechslung gestreikt.
(Fairerweise muss man sagen, dass Arbeitsbedingungen und -sicherheit
auf dieser Strecke ein skandalträchtiges Elend waren.)
Kurz:
1914 brach der Erste Weltkrieg aus, die verdammten Boches
könnten sich vielleicht tatsächlich für Marseille interessieren
und diese ebenso verdammte Eisenbahn war immer noch nicht fertig.
Die Arbeiter wurden in die Schützengräben abkommandiert, wo dann
nicht mehr gestreikt, sondern gestorben wurde. Stattdessen schufteten
nun Lastenträger aus Spanien und Steinmetze aus Italien und, tja,
kriegsgefangene deutsche Soldaten an Schienen und Schwellen.
Et
voilà: 1915 bereits war
die Linie plötzlich fertig. Und was für eine Linie... Der
Bauingenieur Paul Séjourné hatte, scheiß auf den Krieg, ein durch
und durch solides und, ja doch, überaus elegantes Werk in die hellen
Felsen der Calanques gezwungen: dreiundzwanzig Tunnel (mit insgesamt
mehr als fünf Kilometer Länge) und achtzehn Brücken, Viaducs
genannt, durchmessen auf etwa halber Höhe die Steilküste. Eine
Linie, als hätte Gott alle diese Felsen einmal mit sicherer Hand und
Wasserwaage schnurgerade und wunderschön waagerecht angeritzt.
Diese
Brücken übrigens sind die allerletzten Großbauten in Frankreich,
die noch mit zurechtgehauenen Steinen gemauert worden sind, nix
Beton, nix Stahl. Elegante Konstruktionen, steinerne Bogenreihen, die
in anmutigen und schwindelerregend hohen Sprüngen Schluchten
überwinden. Séjourné hatte sich dafür berühmte Vorbilder
genommen, den antiken Pons Fabricius aus Rom etwa und den
(bekanntlich nicht hundertprozentig soliden, weil inzwischen teilweise
von der Rhône fortgespülten, dafür sprichwörtlichen) Pont d'Avignon
(Pont Saint-Bénezet).
Heute
scheppern und schaukeln TER Pendler und Badehungrige durch die Côte
Bleue. (Und mehr als ein Boche
ist darunter, wie gut, dass sich die Zeiten geändert haben.) Wer
hinausblickt (sofern kein Sprayer gerade das Fenster zugesprüht
hat), dem öffnen sich, gleich antiken Theatern am Meer, die Buchten
von Méjean und La Redonne, der erhascht mit den Augen die
Fischerkähne von Niolon und L'Estaque, der findet Traumvillen
inmitten von Garrigue-Gestrüpp und Jachtmastenwälder in den Marinas
von Sausset-les-Pins und Carry-le-Rouet. Über eine zwanzig Meter
hohe und drehbare (!) Brücke rauscht der Zug und lässt den Canal de
Caronte unter sich, schließlich lässt er die Tanker und
Containerschiffe der Großhäfen von Fos und Port-de-Bouc links und
die rot leuchtenden Salzseen zwischen Fos und Istres rechts liegen.
Und
überall winzige Bahnhöfe, so total verloren und verlassen und
ausgedörrt von der Sonne, dass man endlich wieder weiß, was
„tiefste Provinz“ eigentlich bedeutet. Denn nur ein-, zweimal die
Stunde beehrt ein TER die Linie und das auch nur so lange, wie die
Sonne scheint. Bahnhöfe, so glutheiß und einsam, hier könntest du
die Revolvermänner eines neuen Spaghettiwesterns dösen lassen.
Außer
Saint-Charles natürlich... Der Hauptbahnhof von Marseille ist halt
ein großer Bahnhof, mit TGV und Imbissen und was du willst. Aber
wenn man hinaustritt, dann stellt man fest, dass man, mais
oui, auf einer Terrasse
steht. Auf einer Terrasse, die hoch und weit über Marseille schwebt,
mit Boulevards unter dir und den alten Gassen, mit
prachtvoll-schäbigen Empire-Bauten, mit der Bonne Mère, die am
Hügel glänzt und, nur als Ahnung und Versprechen, dahinter das
Großen Blau, das Mittelmeer. Gibt es ein schöneres Ende für eine
Zugfahrt?
P.S.: Am 22. Mai 2019 um 18.55 Uhr bringt Arte den Film zum Zug:
https://www.arte.tv/de/videos/074549-000-A/mit-dem-zug-entlang/
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