Dienstag, 17. Mai 2016

Brennender Midi

Für Capitaine Roger Blanc könnte der Herbst in der Provence schöner sein als ein Sommer in Paris: Die, wortwörtlich, mörderische Hitze weicht mildem Septemberlicht und gnädigen Temperaturen. Die endlosen Ferien haben doch ein Ende, der Touristenstrom dünnt aus, die Abendsonne glänzt honiggolden, T-Shirt-Wetter legt sich auf den Midi, die Frauen sind wunderschön und vielleicht ist das Leben doch perfekt.
Eigentlich schade, dass ausgerechnet dann ein Flugzeug vom Himmel stürzt.





Blanc wird in seinem neuen – dem dritten – Kriminalfall mitten in der Nacht in einen Olivenhain gerufen, unter den Mauern der wuchtigen, düsteren Burg von Lançon. Eine kleine Propellermaschine ist in Flammen aufgegangen, und der tote Pilot ist nicht irgendwer: Zwischen Lançon und Salon-de-Provence erstreckt sich, auch im echten Leben, die Base Aérienne 701. Dort werden die zukünftigen Kampfpiloten Frankreichs ausgebildet – und Frankreich ist ein Land im Krieg, dessen Luftwaffe dringend neue Piloten braucht. Es ist einer dieser jungen Pilotenschüler, der, am allerletzten Tag seiner Ausbildung und bei perfekten Bedingungen, zwischen den Bäumen aufgeschlagen ist, beinahe schon in Sichtweite seiner Basis.
Bloß kein Selbstmord! Der Absturz des Germanwings-Airbus in den See-Alpen, praktisch vor der Haustür der Provence, hat die Menschen hier tief schockiert. Die Offiziere der Base Aérienne wollen um jeden Preis verhindern, dass man darüber spekuliert, ob nun auch einer ihrer Piloten geistig so labil ist, dass er sehenden Auges in den Boden gerast ist. Aber wenn es kein Selbstmord sein darf und das Flugzeug technisch in Ordnung war und der Pilot praktisch fertig ausgebildet war und das Wetter schön war – was, putain, war dann die Ursache für den Absturz?


Blanc sowie seine Kollegen Fabienne und Marius ermitteln. Ziemlich rasch erfahren sie, dass es mehr als eine Technik gibt, um ein Flugzeug vom Himmel zu holen. Und dass es mehr als einen Provenzalen gibt, der ein sehr, sehr gutes Motiv hätte, genau dieses Flugzeug vom Himmel zu holen.




Dann geschieht ein zweiter Mord in Lançon. Das Opfer ist ein aus Algerien stammender Landarbeiter, der schon seit Ewigkeiten für den cholerischen Burgbesitzer des Städtchens schuftet – und der exakt in jenem Olivenhain erstochen wurde, in dem auch das Flugzeug aufgeschlagen ist...


Kriege und Katastrophen, das ist nicht wirklich überraschend, machen keinen höflichen Umweg um die Provence, bloß, weil sie so idyllisch ist. In der Schönheit lauert der Tod, und warum sollte das im Midi anders sein? Capitaine Blanc ist gegen seinen Willen von Paris in die Provinz versetzt worden. Und er hat befürchtet, dass dort niemals etwas Wichtiges geschieht. Was für ein Irrtum: Plötzlich ist das ganze Land vielleicht im Krieg und ganz sicher im Ausnahmezustand und der Terror kommt auch in die Provence.


Man kann das als Autor hier schlecht ignorieren: Vor den Schulen unserer Kinder sind Sicherheitszonen eingerichtet worden. (Ein islamistischer Attentäter hat im Süden ja auch gezielt Kinder niedergeschossen.) Schwer bewaffnete Soldaten und Polizisten patrouillieren durch Flughäfen und Bahnhöfe. Und als wir zur Weihnachtsmesse gingen, standen Polizisten mit einem Kampfhund vor dem Portal Wache, um das Gotteshaus vor Anschlägen zu schützen – nicht in Algier, sondern in Salon-de-Provence.


Auf den Terror des IS reagiert die Regierung mit dem Ausnahmezustand. Man möchte gar nicht wissen – nee, nee: eigentlich möchte man es ganz genau wissen, darf aber nicht -, was dem Geheimdienst DGSI jetzt alles so erlaubt ist, was die Agenten tun, was sie planen...
Und auf den Terror des IS reagiert manch gemeiner Franzose mit dem Wahlzettel – in vielen Gemeinden erreicht der Front National inzwischen locker die fünfzig Prozent und mehr. Will heißen: Alle anderen Parteien ZUSAMMEN haben weniger Stimmen als der Verein von Marine LePen.


Mais oui. Gefällt das Roger Blanc? Mais non. Also ermittelt er sich die Nase blutig und das Herz wund (Eine geheimnisvolle Untersuchungsrichterin lässt ihn nicht los und deren mächtiger Gatte läst ihn, auf ganz andere Art, ebenfalls nicht vom Haken.) und die Fiktion ist gar nicht so weit entfernt von der Realität. Blanc schnüffelt im Olivenhain und in der Burg von Lançon herum, die beide sehr real sind – jeder geneigte Reisende kann sich diese und andere Orte des Krimis (von außen) ansehen. Blanc schnüffelt einer verwirrten Frau hinterher, die nachts durch die Wälder zieht und als „Hexe“ verschrien ist und auch das ist höchst real. Blanc schnüffelt auf der realen Base Aérienne herum – die im Roman geschilderte „Taufe“ der Piloten ist ebenso echt wie, nun ja, das Verbot, zum Aperitif Flugmanöver abzuhalten.

Mais oui: Die angehenden Kampfpiloten Frankreichs dürfen im Fall der Fälle Atombomben abwerfen, aber sie dürfen nicht zu jener Stunde über die Köpfe der Nachbarn brummen, während der die halbe Provence einen Pastis schlürft. Anisschnaps schlägt Atombombe, das ist französische Lebensart. Sehr real sind die Schläger, die auf (nord-)afrikanische Landarbeiter Jagd machen, die hämischen SMS-Nachrichten, die sie sich nach der Tat schicken, stammen direkt aus einer sehr realen Ermittlung. Und, das ist nun wahrhaftig keine Überraschung, sehr real ist die Gewalt, ist die ständige Bedrohung, ist auch der für junge Menschen faszinierende Sog, den islamistische Radikale Tag für Tag ausüben.
Kurz: Es ist etwas faul in der Provence. Capitaine Blanc muss sich Dämonen stellen, um seine Wahlheimat zu retten.


Hoffen wir, dass es ihm gelingt.


P.S.: Für die geneigte Leserin, für den geneigten Leser - hier gibt es weitere Informationen zum dritten Fall des Capitaine Roger Blanc: