Mittwoch, 10. Oktober 2018

Wie grün ist die Provence?


Der gewöhnliche Provenzale hinterlässt in freier Wildbahn gerne Spuren – wahrscheinlich, um sein Revier zu markieren. Statt ein Hinterbein am Baum zu heben, werden an strategisch günstigen Stellen Zigarettenkippen, Flaschen, Papiertaschentücher und, vor allem, Plastikbehältnisse aller Art abgelassen. Jäger, die zur Zeit wieder auf jedes bewegliche Ziel ballern, verschönern mit ihren bunten Patronenhülsen selbstverständlich die Landschaft. (Kinder spielen gerne damit, vor allem Jungen. Manchmal verliert ein Waidmann auch mal eine scharfe Patrone...) Mountainbiker werfen die grellbunten Flaschen ihrer Dopingdrinks in sportlichem Schwung während der Schussfahrt ins Gebüsch. Picknickende Kleinfamilien hinterlassen Lichtungen in einem Zustand, wie andernorts in Europa Wiesen nach einem 50 000-Zuschauer-Open-Air-Festival aussehen. Und Bauarbeiter, oft ursprünglich osteuropäischer Abkunft, laden nach vollbrachtem Tagwerk im sanften Dämmer der untergehenden Sonne Betonschutt und Eisenschrott malerisch neben einsamen Landstraßen ab.



Es ist dabei keineswegs so, als ob es bei uns an Robin Hoods aus dem Wald und für den Wald fehlen würde: engagierte Umweltschützer kämpfen hier seit Jahren epische Schlachten für die Natur. Einer der Ihren war sogar eine Zeit lang Umweltminister, aber es ist auch kein Wunder, dass Nicolas Hulot schließlich vor kurzem aufgab, resigniert. Denn schon auf gewissermaßen nationaler Ebene genießt Ökologie nicht gerade oberste Priorität, um es mal vorsichtig zu formulieren.
Dabei wollen wir hier gar nicht jene amour fou zwischen der Grande Nation und ihren tollen Atomkraftwerken nennen, nein, das Elend fängt schon viel simpler an. Glasflaschen zum Beispiel gelten, außer für alle Arten Alkoholika, als überflüssige Aliens – vom Wasser bis zur Cola schwappt jegliches Flüssiges in Plastikflaschen. (D'accord, ein paar Bio-Säfte kriegste auch im Glas und die eckigen Tetrapacks sind ebenfalls ein Nischenprodukt.) Diese Plastikflaschen sind selbstverständlich nicht Pfand, klar. Die sollen in Öko-Containern recycelt werden, zusammen mit Blechdosen und Zeitungen. Oui, oui, bei uns kommen Plastik, Metall und Papier in dieselbe Gelbe, eine Trennung der Wertstoffe auf verschiedene Behälter wäre eine unzumutbare Einschränkung bürgerlicher Freiheiten.
Bon, alors: Diese verdammten Plastikflaschen werden hier millionenfach geleert – und es wird nur jede zweite Flasche recycelt. Im nationalen Durchschnitt. Bei uns im Süden, Département Bouches-du-Rhône, da ist es, na? Nein, noch schlimmer: jede zehnte Flasche... Eine Flasche im Container, neun Flaschen in der Natur, das ist doch mal eine Quote!
Als wir in den mittleren Zweitausender Jahren unsere Ölmühle restauriert haben, wollten wir eine Solaranlage auf dem Dach installieren. Ging nicht. Hat niemand je gemacht, keiner wollte es wagen, die Handwerker haben uns angeguckt, als wären wir bescheuert. Begründung: „Ihr Dach liegt nicht richtig zur Sonne.“ In der Provence! Mon Dieu, wir haben ungefähr einer Millionen soliden, netten, fleißigen Arbeitsmännern erklärt, dass im trüben Hamburg fußballfeldgroße Kollektoren auf Einfamilienhäusern glitzern und da soll fast direkt am Mittelmeer ... vergiss es.
Merde, ich habe mir später einen faltbaren Kollektor besorgt, eigentlich für unsere Outdoor-Touren. Irgendwann habe ich den jeden Tag bei uns auf den Tisch unter die angeblich suboptimale Sonnenstrahlung gelegt, eine große Batterie drangeflanscht und mit dem tagsüber gewonnenen Strom dann wenigstens nachts unsere Handys geladen. Die Leute sehen mich immer noch an, als wäre ich, genau.



Nun haben wir uns ein Elektroauto gekauft. Trotz diverser Abwrack- und sonstiger Prämien noch immer gesichtsverzerrend teuer, aber, hey, irgendwann muss man mal damit anfangen, oder? Ein Smart Forfour, kein Exotenauto, aber wir mussten trotzdem einige Wochen auf ihn warten. Es gab in ganz Frankreich nämlich nur gerade mal fünf auf Lager, davon, klar, kein einziges Exemplar bei uns im Süden.
Es ist ja schon ein paar Leuten vor mir aufgefallen, wie wahnsinnig geil es ist, mit einem Stromer um die Kurven zu flitzen. Dieses Autoscooter-Feeling und diese Stille und diese Beschleunigung und, okay, dafür gibt es die Kollegen der Motorpresse.
Wir rasen jedenfalls damit rum, im ersten Monat tausend Kilometer, fast täglich im Einsatz, und die Leute gucken uns an, als wären wir, na ja, genau. Du fährst zum Beispiel irgendwo hin und ansonsten ganz ernsthafte und kluge Bürger erklären dir dann mit Tremolo in der Stimme, dass so ein Elektroauto überhaupt nicht fahren kann, weil es ja immer liegenbleibt. Und du antwortest: „Aber ich bin doch soeben und vor deinen Augen mit der Karre vorgefahren!“ Und sie sehen dich an, als wärst du...



Also alles hoffnungslos?
Mais non. Frankreich ist bekanntlich das Land der unbeugsamen gallischen Dörfer. Stromer und andere Ökos bilden halt so etwas wie ein gallisches Dorf. Klein, aber Caesar kann mich mal. Eigentlich flitzen hier nämlich schon eine ganze Menge winziger Zoes rum, und futuristische i3s und die schicken Teslas vom schicken Händler aus dem schicken Aix-en-Provence. Täglich werden wir mehr. Und nicht nur in Salon-de-Provence, selbst in unserem winzigen Nachbarstädtchen haben sie inzwischen Stromparkplätze eingerichtet. Nur für uns Gallier, und den Saft aus der Ladesäule gibt's sogar gratis.
Irgendwann werden sie hier auch getrennte Container aufstellen. Irgendwann werden die Gallier die Pfandflasche erfinden. Und irgendwann finden wir auch noch jemanden, der uns einen Solarkollektor auf unser suboptimales altes Dach schraubt.