Donnerstag, 2. Dezember 2021

Die Frauen der Provence

Irgendwann kommt für jeden Mann der Tag, an dem er etwas über provenzalische Frauen schreiben muss. Voilà, dieser Tag ist heute. Nein, kein Satz über Cagole und Arlésienne - außer dem, dass sie Klischees sind und, wie jedes Klischee, dass es sie natürlich in echt gibt. Sprechen wir doch beispielsweise lieber über...

die Postbotin, die uns die Zeitung und hin und wieder gute alte analoge Briefe in den Kasten steckt. Sie hat mir vor ein paar Tagen den Wandkalender angeboten, mit dem die Postbeamten alljährlich Geld sammeln. Ich habe, wie immer, einen gekauft und einen Schein gezückt. Da sieht sie mich spöttisch an und sagt: „Das sind ja nur die Druckkosten!“

Eh bien, also habe ich einen Schein mehr draufgelegt. Wir lachen.





die Blumenhändlerin im Nachbardorf, bei der ich gestern Rosen gekauft habe.

Rosen? Ich gebe Ihnen noch die Karte Je t'aime dazu.“

Très bien.“

Kostet 15.000 Euro.“

Der ganze Laden lacht über mein Gesicht.

die Angestellte im Geschäft für Bürobedarf, wo ich meinen Terminkalender erstehe. (Für die Jüngeren: Das ist im Prinzip ein Ding wie eine App, nur mit Papier und Stift und dafür ohne Akkuprobleme.) Trotz der verdammten Maske erkennt sie mich und hat sich auch den Namen gemerkt. „Sie kaufen hier viel zu oft ein!“ Wir lachen.

meine Bankberaterin, die mich ungefragt anruft, wenn mal wieder zu viel oder zu wenig Geld auf dem Girokonto herumliegt (Gründe siehe oben) und sie mich vor Strafgebühren ihrer eigenen Bank bewahren will. Das ist praktisch immer eine Folge meiner Schlafmützigkeit in finanziellen Dingen, aber sie sagt dazu freundlicherweise bloß: „Ich mache Ihnen einen Vorschlag.“ Und sie lacht.

der Zahnärztin, die trotz Weihnachts- und Coronastress einen Termin für mich freischaufelt, als mir eine Plombe herausgefallen ist. Wegen der C-Sache ist die Praxis geschlossen, jeder Patient muss pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt auf dem Bürgersteig warten und wird dann direkt in den Behandlungsraum geführt, nix Wartesaal. Nachmittags hat die Ärztin nicht einmal eine Sprechstundenhilfe, sie managt das alles ganz allein. In diesem Jahr haben rund um Salon-de-Provence sieben oder acht Praxen dichtgemacht, weil ältere Zahnärzte keine Nachfolger finden (warum auch immer), also wird sie nun überrannt. Bei all dem Druck hat sie auch noch ein schlechtes Gewissen mir gegenüber, weil sie glaubt, dass es ihre Plombe ist, die sich gelöst hat.

Also muss absuderweise der Patient die Ärztin beruhigen: Das war ein uraltes Ding, lange vor ihrer Zeit eingesetzt, und, es ist geradezu peinlich, das zu gestehen, es hat beim Spaghettiessen den Geist aufgegeben. Da hat sie, genau, gelacht.







Als ich, ohne Loch und dafür immer noch heiter, wieder auf der Straße stand, hat der Mistral so geweht, dass seine eisigen Nadeln durch die Kleidung bis auf die Haut stachen. Die Fassaden waren grau. Irgendwo stank es nach Abgasen. Die Leute hatten Krägen, Mützen, Masken vor den Gesichtern und rannten über den Asphalt, als suchten sie Deckung. Und doch war das nicht das Frankreich, das man in den Abendnachrichten sieht. Das ist das Frankreich der freundlichen, klugen, gewissenhaften, aufmerksamen, unbesiegbar fröhlichen Frauen. Und ich habe das Glück, dass ich hier leben darf.

Wenn also jetzt die heiße Phase der kalten Tage beginnt und ich mich im Trubel fühlen werde wie der letzte Passagier der Titanic, der gleich ins Eiswasser springen muss, dann nehme ich mir nicht den Weihnachtsmann zum Vorbild oder das liebe Christkind. Dann denke ich, zum Beispiel, einfach an meine Postbotin.

In diesem Sinne...

Dienstag, 28. September 2021

Der Himmel über der Provence, mal wieder

Ein gerissenes Drahtseil und ein Australischer Hütehund sorgen dafür, dass ich mal wieder in den Himmel gucke und staune. Die Geschichte geht so: Seit ein paar Jahren jogge ich mit besagtem Hund, der auf den Namen Orson hört, morgens durch den Wald hinter unserem Haus. Danach setze ich mich noch auf eine Maschine, um ein paar Eisen zu stemmen. Nun hat bei besagtem Kraftgerät besagtes Drahtseil den Geist aufgegeben, und damit hat die Maschine insgesamt leider die Ewigen Jagdgründe erreicht. Als Ersatz habe ich mir ein Rudergerät besorgt. Damit kann ich nun jedoch so mörderisch anstrengende Programme durchziehen, dass ich davor nicht auch noch joggen will. Da Orson aber tun muss, was ein Hund tun muss, gehe ich halt nun die Runde, die Hund und Herrchen zuvor gehechelt sind.

Und siehe: Mich hat der Himmel wieder!





Denn statt keuchend nach vorne zu starren, damit ich mich nicht in vollem Lauf auf irgendeiner Pinienwurzel zerlege, habe ich nun die Muße, mir das große Blau anzusehen. Meist ist es kurz nach sieben Uhr, ich bin so allein im Dschungel wie der selige Bernhard Grzimek (Meine Generation erinnert sich, die Jüngeren dürfen gerne googeln.) und jedes Mal wieder haut es mich beinahe um, wenn ich mir das Schauspiel über mir anschaue.

Ehrenwort: Ich kenne die Provence jetzt seit mehr als dreißig Jahren, ich lebe im neunten Jahr hier, und nie, aber auch nie sieht man hier zweimal denselben Himmel. (D'accord, eine Übertreibung à la Marseille: Bei Mistral war das Dach über mir vor dreißig Jahren makellos blau und ist es auch immer noch. Aber, putain, zum Glück weht's ja nicht immer mit 10 Beaufort aus Norden!)

Also, Wolken: Manchmal schweben riesige Fächer über das Firmament, manchmal sind's feine Schleier. Es gibt Wolken, die sind schwarzgrau wie verlorene Rauchfahnen aus dem vierten Schornstein der Titanic (das war ein Insider), während der Rest des Himmel blitzsauber glänzt. Andere Wolken wirken, als trügen sie nicht Wasser in sich, sondern Feuer, so glühen sie.





Überhaupt glüht der Himmel, rot, orange, rosa, violett, was du willst. Aus dem Boden wabert Nebel auf, dass Tolkien seine Freude hätte. Und ein paar Minuten später, Orson markiert gerade den nächsten Baum, sieht der Himmel schon wieder total anders aus. Als wäre man auf einen anderen Planeten gebeamt worden, mit anderen Wolken und einer anderen Sonne. Irre.

Und während Orson dann k..., genau, ziehe ich mein Handy und knipse wie ein asiatischer Tourist in der Gegend herum. Sonnenaufgänge! Nebel! Caspar David Friedrich auf Google Pixel. Geht's noch kitschiger? Nö – macht aber ungeheuer viel Spaß...





Ich will nicht das letzte Jahrtausend wiederbeleben und so eine Art virtuellen Dia-Abend veranstalten, respektive die Speicher dieser Welt mit zahllosen Fotos zumüllen. Hier also nur drei Bildchen, damit man eine Ahnung davon bekommt, was für ein Breitwandkino ich jeden Morgen zu sehen kriege – und dafür muss ich bloß hinters Haus gehen.


P.S.: Nein, ich habe keine Filter oder andere digitale Tricks in die Aufnahmen reingezogen. Handy-Schnappschuss im Automatikmodus, dann rauf auf den Computer, nix sonst. Reicht vollkommen.

Dienstag, 13. Juli 2021

Theatre Cote Cour: Theater und Oper Carmen in Salon de Provence

Wir schaffen es in der Provence, dass sich culture auf été reimt, geht ganz einfach – vorausgesetzt, du hast schöne Städte, schönes Wetter, tausend engagierte Leute und ein begeistertes Publikum. Vor allem im Juli (im August sind dann alle erschöpft) empfängt gefühlt jeder Ort „seine“ Künstler. In Arles treffen sich seit Jahrzehnten die Fotografen, in Avignon Theaterschauspieler, in Orange Opernsänger, in La Roque-d'Anthéron die Pianisten (siehe hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2015/08/dienocturnes-von-chopin-klingen-gut.html) Da treten junge, unbekannte, hungrige Artisten auf, aber eben auch jede Menge französische, europäische, Weltstars. Die Festivals in der Provence haben längst einen exzellenten Ruf, und dass man den Sommer im Midi verbringen kann, hilft sicher auch, den einen oder anderen Maestro zum Kommen zu überreden.





In manchen Städten gibt’s dabei Kultur bis zum Delirium. Man kann gar nicht alle Ausstellungen, Konzerte, Aufführungen besuchen. Salon de Provence macht es ein bisschen anders: Drei oder vier Aufführungen binnen einer Juliwoche, und wenn du die verpasst hast, hast du Pech gehabt. (Oder man muss Kultur in einer der Nachbarstädte tanken.) Théâtre Côté Cour heißt unser Festival, gab's heuer zum einunddreißigsten Mal. Letztes Jahr fiel es aus, die Gründe dafür muss man nicht erklären.





Das Konzept: Mitten in Salon steht auf einem Felsen das Château de l'Empéri. Das ist eine ursprünglich mittelalterliche Burg, die aussieht, wie du & ich eine Burg malen würden: Turm, Mauern, viele Zinnen. Mitten in der Festung öffnet sich ein in der Renaissance gestalteter Innenhof. Et voilà: Da stellt man eine kleine Bühne auf, dazu Ränge für, na, ich schätze so zweihundert Zuschauer, schon hat man eine Freilichtbühne, von Zinnen beschützt und über dir funkeln die Sterne. Die Akustik ist besser als in freier Wildbahn und vor dem Mistral schützen dich Mauern, die schon tausend Jahren getrotzt haben.

Auf diese Bretter, die Salon bedeuten, werden Jahr um Jahr französische und europäische Ensembles eingeladen, manche sind Molière-gekrönt, alle sind sehr, sehr gut. Die Gastgeber werden dabei zwar von der Stadt und diversen Sponsoren unterstützt, doch eigentlich ist es eine Truppe von theaterwahnsinnigen Freiwilligen, die das Spektakel organisieren, und abends zwischen den Plätzen haben Oberstufenschüler die Sache im Griff und sage keiner, dass die Kids heute nur noch auf kleine Bildschirme starren.

Es ist alles dabei, was die Bühne hergibt, Drama, Komödie und sogar große Oper.





Wir haben zum Beispiel dieses Jahr Carmen nach der Oper von Georges Bizet genossen. Das Original kriegst du niemals in den Innenhof einer mittelalterlichen Burg. Doch die Truppe Influenscènes hat den Klassiker genial adaptiert und aufgefrischt: Magalie Paliès als singende und Ana Pérez als tanzende Carmen, Benjamin Penamaria als Don José, Kuky Santiago tanzt Flamenco, Luis de la Carrasca singt, José Luis Dominguez an der Gitarre, Jérôme Boudin-Clauzel am Klavier. Sehr spanisch, sehr Flamenco. (Salon kreist in der Umlaufbahn der Camargue, und die wiederum ist die Spielwiese der Gitanes. Deren Gitarrenmusik ist ebenfalls sehr spanisch, sie singen auch auf Spanisch, nicht Französisch, und jeder hört das hier ab dem Krabbelgruppenalter – insofern war das, musikalisch gesehen, ein Heimspiel für die Truppe.)


Tänzer, Musiker, Schauspieler waren so was von froh, dass sie wieder auf der Bühne stehen durften. Und wir erst... Tolles Spektakel, toller Ort, und weit und breit kein besorgt dreinblickender Virologe auszumachen. Du hast das Gefühl, dass du selbst mit Maske vor dem Halbgesicht endlich mal durchatmen kannst. Insofern war die Stimmung schon vor dem ersten Akt fantastisch. Und am Ende kochte die Burg: Standing Ovations und die Künstler haben einfach noch mal getanzt und gesungen und noch mal und noch mal. Leben wie ein zivilisierter Mensch halt, das hatte man ja beinahe schon vergessen.

In diesem Sinne: Einen schönen Sommer!

Mittwoch, 12. Mai 2021

Schweigendes Les Baux, Capitaine Roger Blancs achter Fall

 Capitaine Roger Blanc ist ein erfundener Ermittler, aber seine Fälle sind echt. D'accord, zumindest ein bisschen echt. Ich mag es, wenn er und seine Kollegen Fabienne und Marius Verbrecher jagen, die es tatsächlich gibt. Will sagen: Es ist doch immer wieder schön, wenn man sich von einer realen Untat inspirieren lassen kann.





Roger Blanc und seine Gendarmen werden in „Schweigendes Les Baux“ also zu jenem extrem wilden, romantischen und bekannten Ort in der Provence gerufen. (Mehr zu Les Baux gibt es hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2021/04/les-baux.html) Dort ist ein Mann umgebracht worden, nur scheinbar ein Tourist unter den vielen Touristen hier.





Jedenfalls hat sein Mord offenbar etwas mit einem Verbrechen zu tun, das Frankreich einige Jahre zuvor erschüttert hat. Und dieses Verbrechen hat ein reales Vorbild: Xavier Dupont de Ligonnès (Googelt ihn ruhig, wenn ihr die grausigen Einzelheiten wissen wollt.) löschte 2011 seine gesamte Familie offenbar mit eisigem Herzen und glasklarem Verstand aus und organisierte seine Flucht. Seit April 2011 jedenfalls ist er unauffindbar. Seine letzten Spuren, ein banaler Hotelaufenthalt und eine lächerlich geringe Summe, die er an einem Geldautomaten abhob, führen …, genau, in die Provence. Es sind inzwischen fast tausend Hinweise eingegangen, ich-weiß-nicht-wieviele Gendarmen und Polizisten suchen ihn, haben dafür schon Wälder umgepflügt und ein Kloster gestürmt. Rien. Der Mörder ist fort, als schmorte er bereits in der Hölle. (Auf der Suche nach dem Phantom haben Beamte in der Provence übrigens über die Jahre tatsächlich zwei Skelette gefunden – es sind aber nicht die Gebeine des Täters, sondern die von, tja, von wem auch immer.)

Blanc stolpert also eher zufällig über ein Dupont-de-Ligonnès-ähnliches Verbrechen. Ein Familienkiller, der in der Provence untertaucht und seit Jahren von jedem Radarschirm verschwunden ist. Doch nach und nach erwacht in Blanc der Verdacht, dass der Mörder hier ist, irgendwo in Les Baux...

Es ist aber nicht alles finster. Provence im Februar, das bedeutet: der Frühling ist da! Und Frühling in der Provence bedeutet: die Mandeln blühen! Seit viereinhalb Jahrtausenden (!) werden Mandeln im Midi gepflanzt, gehegt, geerntet. Das heißt, beinahe nicht mehr. Bis in die 1950er-Jahre war Aix-en-Provence gewissermaßen das Zentrum des Mandelhandels. Dann waren die Kalifornier die Chinesen der Fünfziger Jahre: Sie haben einfach billiger produziert und den Markt aufgerollt. Jahre lang standen in der Provence nur noch ein paar einsame Bäume herum, eher als nostalgischer Zierrat, der Mandelbaum blüht wahnsinnig toll, wahnsinnig rosa und halt wahnsinnig früh: Er ist das Zeichen, dass das Leben nach dem Winter wieder erwacht.





Erst seit wenigen Jahren (und mit unfreundlicher Nachhilfe der Trockenheiten und Waldbrände, die Kalifornien verheeren) lohnt sich der Mandelanbau im Midi wieder. Allerdings kostet es einen hoffnungsfrohen Bauern bis zu 25 000 Euro, einen Hektar mit Mandelbäumen zu bepflanzen (die auch nur alle zwei Jahre Früchte tragen), und um profitabel zu sein, muss man mindestens 25 Hektar haben. Mais oui, bei Mandeln geht es um viel Geld. Und Geld ist immer ein gutes Mordmotiv...





Geld war vielen Künstlern schade egal. Van Gogh & Co. haben Mandelblüten als Zeichen der Jugend und der Jungfräulichkeit verherrlicht. Im „Schweigenden Les Baux“ spielt deshalb auch ein Mandelbild meiner früheren und leider viel zu früh verstorbenen Nachbarin Adry Novoli eine nicht unerhebliche Rolle – ohne ihr Bild hätte es weder Mord noch Ermittlungen gegeben. Mehr zu Adry Novoli habe ich hier aufgeschrieben: https://provencebriefe.blogspot.com/2018/03/mankann-nicht-sagen-dass-sich-in-der.html

Ein grausiges neues Verbrechen, ein grausiges altes Verbrechen, Mandeln, eine Malerin, Les Baux und die Provence... Ich hoffe wirklich, dass Ihnen diese Mischung Lust macht. Lust auf einen Krimi. Lust auf Südfrankreich. Lust auf eine Reise in die Ferne. Wir können jetzt alle endlich wieder einen Ortswechsel brauchen, nicht wahr?



Ach ja: Und in der Liebe trifft Roger Blanc endlich einmal keine blöde Entscheidung...


PS: Ab dem 5. Juli gibt es das Buch auch für die Ohren:

https://www.amazon.de/gp/aw/d/B097TVTX1T/ref=tmm_aud_swatch_0?ie=UTF8&qid=&sr=

Freitag, 9. April 2021

Les Baux

 

Bei uns um die Ecke steht eine Burg herum, die auch J. R. R. Tolkien gefallen hätte. Zumindest würde Les Baux ziemlich gut in die Terre du Milieu (mais oui, übersetzt es ruhig...) passen. Im relativ unfinsteren Mittelalter ließ sich eine örtliche Nobelfamilie auf dem letzten Felssporn der Alpilles vor Crau, Camargue und Mittelmeer eine Festung errichten. Baou ist Provenzalisch und bedeutet eben dies: „Felssporn“.





Die Herrn von Les Baux waren zeittypische adelige Schläger, Räuber, Vergewaltiger mit etwas mehr als dem bauartbedingten blaublütigen Stich ins Größenwahnsinnige. Aus Gründen, die nur der liebe Gott allein kennt, hielten sie sich nämlich für Nachfahren von Balthasar, einem der Heiligen Drei Könige. Der, so machte die hiesige Sippe jedermann weis, folgte einst dem Stern von Bethlehem nicht bloß bis zu Jesus, Maria, Josef und der Krippe, sondern bestieg danach den nächsten Flieger und landete, eh bien, genau in der Provence an eben jenem Felssporn. Weshalb es der vielgezackte Stern von Bethlehem ins Wappen von Les Baux schaffte und noch heute auf Flaggen, Museumsbroschüren, Souvenirladenschildern leuchtet. Raimund von Turenne war der berühmteste Schläger von Les Baux, der waghahlsigste Gast war jedoch Peire Vidal.

Der gute Peire wurde um 1175 geboren (im Mittelalter wurden Geburtsdaten oft nur ungefähr, Todesdaten jedoch tagesgenau überliefert) und war ein früher Popstar. Er zählte zum fahrenden Volk der Troubadoure. Diese Sänger waren in Les Baux gerne gesehen, die Burg war ein Zentrum der südfranzösischen Troubadour-Kultur. Die Burgleute ließen sich von den Sängern unterhalten, allerdings fasste Peire den Begriff „Unterhaltung“ etwas zu großzügig auf: Er wurde im Bett der Burgherrin Azalais erwischt und musste Hals über Kopf fliehen, um selbige nicht zu verlieren. (Hals und Kopf, nicht Azalais.)

Die Burg wurde im 11. und 12. Jahrhundert, man kann es kaum anders formulieren, aus dem Berg herausgemeißelt: Wuchtige graue Mauern scheinen aus dem Felsen selbst zu wachsen. Wer durch die Gemäuer streift, erkennt erst oft bei genauem Hinsehen, wo natürliches in Menschenwerk übergeht. Zum Beispiel setzt sich eine Höhle als Gewölbe fort, ein Felsgrat wird zur Mauer, eine Spalte zum Gang – ganz große Steinmetzkunst, nur möchte ich das im Winter nicht heizen wollen.

Später wurde die Burg von ein paar Kriegen, vor allem aber vom Zahn der Zeit zerlegt. Heute ist es eine Ruine, die wirkt, als hätte hier mal eine Herde Orks so richtig die Sau rausgelassen. Die ganze Burg ist gespalten und, wenn man vom Eingang her auf das Plateau tritt, dann ist die linke Hälfte einfach fort: Da ist Luft und sonst nichts. Rechts hingegen werfen sich Mauern und Gewölbe auf und noch mehr Mauern und Gewölbe und noch mehr. Die Ruine ist aus der Ebene schon aus einigen Kilometern Entfernung zu erkennen, so wuchtig beherrscht sie noch immer den Berg. Und ist man erst einmal da, steht man staunend vor und in dem Gewirr zernarbter, rätselhafter, halb verfallener Räume.





Die Anlage ist ein Museum. Heute wird jeder Stein gestriegelt, die Verwalter haben es irgendwie hingekriegt, auf dem nackten Felsboden Lavendelgärten anzulegen, sie veranstalten gelegentlich (also dann, wenn mal kein Virus um die Welt tobt) nicht ganz und gar kitschfreie Mittelalterfeste. Und sie haben einige Belagerungsmaschinen des Mittelalters nachgebaut. Etwa einen gigantischen schwarzen Trébuchet, eine mordsmäßig beeindruckende Steinschleuder, die man auch in Mittelerde … ja, ja, ich höre damit auf. Jedenfalls lernt man viel, wenn man durch die Burg geht. Wenn man nicht zu wackelig auf den Füße ist, lohnt sich der Aufstieg auf die Tour Sarrasine, so ungefähr der höchste noch einigermaßen erhaltene Turm der Festung. Die von Regenfluten und Tausenden Fußspuren ausgetretenen Treppenstufen sind halsbrecherisch (und das ist mal keine Metapher), aber der Ausblick von oben über die Crau ist adelig. Eine weite Ebene in bläulichem Dämmer, der Kragen der Alpilles und in der Ferne ahnt man das Mittelmeer.

Meine Lieblingsstelle ist allerdings ein Tor knapp unterhalb der Tour Sarrasine. Eigentlich ein Burgtor wie du und ich, allerdings fällt das dahinterliegende Vallon d'Entreconque ziemlich steil in die Tiefe. Putain, warum hat man ausgerechnet hier ein Tor hineingebaut, wo man doch kaum den Weg hochkommt? Antwort: Das Tor ist gar kein Tor. Feinde sollten dieses Tor berennen. Und sie sollten es erstürmen. Denn dahinter … lauerte eine Falle. Ein Labyrinth aus Mauern und Bastionen ohne jeden Zugang zur eigentlichen Burg. Angreifer sollten hier hineingelockt werden, damit die Verteidiger sie anschließend aus sicherer Position von oben meucheln konnten. Keine Ahnung, ob der Trick je funktioniert hat, aber ein bisschen pervers ist er schon. Ich stelle mir jedenfalls vor, dass der gute Peire Vidal aus Azalais' Bett bis in dieses Labyrinth gesprungen und von dort aus dem gehörnten Balthasar-Nachfahren entkommen ist. Das wäre irgendwie gerecht.

Aber wann ist Geschichte schon mal gerecht?




Bei Les Baux öffnet sich übrigens das "Höllental" bis zu den "Steinbrüchen des Lichts". Was das ist, steht hier:

https://provencebriefe.blogspot.com/2016/02/dieholle-liegt-unter-den-ruinen-von-les.html


Und versteckt oberhalb der Burg liegt eine noch viel ältere Ruine:

https://provencebriefe.blogspot.com/2019/11/dieserbrief-beginnt-wie-der-vortrag.html

P.S.: Die Corona-Berichte aus Frankreich klingen in deutschen Medien ja manchmal so, als wären wir das Herz der Finsternis und hier würde gerade Ebola wüten. Alors, ganz so schlimm ist es nicht. Seit dieser Woche dürfen alle Menschen ab 55 geimpft werden, womit auch meine Frau und ich dran waren. Das ging problemlos, die Helfer im Impfzentrum waren unglaublich freundlich, und wenn sie das Tempo so durchhalten, sind im Frühsommer alle Süd-, West-, Nord- und Ostfranzosen immun. (Falls keine Mutante sich, beziehungsweise uns totlacht, klar.) Und das klingt doch so, als könnte man Les Baux & Co. bald wieder besuchen!



Dienstag, 16. Februar 2021

Mimose blüht, der Frühling kommt (zu früh)

 Die Mimose ist das sprichwörtliche Weichei unter den Pflanzen, aber der Ruf der Hypersensibilität ist vollkommen unfair. Bei uns steht seit wenigen Jahren jedenfalls eine, die nicht wächst, sondern wuchert – und das, obwohl sie mehr oder weniger ungeschützt vom Mistral umtost wird. Im Winter haben wir Nachtfrost, manchmal kübelt es vom Himmel. Im Sommer brennt die Sonne, gerne ist es mehr als vierzig Grad heiß, und es regnet so selten, wie Trump die Wahrheit sagt. Eh bien, je m'en fiche, dem Baum ist das auch total egal, Du kannst ihm beim Größerwerden zusehen, ist wie bei den Kindern.




Dieses Jahr allerdings, und obwohl wir für provenzalische Verhältnisse einen harten Winter hatten, blüht dieses Teil seit, ungelogen, Mitte Januar vor sich hin. Januar! Vom Hügel gegenüber sieht es aus, als wäre ein riesiger Farbklecks aus dem Himmel vor das Haus geklatscht.

Das ist nur der spektakulärste Frühstarter am Ort. Auf der Wiese leuchten eine Millionen Gänseblümchen. (Oui, in der Provence wächst nicht nur Lavendel, es geht auch zu wie bei Müllers hinter der Terrasse: Gänseblümchen, Löwenzahn, haben wir alles.) Schräg unter den Zypressen stecken wilde Veilchen vorsichtig die violetten Köpfe aus dem Sand. Und im Wald hinter der alten Ölmühle blüht bereits der Rosmarin.



Klimawandel? Tja, what else, Baby? Irgendwie drängt sich alles immer früher ins Freie. Die Kirschen sind gefühlt schon im April reif, der Wein wird im August gelesen, im Oktober fallen einem die Oliven in die Hände. Alles einen Monat früher, als es im Baedeker geschrieben steht.

Die dazugehörenden Insekten schwirren auch schon rum, Fliegen, Marienkäfer; sobald ein bisschen Sonne scheint, tanzen die Mücken über dem Bach. Und heute morgen bin ich beim Joggen mit der Stirn ins erste quer durch die Zweige gespannte Spinnennetz gelaufen. (D'accord, ich weiß: Spinnen sind keine Insekten, aber Ihr wisst, was ich meine.)

Apropos Insekten: Den Luftraum über der Provence durchkreuzen inzwischen asiatische Hornissen, irgendwelche ebenfalls ursprünglich in Covidistan beheimatete und eklig stinkende Wanzen, sowie Tigermücken, die Tropenkrankheiten übertragen können.

Im Meer, sagen Biologen und Taucher, schwimmen seit einigen Jahren Fische und anderes Getier aus den Tropen. Manches ist im Ballastwasser der Schiffe gereist. Andere Wesen sind einfach durch den Suezkanal gepaddelt, weil das Mittelmeer jetzt so hot ist, wie das Rote Meer vor der Klimakrise mal war.




Ob ich das alles gut finden soll? Ich meine, hey, ich mag es, wenn im Januar ein Baum blüht! Und doch: Irgendwie beunruhigt mich es auch. Noch ein paar Jahre, und ich jogge hier an Zebras und Hyänen vorbei...

Freitag, 15. Januar 2021

Schnee und Viren in der Provence

 

Im Weihnachtskrimi „Stille Nacht in der Provence“ habe ich sinngemäß geschrieben, dass es bei uns eigentlich nie schneit – et voilà, kaum kommt der Januar, schon schneit es im Midi...








Wir wachen auf, und alles liegt unter einer feinen weißen Decke. Schnee klebt auf den Buckeln und Vorsprüngen der alten Steinmauern, liegt als Decke über Tisch, Stühlen, Liegestühlen, begräbt die Wiese, glitzert im Bambus am Ufer der Touloubre. Der Himmel ist grau, man sieht kaum ein paar Meter weit, so dicht tanzen die Flocken in der Luft – und so wild, dass ich glauben möchte, sie fallen gar nicht zu Boden, sondern machen Kapriolen in der Luft wie besoffene Kunstflugpiloten.








Über dem Bach steht feiner Nebel. Hier ist es wohl nur etwa 0 Grad kalt, der Schnee klebt wie eine schwere Decke auf der Natur. Als ich mit dem positiv verwunderten (Positiv? Darf man das noch im positiven Sinne meinen?) Hund hinaus gehe, klebt Schnee an seinen Pfoten, an seiner Schnauze, überall. Nur ein paar Dutzend Meter weiter geht es die Hügel hoch. Hier knirscht der Schnee unter den Sohlen, mit jedem Höhenmeter fällt das Quecksilber um ein paar Millimeter.

Ansonsten: Stille.








Kein Auto auf irgendeiner Route Départementale, denn außer Yours Truly mit seinen althamburger Traumata hat hier niemand Winterreifen aufgezogen. Kein Fahrradfahrer. Kein Wanderer. Kein Jogger. Kein Jäger, gepriesen sei Petrus für jede Flocke, die er aus dem Kissen schüttelt! (Ach nee, das war Frau Holle.)

Apropos Jäger: Im Schnee fühlt man sich wieder so wie in den Tagen der Ausgangssperre. Eigentlich besser, nämlich gleicher. Wir haben das in Frankreich nun schon zweimal hinter uns und vielleicht steht uns der nächste Massenhausarrest bald bevor. (Geimpft wird hier viel weniger als in Deutschland, was unter anderem daran liegt, dass die Bürokraten in Paris wie immer alle Franzosen im Allgemeinen und Ärzte wie Krankenschwestern im Besonderen für doof halten und deshalb einen detaillierten Erlass veröffentlicht haben, wie zu impfen sei. Diese Anleitung war leider grotesk falsch, so wurde vorgeschrieben, die Impfspritze in einem spitzen (statt rechten) Winkel anzusetzen und nur dicht unter die Haut zu führen, statt tief in den Muskel. Was insofern egal war, als mit den Impfdosen falsche Spritzen geliefert wurden, mit viel zu kurzen Nadeln. Man könnte denken, im Gesundheitsministerium hatte niemand Zeit, sich auf die bevorstehende Impfkampagne vorzubereiten.)

Eh bien, Schnee ist gerechter als Ausgangssperre, weil er der große Gleichmacher ist. In der echten Ausgangssperre zum Beispiel durfte unsere damals zwölfjährige, kerngesunde Tochter nicht in den Wald (Ansteckungsgefahr, klar). Ein fünfundsiebzigjähriger, übergewichtiger, an Diabetes und Lungenkrankheiten leidender Mann durfte aber sehr wohl dort hinein – sofern er Jäger war und eine Knarre bei sich trug. Damit hat er wahrscheinlich die Viren abgeschossen, so dass Covid ihn nicht erwischte, denn für Waidmänner galt die Ausgangssperre auf einmal nicht mehr. Man hat hier Märkte auf Parkplätzen vor Supermärkten dichtgemacht, aber die Supermärkte dahinter offengelassen. Die Buchläden waren geschlossen, da nicht essenziell – aber Lottoannahmestellen waren offen, da essenziell, jo nich! Du durftest (und darfst immer noch) nicht trotz Maske, Sicherheitsabstand und was-weiß-ich ins Theater oder Kino, aber als ich mit dem TGV von Brüssel nach Aix-en-Provence gefahren bin, saß ich fünfeinhalb Stunden lang Schulter an Schulter mit meinem Sitznachbarn in einem bis auf den letzten Sitz ausgebuchten Waggon.

Dass wir uns nicht missverstehen: Meine Frau ist Krankenschwester, eine Tochter studiert Medizin, in der erweiterten Familie sind leider schon ein paar Leute an Covid gestorben. Ich habe inzwischen sieben Tests hinter mir (meine Nase und die Wattestäbchen sind per „Du“), trage Maske, bis ich mit beschlagener Brille blind durch die Gegend stolpere, bin sehr für Impfungen und harte Maßnahmen – aber ich lasse mich ungern vera... Genau. Die Seuchenpolitik ist manchmal grotesk widersinnig, weil sie eher das Resultat ganz gewöhnlicher Lobbyarbeit ist als vernünftige medizinische Vorsorge. (Jäger haben eine bessere Lobby als Kinder, zum Beispiel, Lotto bringt dem Staat mehr Einnahmen als Bücher, wobei das noch zu beweisen wäre.)

Wo war ich? Schnee. Alors, für ein paar Stunden waren wir wieder alle gleich, jeder in seinen vier Wänden, die Welt war friedlich. Inzwischen ist die weiße Pracht wieder weggetaut, vorgestern haben wir den ersten Kaffee des Jahres draußen getrunken. Dick eingepackt, im Windschatten einer Mauer (der Mistral blies), aber immerhin.

Vielleicht wird 2021 ja doch noch alles gut.