Man
kann nicht sagen, dass sich in der Provence die Maler auf den Füßen
stehen wie Pendler in der Tokioter U-Bahn. Aber hin und wieder läuft
man – zum Glück – auch heute noch dem einen oder anderen
Künstler über den Weg. Und ein noch größeres Glück ist es, ihnen
bei der Arbeit zusehen zu dürfen und Nachhilfe im Hinsehen zu
bekommen: So also fängt man die Farben und das Licht des Midi ein!
(Ich habe es hin und wieder auch probiert, aber bin leider nie über
das Niveau eines äußerst begrenzt talentierten Grundschülers
hinausgekommen.)
Selbstverständlich
verehren wir hier die lokalen Heiligen der Zunft, Giganten wie
Vincent van Gogh und Paul Cézanne etwa, die, indem sie den Süden
malten, gleich auch noch die Kunst revolutionierten. Aber ich will
heute einmal eine ehemalige Nachbarin vorstellen, eine wundervolle
Frau, die ich, da war sie schon krank, in meinen provenzalischen
Anfängen noch kennenlernen durfte.
Adry
Novoli stammt aus einer Familie wie aus einem Film von Pagnol: 1940,
da ist der Krieg gerade verloren und die Wehrmacht hat einen
erheblichen Teil Frankreichs besetzt, wird sie als Adrienne Alberici
geboren, als sechstes von zehn Kindern einer italienischen
Einwandererfamilie in Marseille. Sie wird Schneiderin, heiratet mit
neunzehn Henri Novoli – und bildet sich, da ist sie schon beinahe
dreißig Jahre alt, autodidaktisch zur Künstlerin aus. Ein
Lebensweg, der selbst in diesen dürren Worten so viel Hochachtung
einflößt wie die Karriere eines Astronauten.
Adry
und Henri haben sich ein uraltes, tausendfach verwinkeltes Haus an
der uns gegenüberliegenden Talseite gekauft und mit eigenen Händen
renoviert. Dort im Atelier sind die Ölbilder und Aquarelle
entstanden, mit denen Adry Novoli ab den Siebziger Jahren bekannt
wurde, zuerst in der Region und später, zumindest bescheiden, im
ganzen Land. Sie hat Preise bekommen, war in Galerien und
Ausstellungen vertreten, zuletzt regelmäßig im Salon des
Indépendants in Paris.
Sie
hat gemalt, was sie gesehen hat, oft musste sie bloß vor die Tür
gehen, um ihre Motive zu finden: Mandelbäume im Februar, weißrosa
Schleier in einer noch winterlich braunen Welt. Zypressen neben einem
Mas, wie ausgestreckte schwarzgrüne Finger, die sich neben
einem steinernen Gehäuse aus dem Erdreich drängen. Boote im Hafen
von La Ciotat, und Wasser und Himmel sind so hell und blau und still,
dass Du die Nachmittagshitze spürst. Sie hat auch andere Sujets
gemalt, Bilder aus der Bretagne oder von griechischen Inseln etwa,
Porträts auch und Stilleben. (Einen sommersatten Mohnblumenstrauß
von ihr haben wir meinem Bruder geschenkt.) Aber mir haben es halt
die Landschaftsbilder angetan, wahrscheinlich bin ich ein
rettungsloser Romantiker.
Adry
Novoli ist schon 1996 gestorben, sie hat sich sieben lange Jahre
tapfer gegen eine tückische Krankheit gewehrt. Ihr Witwer lebt noch
heute hin und wieder im Haus, und ihr Atelier sieht aus, als sei Adry
nur mal eben hinunter in ihren Garten gegangen. An den Wänden hängen
einige Werke – und unter einem großen, farbbeklecksten Holztisch
stehen Kisten voller Bilder, klein und groß, Landschaften und
Stilleben, es müssen Dutzende Werke sein.
Noch
immer gibt es hin und wieder Ausstellungen zu ihren Ehren. Adry
Novolis Bilder hängen bei Sammlern der Region. Aber, mon Dieu,
in ihrem Atelier schlummern noch so viele, so herrliche Werke.
Manchmal, wenn Henri da ist und ich Zeit habe und ich denke, dass ich
mich beherrschen kann, gehen meine Frau und ich ins Atelier und sehen
uns diese Schätze an. Schätze, in der Tat... Wir fühlen uns wie
Archäologen, die eine Königskammer öffnen, in die seit
Generationen niemand mehr hineingesehen hat. Und noch seltener, wenn
ich mich nicht beherrschen kann, dann gehe ich rüber, seufze
beglückt und gönne mir nach langer Auswahl ein Bild.
Am
liebsten würde ich sie alle kaufen.
P.S.:
Da wir gerade über Kunst plaudern. In Roger Blancs zweitem Fall in
der „Tödlichen Camargue“ spielt ein kleines Kunstmuseum in
Saint-Tropez eine gewisse Rolle. Dieses Musée Maly ist
herrlich exquisit und hat nur einen winzigen Nachteil: Dieses Museum
gibt es gar nicht. Nope. Nada. Habe ich erfunden. Immer mal wieder
haben mich Leser nach dem Museum gefragt, tja, 'tschuldigung. Jetzt
bereiten sie gerade in New York die amerikanische Ausgabe der „Deadly
Camargue“ vor und schon fragen mich die Lektoren, where the hell
is this museum?
Um
Buße zu tun für alle diese Irreführungen, hier jetzt ein kleines
Museum aus Saint-Tropez. Es ist keine Villa, wie das Musée Maly,
und hier hängt auch kein van Gogh. Dafür ist das Musée de
l'Annonciade in einer ehemaligen Kirche direkt am famosen
Yachthafen der berühmten kleinen Luxusstadt untergebracht. Der
lokale Industrielle Georges Grammont hat in der ersten Hälfte des
Zwanzigsten Jahrhunderts richtig, richtig feine Stücke gesammelt und
danach den Bürgersinn gehabt, seine Schätze der Öffentlichkeit zu
spenden: Voilà, hier hängt L'Orage von Paul Signac,
mit einem Gewitterleuchten, dass Du niederknien möchtest. Ansichten von
Marseille und von Sète von Albert Marquet, die eine tibetanische
Ruhe ausströmen. Zwei Werke von Raoul Dufy nebeneinander, eine Orgie
in Grün und Blau. Dazu schönste Stücke von Georges Seurat, Théo
van Rysselberghe, Pierre Bonnard, Henri Matisse, André Derain,
Georges Braque, Kees van Dongen und und und, es ist einfach eine
Pracht. Alors, das ist zwar nicht mehr die Provence, sondern
die Côte d'Azur, aber: Diese
Kunst ist jede Grenzüberschreitung wert.
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