Arles
ist die kleinste große Stadt der Provence und die jüngste älteste
Stadt obendrein. Klingt, als hätte ich in Arles zu viel Rosé
getrunken? Mais
non.
Die Geschichte geht so: Arles ist ein Propfen auf dem Sumpf, die
letzte Stadt an der Rhône,
bevor sich der Fluss in der Camargue verströmt.
Auf Arelate,
dem „Felsen im Sumpf“, haben schon gallo-keltische Siedler
gelebt, dann Griechen und schließlich die Römer: Julius Caesar hat
hier Hunderte Veteranen angesiedelt, Legionäre, die für ihn
gekämpft hatten und am Ende ihrer Dienstzeit zur Belohnung Land
zugeteilt bekommen haben. Die Römer haben in Arles gemacht, was sie
überall gemacht haben: Amphitheater und Thermen und Foren und Tempel
und was-weiß-ich-noch-alles gebaut, elegant, prachtvoll, technisch
gewagt und mit einer Gewährleistungsfrist von zweitausend Jahren.
Im
Mittelalter war die Gemeinde bedeutender Bischofssitz, Pilgerort –
und Totenstadt. So wundertätige Heilige haben hier gewirkt, dass die
Leute ihre toten Angehörigen in schwimmenden Särgen die Rhône
hinunter treiben ließen, in der Hoffnung, dass eine fromme Hand sie
bei Arles herausfischt und die Gebeine dort auf Les Alyscamps
beerdigt. Schließlich ist dieser Friedhof mit seinen nebeneinander,
aufeinander,
quer-drüber-gelegten-ich-hab-jetzt-auch-keinen-Platz-mehr-Särgen zu
einem Open-Air-Lagerraum der Gewesenen mutiert, an dessen Ende die
Geistlichen eine riesige Kirche errichten wollten. Aber, ach, der
Herr verließ die Frommen, es fehlte Kraft und wohl auch Geld und so
ist dieses Gotteshaus ein Torso geblieben, ein unfertiges, zerbombt
wirkendes, archaisch-wuchtiges Gebäude wie aus einem coolen
Fantasyfilm.
Im
19. Jahrhundert verirrte sich schließlich noch eine ganz andere
gequälte, da aber gerade noch lebende Seele nach Arles: Vincent van
Gogh hat hier etliche seiner schönsten Bilder geschaffen, bevor er
sich in einem kargen Zimmer in Arles sein Ohr ... wissen wir. Zu
seiner Zeit war die in der Antike und im Mittelalter so bedeutende
Stadt allerdings leider schon zum Provinzkaff hinunter gesunken, mit
der Eisenbahn hat der Maler fünfzehn Stunden gebraucht, um von Paris
bis hierhin zu gelangen.
Heute
ist die Stadt, siehe oben, klein (nun ja, relativ klein, wir kommen
weiter unten im Text noch einmal darauf) – einerseits. Die Altstadt
ist ein Gassengewirr am Ostufer der Rhône,
das auch ein fußkranker Tourist in einer halben Stunde durchmessen
kann. Mit allen Vororten zusammen kommt die Gemeinde auf etwas mehr
als 50 000 Einwohner. Andererseits, ah
oui,
andererseits wirkt Arles ungeheuer groß – weil man hier von einem
Monument zum anderen stolpert und mehr davon bestaunen kann, als in
den meisten Metropolen dieser Welt.
Arles
war in der Antike eine richtig hippe Stadt und sogar zeitweise
Hauptstadt Westroms. Hier haben Kaiser residiert, und das ist ja
nicht gerade das, was so jede dahergelaufene Stadt von sich behaupten
kann. Das Amphitheater ist eine Steinschüssel auf dem einzigen Hügel
von Arles, kleiner als das Kolosseum in Rom, aber besser erhalten,
ein graues Oval, eine Orgie geschwungener Bögen in Horizontale und
Vertikale.
Das
antike Theater ist ein erhabener Trümmerhaufen, man glaubt, man
könnte von den obersten Rängen des Amphitheaters gleich bis hierhin
springen, so nah ist das. Die Konstantinsthermen stehen am Ufer der
Rhône,
die Kryptoportiken sind finstere, gruselige, rätselhafte Gewölbe,
die antike Baumeister aus mysteriösen Gründen in den Felsen mitten
unter der Stadt getrieben haben.
Aus
dem Mittelalter grüßt, zum Beispiel, die Kirche Saint-Trophime mit
ihrem steinernen Riesencomic im Portal. Wer hier hindurchschreitet,
der beugt sein Haupt nicht bloß vor Jesus dem Weltenrichter und
diversen Heiligen, der duckt sich auch vor einem herausgemeißelten
Löwen, der einen unglücklichen Mann mit der Pranke niedergeschlagen
hat – und, weiter drinnen im dann doch nicht ganz so friedlichen
Gotteshaus, schlendert man durch einen Kreuzgang, in dessen
Kapitellen halbnackte Nixen ihr Unwesen treiben und gepanzerte
Ritter, die kleine Kinder erschlagen. Und man fragt sich, was die
Mönche wohl einst gedacht haben mögen, die hier singend und betend
durch diese Welt aus Licht und Schatten schritten.
Ich
mag an Arles, dass sie hier nicht einen goldenen Zaun um ihre
Monumente schlingen, sondern einfach weitermachen wie bisher: Im
Amphitheater, beispielsweise, haben sich einst zur Gaudi des
Publikums Gladiatoren niedergemetzelt. Heute stechen Matadore dort
Kampfstiere bei spanischen Corridas ab. (Arles gehörte mal zu
Katalonien, sagt es den Separatisten dort.) Nicht, dass ich diese
Stierkämpfe gut finde (die unblutigen provenzalischen schon), aber
ich finde es halt bemerkenswert, dass eine Riesenschüssel aus Stein
und antikem Mörtel auch nach zweitausend Jahren immer noch zum
ungefähr gleichen Zweck benutzt wird. Zweitausend Jahre!
Im
antiken Theater nebenan geben sie heute Open-Air-Konzerte, was, wenn
man sich das genau überlegt, auch nicht so großartig anders ist als
das, was sie hier zu Augustus' Zeiten dargeboten haben. Und eines der
besten Hotels am Platz ist einfach in den Ruinen eines antiken
Tempels hineingebaut worden, zwei glänzende Säulen stehen noch
heute in jenem Mauerwerk am Empfang, wo man sich anmelden kann, und
so treffen hier antiker Götterkult und Booking.com ganz zwanglos
aufeinander.
Arles
ist, siehe Trümmerliste oben, deshalb so was von alt – einerseits.
Andererseits ist die Stadt wahnsinnig jung. Hier werden Frankreichs,
ja der Welt beste angehende Fotografen an der École Nationale
Supérieure de la Photographie ausgebildet. (Demnächst in einem
ultramodernen Superbau fast direkt neben den steinernen Sarkophagen
von Les Alyscamps.) Jeden Sommer findet hier das berühmte
Fotofestival statt. Und so stolpert man in den Gassen über junge,
kreative, verträumte und auf jeden Fall dezidiert unlangweilige
Fotografen und über Galeristen, die Werke von Newcomern und
Weltstars ausstellen.
Arles
ist darüber, ein Wunder im Paris-zentrierten Frankreich, in den
letzten drei Jahrzehnten zum Weimar an der Rhône
geworden, zu einer kleinen Stadt im Irgendwo, die es irgendwie
geschafft hat, ein Kraftwerk der Kultur zu werden. Actes Sud
residiert zum Beispiel auch hier, ein Verlag, der inzwischen mehr
Bücher (und mehr Nobelpreisträger) vorweisen kann als viele Häuser
an der Seine. Und zu Actes Sud zählen eine wundervolle Buchhandlung,
ein Kino, ein Kulturzentrum und, gewissermaßen, denn die Verleger
haben sie gegründet, eine der wenigen Reformschulen im Midi. Was
Wunder, dass der weibliche Part des Actes Sud besitzenden Paares
schließlich doch nach Paris entfleucht ist: die Verlegerin Françoise
Nyssen ist Kulturministerin unter Macron, und sie ist garantiert
nicht die schlechteste Dame in der Regierung.
Ach
ja, Arles als kleine-große Stadt: zur Gemeinde gehört auch ein
erheblicher Teil der Camargue. Da wohnen zwar nur Flamingos und weiße
Pferde, aber das macht nichts: Mit mehr als 750 Quadratkilometer ist Arles die flächenmäßig größte Stadt Frankreichs
(wenn man die Überseegebiete nicht mit berücksichtigt) und damit
viel, viel größer als dieses Kaff mit dem Eiffelturm...
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