Montag, 28. September 2015

Nemrods, die Jäger der Provence

Nemrods werden die Jäger hier in der Zeitung genannt, doch wie heidnische Gestalten sehen die Waidmänner eher nicht aus. Wenn ein chasseur unter mediterranen Eichen und Gestrüpp herumschleicht, dann meist so: Hohe Stiefel, gerne aus Gummi. Tarnhose und Tarnhemd. Weste. Käppi. Schnauzbart. Doppelläufige Schrotflinte. Viele, viele Patronen. Dazu eine leere Jagdtasche, denn meistens schießt er bloß Löcher in die Luft.
Im September, wenn die Kinder wieder in die Schule gehen müssen, dürfen die Jäger endlich auch Frankreichs weite Natur unsicher machen. Da rollen sie im Morgengrauen (bekommt eine ganz neue Bedeutung, dieses Wort, irgendwie) mit ihren Kangoos auf Parkplätze im Garrigue oder halten irgendwo am Straßenrand. Dann stolzieren sie mit Flinte und Hund durch den Fenchel und weit hallen ihre Schüsse durchs Tal – Schüsse, ja, meist wird der Doppelläufer zweimal gefeuert, denn, siehe oben, die Schrotkugeln schlagen irgendwo ein, nur nicht in das Tier im Visier.
Ab etwa zehn Uhr morgens hocken sie dann in den Bars der Dörfer und sehen in ihren Tarnanzügen aus wie schmerbäuchige Elitekämpfer, die sich der Roten Armee entgegengeworfen haben. Oder eher wie Résistance-Recken, die ein halbes Jahrhundert zu spät gekommen sind und statt auf Wehrmachtssoldaten nun auf Kaninchen ballern.
Extrem verschreckte Kaninchen übrigens, und nicht bloß wegen der Jäger. Denn in Frankreichs Gestrüpp wimmelt es nicht gar so zahlreich, wie es denn nötig wäre, um die Jäger glücklich zu machen. Außerdem haben echte Wildtiere einen nicht zu unterschätzenden Nachteil: sie sind schnell. Und, siehe oben, der Waidmann schielt. Alors?
Also werden kurz vor der Eröffnung der Jagdsaison von praktisch jeder lokalen Jägervereinigung Kaninchen und Fasane und Rebhühner freigelassen. Die sind Monate lang in Gefangenschaft aufgewachsen – und eilen in der Natur nun völlig desorientiert durch die Gegend. Man kann es als Radfahrer oder Jogger ab Ende August sehen: doofe Hühner, ratlose Langohren, leichte Ziele, eigentlich. Zahllose Opfertiere werden bereits in den ersten Tagen von Autofahrern auf den routes Départementales erlegt. Und trotzdem – siehe oben.
Es gäbe auch echte, sogar gefährliche Tiere hier: Wildschweine. Wir haben eine reichlich selbstbewusste Rotte im Tal. Aber, hey, dafür brauchst Du eine Sondererlaubnis des Präfekten, Du brauchst Gewehre mit anderen Patronen, Du brauchst eine größere Gruppe, um die Jagd zu organisieren, nämlich Treiber und Schützen. Also ist im Tal, meines Wissens, kein einziger Keiler erlegt worden in den letzten Jahren. Da ballert man lieber auf Kaninchen und Federvieh und hinterlässt auf den Wanderwegen Hunderte leergeschossene bunte Plastikhülsen.
Ist es dann nicht gefährlich, als Wanderer durch die Natur zu schweifen? Gar mit Hund? Oder, größter anzunehmender Unfall, mit Kindern? Mais oui. Die Jäger sehen Kinder gar nicht gern, zumindest so lange sie nicht auch bewaffnet sind. Selbst am Mittwochnachmittag, wenn die Kleinen schulfrei haben, und auch am Wochenende wird geschossen, dass Feldmarschall Rommel seine Freude hätte. Der schüchterne Einwand, dass man doch wenigstens dann, wenn die Kinder frei haben, einen schusssicheren Tag einführen könnte – in manchen Gemeinden längst Usus -, wird vom Bürgermeister mit der Androhung eines Herzinfarktes beantwortet. Les chasseurs! Sich mit denen anzulegen, das bedeutet quasi lokalpolitischen Selbstmord zu begehen. Es sind gar nicht so viele und sie gehen sehr vielen Leuten auf den Senkel, aber sie sind halt laut und gut organisiert.
Was hilft? Courage. Ich bin während der ersten Jagdsaison nicht im Wald gejoggt, sondern am Rand der Landstraße. Das war, erstens, noch gefährlicher (Autofahrer zielen besser als Jäger.) und, zweitens, feige. Seither laufe ich durch den Wald, wann es mir gefällt. Und siehe, der Herr ist mit den Waldläufern: Immer mehr Familien, Radlergruppen, Wanderer und Jogger stolzieren durch das Grün, längst nicht so desorientiert wie die Karnickel, sondern fröhlich und, vor allem, laut...
Verboten ist das nicht, das Land ist öffentlich. Kein Waidmann darf einen vom Weg scheuchen, sie mustern einen nur hin und wieder unfroh. Langsam, habe ich den Eindruck (oder ich bilde mir das auch bloß ein), kehrt Frieden ein in Frankreichs Auen. In diesem Herbst hat sich das Wochenende der Saisoneröffnung zum ersten Mal nicht mehr angehört wie Stalingrad, sondern bloß noch wie Tombstone. Das mag aber auch damit zu tun haben, dass es geregnet hat. Und bei Regen wird in Südfrankreich nicht geschossen, da geht es direkt in die Bar.
Wird nun alles gut? Tja. Der Nemrod hier pflegt noch eine zweite Passion: ein Schuss – ein Pastis, ein Schuss – ein Pastis. Will sagen: Bei Sonnenuntergang sind viele Tierschläger ziemlich besoffen. Manche wanken dann noch einmal in den Wald, denn in der Dämmerung kommen ja, wie jedermann weiß, die Wildtiere aus ihrer Deckung. Und manche wanken in ihre Kangoos und brausen davon.
Bei der Firma meines Schwagers ist mal ein sinnlos betrunkener Jäger ungebremst durch das Tor geknallt, weil er die Kurve vor der Zufahrt nicht gesehen hatte. Er hat es überlebt, alle anderen auch, obwohl Benzin und Munition im Auto waren.

Und die Firma war die Pumpstation einer Ölpipeline.