Mittwoch, 15. Februar 2023

Seyne les Alpes und Fort Dormillouse in den Alpes-de-Haute-Provence

 An einem Ende fällt die Provence ins Mittelmeer, am anderen Ende geht es hinauf in die Alpen. Flamingos in der Camargue, Rosé, Lavendel und Oliven gehören genauso zum Midi wie einige wuchtige Drei- und Zweieinhalbtausender, ungezähmte Gebirgsbäche und unlilafarbene Kühe auf sattgrünen Almen. Wenn Gattin und Kids Ski fahren wollen (sofern der Klimawandel das noch zulässt, was immer seltener der Fall ist und vermutlich ist es bald ganz damit vorbei) oder wenn wir mitten im Hochsommer erträglichere Tagestemperaturen und kühlere Nächte suchen, dann fahren wir in die Nähe von Seyne les Alpes, Département Alpes-de-Haute-Provence.





Wir wohnen da in einem Kuhdorf (das darf man wörtlich nehmen) und klettern, zur nicht ganz ungeteilten Freude unserer jüngsten Tochter, traditionell zum Fort Dormillouse hoch. Das ist eine alte Festung auf dem letzten Gipfel der Chaîne de la Blanche, einer gewaltigen Felsenmauer zwischen den Tälern von Ubaye (Rafting im letzten ungezähmten Alpenbach, sehr zu empfehlen!) und der Blanche (Wanderwege und im Winter gibt’s eine komplett vereiste und geländerlose Brücke, echt spannend!), die zwischen 1884 und 1886 errichtet wurde. Damals meinte der französische Generalstab nämlich, sich, genau, gegen Italien verteidigen zu müssen. Also errichteten bedauernswerte Soldaten mal hier, mal dort auf Alpengipfeln massige Festungen und bestückten sie mit massigen Kanonen.

Dormillouse thront auf 2505 Meter Höhe. Der Weg hinauf war so schmal, die Serpentinen waren so eng, dass die bedauernswerten Pferde, die eben jene Kanonen gen Gipfel zerren mussten, vor jeder Serpentine abgeschirrt und am gegenüberliegenden Ende der Riesenknarre neu angeschirrt werden mussten, denn man konnte die Geschütze auf der engen Strecke nicht wenden.





Und oben angekommen gab es, eh bien, nichts zu tun und nichts zu schießen. „Dormillouse“ kommt von la Dormeuse, „die Schläferin“, womit, genau, die Murmeltiere bezeichnet werden, die hier leben und, genau, meistens pennen, was das Murmeltier hält.

Die Soldaten sollen sich dort oben so sehr gelangweilt haben, dass sie die Mademoiselles der Umgebung zu Bällen auf der Festung eingeladen haben – die Damen wurden angeblich auf Maultieren nach oben gekarrt, anstrengend ist der Weg nämlich schon.

1928 wurden die letzten Posten abgezogen, seither verfiel das Fort. Italien hat dann tatsächlich Frankreich überfallen, 1940, als die Wehrmacht das Land niederwarf, hat sich Mussolini seinen Teil Südfrankreichs sichern wollen. Da war Fort Dormillouse bereits leer und nutzlos, so etwas nennt man wohl schlechtes Timing.

Jedenfalls kam erst 2002 neues Leben in die alten Kasematten. Seither ist das Gemäuer eine Art Schutzhütte für Wanderer. Und im Sommer macht hier ein Imbiss auf, Baguettes und Getränke kommen einmal täglich nicht mehr mit dem Maultier hoch, sondern auf einem geländegängigen Pickup.





Wir sind gerne oben, weil wir von den ruinierten Wänden einen Fallschirmspringer-ähnlichen Blick auf Berggipfel haben, so wild, als kämen sie direkt aus einem Roman von Tolkien. Auf den unfassbar blauen Lac de Serre-Ponçon.





Und, wenn man sich an einer Stelle über den Rand beugt, auch auf die kleinen Lacs de Col Bas, deren Wasser aufgrund bestimmter botanischer Gegebenheiten so schwarz ist wie das Universum. Dazu umschwirren uns moderne Rieseninsekten: Gleitschirmflieger und Segelflugzeuge, die über unseren Köpfen, aber in den Tälern auch unter unseren Fußsohlen hin und her flitzen. (Segelflugzeuge zischen übrigens ganz schön laut durch die Luft.) Ein irrer Anblick, und dann ist auch unsere pubertierende Tochter wieder versöhnt.









P.S.: Apropos altes Kriegsgerät, das hat jetzt nichts mit der Provence zu tun. „Drei Tage im September“ gibt es nun (endlich!) als Taschenbuch. Die ziemlich verrückte, ziemlich tragische und ziemlich vergessene Geschichte der Athenia, des letzten britischen Schiffes, das vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges England verließ – und die das erste Schiff war, das in eben jenem Krieg von einem U-Boot versenkt wurde, bis zur letzten Koje belegt mit Flüchtlingen, Geschäftsreisenden und ganz normalen Touristen...

Mehr Infos gibt es hier: https://www.dumont-buchverlag.de/buch/tb-rademacher-drei-tage-im-september-9783832166656/