Freitag, 19. Dezember 2014

Weihnachtsbräuche der Provence, moderne Variante

Wie zaubert man weiße Weihnachten bei 15 Grad und milder Nachmittagssonne herbei? Indem man mitten auf dem Pausenhof der école in unserem Städtchen ein infernalisch lautes Gebläse aufstellt, das Seifenschaum auf jeden spritzt, der nicht schnell genug in Deckung springt. Willkommen in der Weihnachtszeit, den tollen Tagen im Midi.




Auf der Weihnachtsfeier der Grundschule unserer Jüngsten stolziert ein Weihnachtsmann durch den schaumigen Matsch. Aus Lautsprechern scheppert Jazzmusik der zwanziger Jahre, noch lauter als das vermaledeite Gebläse. Mütter und Väter helfen den Kleinen, Kerzen mit Heißklebepistolen auf Holzscheiben zu applizieren. Glühweinhauch und Kakaoduft wabern durch die Luft. Und dann stellen sich die Kinder zum Chor auf und singen Lieder und es wird doch noch alles gut.
Die Provence ist uraltes Kulturland. Selbst wenn man mal hochnäsig all die ur- und vorgeschichtlichen Völkerschaften ignoriert und „Kultur“ mit der Antike und dem Guten, Schönen & Wahren beginnen lässt, dann blickt man hierzulande seit den ersten griechischen Siedlern auf mehr als 2500 Jahre Zivilisation zurück. Zweieinhalb Jahrtausende! Zeit genug, möchte man meinen, dass sich Traditionen unauslöschlich tief ins kollektive Unbewusste ätzen.
Doch irgendwie habe ich den Eindruck, und Weihnachten mehr als sonst, dass sich in den vergangenen zehn Jahren ein kognitiver Radiergummi durch das Gedächtnis des Midi gefräst hat. Plötzlich stehen hier überall Weihnachtsbäume herum – und das in einer Region, in der die nächste wild lebende Tanne Hunderte Kilometer entfernt friedlich vor sich hin wächst. In unserem Nachbardorf hat der Gemeinderat an buchstäblich jeder Ecke Tannenbäumchen aufstellen lassen. Die Dinger sehen allerdings so erbärmlich aus, dass ich zuerst an eine deutsche Stadt nach den Feiertagen denken musste: Wenn all die Bäume vor der Haustür auf dem Bürgersteig gammeln, damit die Müllmänner sie mitnehmen...
Wer will – und viele, viele wollen -, der kann sich auch ein Plastikexemplar über den Gabentisch stellen. Das größte gibt's im Gartenladen um die Ecke schon für 699 Euro und das ist kein Tippfehler.
Unser Städtchen gönnt sich eine Festbeleuchtung, deren Girlanden und Sterne noch die Aliens von Proxima Centauri um den Schlaf bringen. Lichterketten baumeln von der Kirche quer über den Platz bis zum Uhrenturm. Wenn es regnet, brauchst du hier keinen Schirm, die Glühbirnen über dir lassen die Tropfen verdampfen. Und an der einsamen Route Départementale neben unserem Haus hängt eine Sternschnuppe, die weiß blinkt. Jedes Mal, wenn ich abends vor die Tür gehe, glaube ich, dass jemand mit dem Blitz fotografiert oder mit einer LED-Taschenlampe hantiert: aus – ein – aus – ein, die ganze, verdammte Nacht lang. Kurz: Die Provence sieht im Dezember so aus, als seien hier drei übergeschnappte Heilige Könige Amok gelaufen.
Dabei muss das gar nicht sein, denn kaum irgendwo ist Weihnachten so schön wie im Midi.
Statt Tannenbaum baut man in der guten Stube und auch in jedem Gotteshaus die crèche auf, die Krippe. Oft ein Erbstück, schon vom Großvater oder Urgroßvater getischlert. Ein Schuppen für die Heilige Familie, mitten in den nachgeformten Gipfeln der Alpilles, und Steinhäuser, Mühlen, Burgruinen, ein Bach und Brunnen dazu.
Du baust diese kleine Welt aus Holz und Ton auf. Danach gehst du in den Wald, kratzt Moos von den Steinen und pflückst Zweige. In der Krippe verwandelt sich das Moos in eine Wiese, der Zweig in einen Olivenbaum.
Bevölkert wird diese Welt von santons, den „kleinen Heiligen“: Marktfrauen, Angler, Jäger, Wäscherinnen, den Menschen der Provence in Trachten des 19. Jahrhunderts. Ein Arzt stolziert herum, der Richter droht, ein Kind führt einen Blinden, eine alte Frau geht, gebeugt, im schwarzen Tuch der späten Jahre. Auch der Priester und sein Vikar fehlen nicht und niemand stört sich daran, dass es diese Berufe in der Nacht von Christi Geburt eigentlich noch gar nicht geben kann.
Je nach Größe der Krippe sind es kleine, bemalte Tonfiguren oder armlange, buchstäblich bis in die Kragenspitzen detailliert gearbeitete Puppen. Krippen gab es schon ewig – also zumindest seit dem Mittelalter - in den Kirchen. Als nach der Französischen Revolution dieser archaische Brauch jedoch zeitweise verboten wurde, bauten sich die Provenzalen heimlich Krippen für ihre Häuser. Die ersten Figuren formten sie aus Brotteig. Heute sind es Kunstwerke aus gebranntem Ton, Stoff und dünnstem Metall, aber die Moden dieser kleinen Heiligen sind noch immer die vergangener Epochen.
Traditionellerweise kauft jede Familie für jedes Weihnachtsfest einen neuen Santon hinzu, so dass man über die Jahre – oder nach einem Erbfall – die Bevölkerung einer Kleinstadt um das Jesuskind versammeln kann. (In Miramas-le-Vieux bieten Santon-Künstler beispielsweise ihre Gestalten an, andere verkaufen sie auf speziellen Märkten, wo man sogar Pétanque-Spieler erstehen kann. Dann schleudert ein Santon seine Boulekugeln Joseph und Maria vor die Füße und die Engel singen dazu.)
Im Dezember wird in manchen Dörfern die Pastorale aufgeführt, eine Art lebende Krippe. Ein Weihnachtsstück, das die Ereignisse der Heiligen Nacht in die Provence versetzt. Jesus wird im Midi geboren. Es sind Schäfer und Bäuerinnen, die dieses Abenteuer im Dialekt oder noch auf Provençal mit drastischen Worten beschreiben und besingen.
Das Festtagsessen ist eine herrliche Völlerei, deren leichtester Gang noch der letzte ist: Treize Desserts beenden den Schmaus, dreizehn Nachtische: Obst, kandierte Früchte, Nüsse, Gebäck, Nougat... Das Mahl wird auf drei weißen Tischdecken serviert, Symbole für den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Und was übrigbleibt, das wird am Abend nicht abgeräumt, damit die verstorbenen Ahnen nachts davon speisen können. Ein Brauch, der verdächtig nach uraltem Heidentum duftet.

Um Mitternacht die Messe: Tausend Jahre alte Kirche, Kerzenlicht, Gläubige, die aussehen wie ihre Santons – und echte Schäfer kommen schließlich von draußen herein, Lämmer auf den Schultern. (Schäfer ist hier ein so normaler Beruf wie Buchhalter, im Midi grasen noch Zehntausende Tiere die Wiesen kurz.) Das schüchterne Blöken weht dann durch das Kirchenschiff, begleitet den Chor, umspielt das Glockengeläut, kommentiert die Predigt - und erwärmt das Herz. In diesem Sinne: Joyeux Noël!

Donnerstag, 27. November 2014

Olympique de Marseille, die größte Religionsgemeinschaft der Provence

Die Anhänger von Olympique de Marseille stellen die größte Religionsgemeinschaft in der Provence. Neulich – ein Sonntag im November, einundzwanzig Uhr, man könnte denken, die Leute hätten Besseres zu tun – wallfahrten mal wieder 55.000 Gläubige zum Stade Vélodrome. Das ultraneue Stadion leuchtet blau wie ein iPad-Spiel und wölbt sich zwischen Wohnblocks auf wie ein Ufo, das in der Mikrowelle weichgekocht worden ist. Das Schmuckstück strahlt mitten in der Mittelmeermetropole, ist die größte Vereinsanlage Frankreichs und wahrscheinlich das einzige „Fahrradstadion“ (so kann man den Namen ungefähr übersetzen), in der man mit einem Fahrrad nicht einen Meter vorankommen würde. Ganz früher, l'OM wurde schon 1899 gegründet, kickten langbehoste Helden mal umzingelt von Rennradbahnen, aber das ist lange, lange vorüber und nur der Name hallt noch fort.
Marseille ist aktuell Tabellenerster. Girondins Bordeaux läuft auf, die Nummer vier. Ein Klassiker. Schlachtgesänge, ein, zwei eingeschmuggelte bengalische Feuer, Fahnen, gefühlte etwa dreißig Gästefans, von Ordnern umzingelt und isoliert auf der Tribüne mit der schlechtesten Sicht. Die anderen 54.970 Zuschauer sind Marseiller wie Du & ich und wenn man alles zusammenrechnet, dann sitzen hier sicher auch 54.970 Jahre Gefängnis auf den weißen Plastikstühlen.



Jubel. Herrliche südfranzösische Flüche, wenn immer ein Ball am Pfosten vorbeistreift. 54.970 Pfiffe, wenn ein Spieler aus Bordeaux die Unverschämtheit besitzt, den Ball zu berühren. Beim Abschlag des Gästetorwarts oder gar bei Fouls hallen Chöre durchs Rund, deren Inhalt man nicht wiedergeben kann, weil dieses Blog sonst von Google ins Nirwana zensiert wird. Die Spieler von l'OM in Weiß, wie es sich für Helden gehört, Girondins Böse spielt selbstverständlich in Schwarz.
Trotzdem 0 : 0 zur Halbzeitpause, putain. Nach der Kabine drehen die Weißen auf, schießen, schießen, schießen – und fangen sich einen sauberen Konter ein. 0:1. Abflauende Schlachtgesänge. Besorgte Blicke auf die Stadionuhr. Eine halbe Stunde vor Ende Tumult vor dem Kasten von Bordeaux. Ich sitze auf der falschen Stadionseite, putain. Was passiert da? Plötzlich ist das Leder im Netz. 1 : 1. Erleichterung links und rechts, für hiesige Verhältnisse gemäßigte Freudenbekundungen. Plötzlich sind die Weißen wach: 2:1! Jetzt ist es etwas lauter im Stadion. 3:1! Jetzt kann man uns bis Paris hören. (Paris ist dieses Dorf, in dem ein paar Scheichs mit Pipelines voller Petrodollar eine Legion unfassbar gut bezahlter Dribbler auf den Rasen schicken. So wie Hoffenheim, nur größer.)
Abpfiff. Heiter und gelassen drängt das Publikum in die 18 Grad laue Novembernacht. Noch immer Erster und Scheiß auf PSG! Es ist nach dreiundzwanzig Uhr. Im Auto brauche ich für die ersten 300 Meter durch die Stadt etwa eine Stunde. Fans überall. Ein Mitfahrer ermutigt uns: „Seid froh, dass l'OM gewonnen hat...“
Mais oui, Olympique de Marseille (das „de“ spricht hier allerdings kein Mensch mit) ist im Midi eine Institution und auch im Rest der Grande Nation beliebter als jeder andere Club. Neunfacher Meister. Frankreichs einziger Champions-League-Sieger, 1993, und Rudi Völler war hier! Mehr Siege, mehr Tore, mehr Stars als irgendwo sonst im Land.
Und mehr Verhaftungen...
Den europäischen Titel umwabern bis heute Gerüchte, dass viele Spieler vor dem Finale in München gegen Mailand gedopt worden sind. 1994 wurden Funktionäre überführt, ein Liga-Spiel verschoben zu haben. Zwangsabstieg in die Zweite Liga. Beinahe-Pleite. Das Comeback in Ligue 1, im letzten Jahr wieder Champions League. (Über die Ergebnisse dort, äh, schweigen wir besser.) Und nun: Wieder Verhaftungen.
Mitte November wurde praktisch die gesamte Vereinsspitze von der Justiz geköpft: Untersuchungshaft für den amtierenden Präsidenten Vincent Lebrune und seine beiden Vorgänger sowie mehrere Geschäftsführer und andere Manager – und zwei Kickboxer, die „Sicherheitschefs“ von l'OM sind. Der Vorwurf: Bei Millionentransfers von Spielern – wie vom Stürmer André-Pierre Gignac, der auch gegen Bordeaux wieder zugeschlagen hat und der aktuelle Gott im Stade Vélodrome ist - sei auch das eine oder andere Milliönchen in ganz andere Kassen geflossen. Zum Beispiel in die von dubiosen „Agenten“ der Profis. Man munkelt gar: Auch in die Kasse der Marseiller Mafia...
Nach 24 Stunden waren die meisten Helden wieder auf freiem Fuß, das Verfahren aber läuft weiter. Ob sie verurteilt werden? Nicht sicher. Ob was dran ist? Aber klar, hey, das hier ist Marseille! Fußball ist Big Business und Big Business ist in Marseille immer auch Big Crime. In Marseille haben sich nach Unfällen schon die Besatzungen verschiedener Krankenwagen um das Opfer geprügelt, weil es für jeden Verletzten in jedem Krankenhaus Prämien gab. Die staatliche Krankenversicherung zahlt schließlich jedem Hospital pro Verletzten einen Betrag, ein Teil davon ging als Kick-back an besonders eifrige Rettungssanitäter. Neapel, sieh dir das an und werde neidisch! (Die Fanschals von l'OM und Napoli sind übrigens so ähnlich, dass du dir den einen wie den anderen um den Hals schlingen kannst, egal, in welches Stadion du läufst. Verschwörungstheoretiker, macht euch an die Arbeit! Das hat doch was zu bedeuten?) Wenn du im Krankenhaus über das organisierte Verbrechen stolperst, dann wirst du doch nicht erwarten können, dass dir im Fußballstadion niemand ein Bein stellt, oder?

Im übernächsten Jahr ist übrigens Europameisterschaft in Frankreich. Im Stade Vélodrome wird es garantiert super Spiele geben. Tolle Stimmung. Und alles sauber. Dafür wird die Fifa schon sorgen, deren Funktionäre sind ja schließlich nicht korrupt.

Freitag, 3. Oktober 2014

Chancre Coloré, der Killer der Platanen

Im Herbst fallen anderswo die Blätter von den Bäumen – bei uns fallen dieses Jahr die Bäume selbst. Uns hat der chancre coloré heimgesucht, der Fluch der Provence.
Die Geschichte geht so: Es war einmal eine schöne Landschaft, in der schöne und nicht so schöne Monarchen von Ludwig XIV. bis zu Napoleon III. entlang von Straßen, Flüssen, Kanälen und Zufahrten Platanen pflanzten. Und so wölben im Süden, vom Canal du Midi bis nach Aix-en-Provence, lange Reihen turmhoher Bäume Kathedralendächer aus Laub über Wanderer und Süßwasserkapitäne. Grün und golden fließt das Licht durch die Blätter, silbergraugelb schimmert die altersfleckige Rinde, köstlich ist der Schatten an einem Sommertag. Die einzigen, die je über diese Pracht geflucht haben, sind die Autofahrer, die in Alleen, die in der Postkutschenzeit gepflanzt worden sind, regelmäßig die Rückspiegel ihrer überbreit ausgewucherten Fahrzeuge himmeln. (Und es fluchen die stolzen Besitzer, die solche Platanen auf dem eigenen Grundstück wiederfinden, jeden Herbst über einen Himalaja an unverrottbaren papierbraunen Blättern.)
Doch, ach, 1940 kam die Wehrmacht ins Land, 1944 kamen die Amerikaner, um die Deutschen wieder zu vertreiben. Und mit den GIs kamen Granaten und diese Granaten steckten in hölzernen Transportkisten und in diesem Holz steckte Ceratocystis platani, ein winziger Pilz, der kurz zuvor erstmals überhaupt in Nordamerika bemerkt worden war.
Chancre coloré befällt ausschließlich Platanen und zerstört nach und nach im Innern des Stammes das wasserführende System: Ungefähr drei bis sieben Jahre nach einer Infektion mit Sporen schält sich die Rinde ab, der Stamm verfärbt sich ins Violette, die Blätter segeln vorzeitig von den Ästen. Nach einem weiteren Jahr Todeskampf ist auch der größte Baumriese ausgetrocknet und erledigt. Der Pilz wird unterirdisch von Wurzel zu Wurzel weitergereicht und seine Sporen reisen mit dem Wasser der Flüsse und Kanäle und vielleicht übertragen sie sogar die Vögel, die von Zweig zu Zweig flattern. Kann man den Baum schützen? Nein. Kann man einen befallenen Baum retten? Nein. Der Pilz ist das Todesurteil – oft genug auch für die Platanen nebenan. Denn um den Unhold wenigstens langsamer durch die Provence wüten zu lassen, haben die Präfekten angewiesen, dass auch gesunde Bäume in unmittelbarer Nähe, ja eigentlich alle Exemplare im Umkreis von 35 Metern um einen Maladen der Kettensäge zum Opfer fallen.
Jedenfalls sehen am Canal du Midi Baumreihen aus, als hätten sie vor einem Exekutionskommando gestanden. In Städten und noch an entlegenen Routes départementales sind, der schieren Zahl nach, ganze Wälder verdorrt. 50 000 Platanen sollen allein in Südfrankreich schon vernichtet worden sein.

Wir haben eine Platanenallee, Platanen hinter dem Haus, eine – eine einzige (!) - Platane am Fluss, der unser Grundstück begrenzt. Diese eine Platane, ein zweihundert Jahre alter Riese mit Zwillingsstamm, scheinbar so gelassen und ewig wie die Zeit selbst, verfiel plötzlich im letzten Jahr. Hat der Fluss die Pilzsporen in seine Wurzeln gespült? Haben Arbeiter, die Unterholz am Ufer ausdünnten, ihre Werkzeuge nicht desinfiziert? (Denn auch verseuchte Sägen können den Schädling von Baum zu Baum tragen.)
Wir mussten den sterbenden Baum jedenfalls letztes Jahr niederlegen. Und nun? Nun hat es die drei Platanen hinter dem Haus erwischt, deren Wurzelwerk wohl bis zu jenem ersten Opfer reichte. Und wieder klettern extra angeheuerte Spezialisten (sie haben im Midi viel zu tun und Wartezeiten wie Schönheitschirurgen) als kettensägenbewehrte Affen durch das Geäst und legen die Giganten mit Hilfe eines Kranwagens um. Sie legen sie auf Spezialmatten, sie behandeln das Holz mit Spezialchemikalien, sie transportieren die Reste bis auf das letzte Blatt mit Speziallastwagen fort. Aus den Stämmen der Riesen müffelt es schon faulig, der Odem des violetten Todespilzes.

Nun haben wir viel, viel Licht um das Haus – und eine Sorge mehr: Was, wenn auch jetzt der Pilz nicht gestoppt ist? Wenn er den ersten Baum der Allee erreicht? Wenn auch dort ein Zweihundertjähriger nach dem anderen unter den Sägeketten fällt? Das kostet nicht bloß Unsummen Geld, es tut auch in der Seele weh, diese stummen Hausgenossen am Boden zu sehen.

Wir beratschlagen jedenfalls schon, welche Bäume wir neu pflanzen werden. Entschieden ist noch nichts, nur das: Platanen werden es nicht sein, leider.

Dienstag, 9. September 2014

Course Camarguaise: der provenzalische Stierkampf

Wenn ein Kampfstier vor Zorn brüllt, dann klingt das, als würde in der Ferne ein Kampfjet starten: Ein dumpfes Grollen, nicht besonders laut, nicht ungewöhnlich tief, ein wenig heiser, berstend vor Energie und sehr, sehr aggressiv. Nur steht das Tier eben nicht irgendwo am Horizont, sondern zwei Meter unterhalb meiner Schuhsohlen. Willkommen in Eyguières bei der neunten „Trophée des Alpilles“, einer course camarguaise, dem Stierkampf der Provenzalen!




Wohl kaum eine Sportart hat eine derart zerhackte Saison wie diese: Erst im Frühjahr staubt in den Arenen der Sand auf, dann folgt die allen Franzosen (außer Rennradfahrern) geheiligte unendlich lange Sommerpause, schließlich prasseln schon die Finale innerhalb weniger Wochenenden Anfang September auf die Fans ein. Dann ist das Spektakel verweht wie ein Traum in einer schwülen Nacht.
Ein Spektakel, das sich in den Städten und Dörfern um Camargue und Crau zuträgt und nigendwo sonst in der Provence. In den noch von den Römern errichteten Amphitheatern von Arles und Nîmes etwa, in modernen Anlagen wie in Istres – und in gänzlich unspektakulären Arenen in gänzlich unspektakulären Kleinstädten, wie zum Beispiel dem kaum tausend Zuschauer fassenden, ein wenig bröckeligen, ein wenig betagten Zementoval von Eyguières, das um ein halbes Dutzend alte Platanen herum gebaut worden ist, so dass das Publikum im Blätterschatten auf Betonbänken sitzt, die man auch in die Bunker des Atlantikwalls hätte einbauen können.
Die weite, bizarre, wilde Sumpflandschaft der Camargue ist der Brutplatz der Mücken, der Flamingos – und der manades, der etwa 150 Herden schwarzer Rinder, die von berittenen gardians, den Cowboys des Midi, zusammengetrieben werden. Wenn sie denn zusammengetrieben werden. Meistens ziehen die Herden unbewacht über Gras und Schlick, so frei wie die Büffel Afrikas. Keine Ställe, keine Zäune, keine Melkmaschinen - und die Kühe bekommen ihre Kälber dort, wo es ihnen gerade passt.
Einige von den niedlichen Kälbern allerdings werden von Züchtern innerhalb von zwei, drei Jahren zu Kampfstieren herantrainiert, nachtschwarze, bis zu 350 Kilogramm schwere Gebirge aus Muskeln und Knochen, klug, die Sinne nicht von generationenlanger Viehwirtschaft degeneriert, die nach oben geschwungenen, spitzen Hörner so lang wie der Arm eines Mannes. Die Kolosse beschleunigen aus dem Stand so schnell wie eine Moto-Cross-Maschine und sie springen auch beinahe so hoch: Manche Tiere überwinden 1,60 Meter hohe Zäune aus starken Brettern und Eisenpfosten.
Ein furchterregender Gegner für den raseteur, den provenzalischen Stierkämpfer, der nicht mit einem roten Tuch herumfuchtelt, der keinen Degen trägt, der nicht herumstolziert wie ein spanischer Gockel, sondern der dem Kampfstier in der Arena gegenübertritt, bewaffnet mit nichts anderem als seinen flinken Füßen und bloßen Händen. Beinahe bloßen Händen.
In der, oft zum Schutz bandagierten, Hand hält ein raseteur den crochet, eine Art vierzinkigen, mit Klingen gespickten, etwa zehn Zentimeter langen Kamm, ohne den er kein raseteur wäre. Denn das ist sein Ziel: Den Stieren sind Kokaden, sehr feine Bänder, um die Wurzeln der Hörner geflochten worden, direkt über dem wolligen Kopffell. Mit dem crochet muss der raseteur versuchen, diese Kokaden aufzutrennen – sie also vom Kopf des Stieres zu stehlen. Damit er überhaupt auf Armlänge an das zornige Tier herankommt, hat jeder raseteur einen Sekundanten, den unbewaffneten tourneur. Der versucht, den Stier auf sich zu lenken, damit sich sein Kollege heranschleichen, einen günstigen Moment abwarten und dann mit rascher Bewegung die Kokade stehlen kann.
Für jede gelöste Kokade gibt es Punkte. Mehrere raseteurs treten immer zusammen in der Arena gegen einen Stier an, bis dem entweder alle Kokaden abgenommen worden sind, oder aber, bis er erschöpft ist. Dann wird das Tier hinausgeführt, ein frisches Tier kommt herein – und weiter geht der wilde Tanz. Die Männer in weißen Hemden, weißen Hosen, weißen Schuhen (nur ihre auf den Rücken gestickten Namen sind andersfarbig: blauschwarz für die raseteurs, rot für ihre tourneurs) tanzen ein wildes Ballett mit dem Stier in ihrer Mitte, springen ihm an den Kopf, springen fort, springen wieder heran, wieder fort. Wer am Ende eines Nachmittags die meisten Punkte hat, ist Tagessieger. Wer die meisten Punkte über die Kampfsaison gesammelt hat, gewinnt das Finale. So einfach ist das.
Im Prinzip.
In Eyguières sitzen wir in der ersten Reihe, vor uns ein Geländer aus massivem Stahlrohr. Zwei Meter tiefer die Arena: Ein Oval aus gelbem Sand, in das sich nur langsam die Platanenschatten fressen. Die Hitze flirrt. Zwischen dem Betonrund der Zuschauerränge und den Sand steht eine Palisade aus massiven, rot gestrichenen Balken in eisernen Pfosten, die dahinter nur einen schmalen Gang für die Betreuer freilässt. Und für die raseteurs, die sich hierhin zurückziehen können.
Um 16.15 Uhr ziehen Demoiselles in den Trachten von Arles ein, Mädchen, junge Frauen, Matronen, stolz und fröhlich und elegant. Kinder mit Hüten. Alte, die Maultiere führen. Schnelle Rhytmen von einer Kapelle rotbefrackter Zirkusmusiker. Traditionelle Tänze. Applaus für die raseteurs, die Hemden und Hosen noch so weiß, dass es in den Augen schmerzt.
Das wird sich ändern.
16.30 Uhr. Scheppernde Lautsprecherdurchsagen. Musik. Ein Gatter mit der Aufschrift „Toril“ wird zurückgeschoben – und der erste Kampfstier stürmt in die Arena, ein junger Kerl, verwirrt, zornig, kampfdurstig. Dann springen die raseteurs und ihre Sekundanten über die Palisade.
Sie schreien, schlagen auf die Balken, pfeifen, rufen den Namen des Stiers. Der stürmt los. Die raseteurs stieben davon, Sand spritzt auf, die Männer spurten zur Palisade, nur Zentimeter trennen ihre Rücken von den Hörnern des verfolgenden Tiers, sie springen auf das Holz und von dort zu den Stahlrohren des Betonovals, in fließenden Bewegungen, mit der blinden Sicherheit von Affen im Geäst, während das Biest wütend den Kopf in die Balken rammt, dass sich die Hörner rot färben von der abplatzenden Farbe des Holzes. So hängt, nur ein paar Handbreit vor mir, plötzlich ein keuchender Mann am Gestell und wartet, bis sich der Stier einem neuen Ziel zuwendet, bevor er sich wieder hinunterwagt, zurück in die Arena.
Es ist ein archaisches Ritual, Weiß gegen Schwarz, Mensch gegen Tier, eine Mutprobe, eine Herausforderung des Glücks, eine Huldigung an die Beherztheit der Männer und die Kraft des Stiers. Manchmal reißt ein raseteur die Hand triumphierend empor – das Zeichen dafür, dass er eine Kokade abgenommen hat. Die Bewegung ist so schnell, das Band um das Horn so fein, dass ich erst an dieser Geste und also stets zu spät den Erfolg erkennen kann.
Zuerst werden die jungen Stiere in die Arena geschickt, später folgen die erfahrenen. In Pélissanne, ganz in der Nähe, wo am gleichen Tag ebenfalls ein Kampf stattfindet, ehren sie Tassou, der das letzte Mal angetreten ist – ein schwarzer Gladiator mit zehn Jahren Kampfgeschichte. Den älteren Tieren sieht selbst ein Laie wie ich die Erfahrung an. Die stürmen nicht mehr blind auf den Sand, sobald sich das Tor öffnet. Die rennen nicht hierhin und dorthin und verausgaben sich in der Hitze, bevor auch nur der erste raseteur über die Barriere springt. Die erfahrenen Kämpfer traben bis in die Mitte der Arena und nehmen mit erhobener Schnauze Witterung auf. Mit klugen, schwarzen Augen mustern sie das Rund. Man hat das Gefühl, nur einen Herzschlag lang, dass das Tier einen aufs Korn nimmt. Dann wartet der Stier einfach ab, angespannt und ausgeruht zugleich, bis endlich seine weißen Gegner ausschwärmen. Die nimmt er dann an – während den raseteurs, nach mehreren Durchgängen, bereits der Schweiß von Stirn und Armen tropft und die Beine schwer werden...
Einer verfehlt im Sprung eine Eisenstange und stürzt ab, wobei er sich die Arme aufschlägt. Ein anderer verstaucht sich den Fuß zwischen Hornspitze und Palisadenholz. Weiter. Die Hemden sind staubgelb, die Hosen zerrissen, die Finger, die den crochet umkrallen, färben sich an den Verbänden rot. Weiter.
Ein Stier hat gelernt, mit seinen Hornspitzen die Balken der Barriere einzeln aus ihren eisernen Halterungen zu lösen und in die Luft zu schleudern, bis die Barriere zerlegt ist. Manche Holzstücke zerschmettert er gleich ganz. Ein anderer springt mehrmals an der gleichen Stelle einfach über das Hindernis hinweg. In beiden Fällen stehen die Tiere jedenfalls dann jenseits der Barriere, im schmalen Gang, direkt unterhalb des Publikums. Helfer springen weg oder verstecken sich in bunkerartigen Nischen, die raseteurs stehen alleine in der Arena, ohne Chance, an die Kokaden zu gelangen. Der Stier stürmt durch den Gang, lange Speichelfäden fliegen ihm aus dem Maul. Und nur mit List und lautem Rufen lenkt man ihn schließlich zurück auf den Sand.


Sieben Tiere gegen fünf raseteurs und fünf tourneurs. Am Ende überreichen die stolzen Demoiselles David Maurel, einem jungen Krieger mit der Figur eines Kunstturners, die neunte „Trophée des Alpilles“, einen Stierkopf aus Keramik. Auch der Züchter wird geehrt, dessen Lucas de la Galère als bester Stier des Tages von einer Jury ausgewählt worden ist. Musik. „Cupo Santo“, die provenzalische Hymne. Applaus. 19.00 Uhr. Zurück in die Gegenwart.



Denn der Stierkampf ist eine Zeitreise. In dieser Form gibt es ihn seit der Renaissance oder vielleicht schon seit dem Mittelalter. Tatsächlich jedoch reicht seine Ahnenreihe bis in die archaische Epoche der ersten Rinderzüchter zurück, in Tage, in denen Tiere noch als beseelt galten und als fast unbezähmbar, eine konservierte frühantike Erinnerung, ein Echo jener Stierspringer, die vor Jahrtausenden im Palast von Knossos unsterblich gemacht worden sind: Der Mensch düpiert, nur mit seiner Geschicklichkeit, das unberechenbare Biest. Und zugleich ehrt er es auch. Die Stiere im provenzalischen Kampf nämlich werden nicht getötet und nicht verletzt. Sie verlassen die Arena mit deutlich weniger Blessuren als die Menschen und manche sogar noch mit fast allen Kokaden an den Hörnern – unbezähmbar, unbesiegt, wie im Anbeginn der Zeit.


Samstag, 19. Juli 2014

Mao und Stalin in der Provence

Mao und Stalin haben die Zufahrt zu unserem Haus bewacht. Zumindest ein paar Tage lang. Vor unserem Tor nämlich liegt, nun ja, „Platz“ möchte man das nicht nennen, sagen wir: eine Delle am Straßenrand. Ein Kiesstreifen unter Platanenschatten neben der Route départementale, groß genug für das Wartehäuschen des Busses. Und eines Morgens leuchteten aus diesem Häuschen schwarz und rot die Porträts der beiden grausigen Genossen heraus. Die Graffitti hätten es wohl nie ins Museum of Modern Art gebracht, aber klar genug zu erkennen waren die beiden Politiker allemal. Nostalgie und Heimatgefühle: In Deutschland hat man so etwas zuletzt prä-1989 an den Betonwänden mancher Uni-Fakultäten gesehen...
Wer hat Mao und Stalin bloß in die Provence gesprüht? Der letzte Stalinist des Südens? Oder ist das ein, auch schon nicht mehr ganz taufrisches, postmodern-ironisches Zitat? Erkennen wir dieselbe sichere Hand des unbekannten „Meister der kackenden Ente“ wieder? Das Federvieh, das sich so ungeniert erleichtert, ist einige Wochen zuvor im Wartehäuschen (und auf manchen Nebensträßchen) aufgetaucht. Wie auch immer: Der Bus fährt hier nur, wenn man ihn telefonisch bestellt. Ob als politisches Manifest oder ironisches Zitat, die beiden Kerle haben so gut wie kein Publikum.
Dachte ich...
Doch einmal im Jahr spendiert auf eben jener Straßendelle der Bürgermeister einen apéretif für das Dorf: Rosé und Saft und Cola, Pizza, Knabberkram und gute Laune. Die Nachbarn kommen, Monsieur le Maire ist da, alle haben zwei Stunden Spaß, dann geht man heim zum Mittagessen.
Diesen Sommer jedoch steht ein winziger Renault Clio der Gendarmerie vor dem Tor, drei sichtlich genervte Uniformierte quetschen sich heraus. Protest! Für die feucht-fröhliche Zusammenkunft haben sich fünf Dorfbewohner zur Demo angemeldet. (Mussten die Gendarmen deshalb ausrücken? Oder hat der Bürgermeister sie herbeordert, weil er Schlimmeres befürchtete?) Die fünf aufrechten Krieger jedenfalls haben die Platanen mit Zetteln zugepflastert. Und sie haben sich weiße Hemden übergestreift, auf denen selbst gemalte Parolen prangen: „Pas d'eau, pas d'apéro!“ - „Kein Wasser, kein Apéritif!“
Unser Weiler ist nämlich nicht ans öffentliche Leitungsnetz angeschlossen, jeder Hausbesitzer pumpt sein eigenes Grundwasser hoch. (Und nachdem das Wasser den Weg gegangen ist, den Wasser so geht, versickert es in, genau, Sickergruben.) Die fünf Protestanten der Provence hätten nun gerne Leitungswasser gehabt, hätten es schon seit Jahren gerne (alle anderern übrigens auch), doch, ach, das liebe Geld ist nicht da oder vielleicht fehlt es auch am Willen von Bürgermeister und Gemeinderat oder bloß am Interesse für einen wirklich winzigen Weiler. Jedenfalls haben die Demonstranten den Apéritif demonstrativ verweigert und sich mit ihren besprühten Hemden am Rand der Delle aufgebaut und … Boule gespielt.
Irgendwann hielten selbst die Flics, die in Frankreich viele Demonstrationen kennen, die andernorts Nummern für die „versteckte Kamera“ wären, diese Manifestation für so ungefährlich, dass sie ihre schwitzenden Leiber in den Kleinwagen zurück zwängten, ausatmeten, damit die Türen zugingen – und davonbrausten.
Das war die Revolution des Samstagmittags. Bis mir, ein Glas in der Hand, das Wartehäuschen auffiel. Neu gestrichen! Putain, sie haben Stalin und Mao und die kackende Ente in einer Nacht-und-Nebel-Aktion hinter Baumarktfarbe verschwinden lassen! Wahrscheinlich, damit der Blick unseres Bürgermeisters, von fünf Boulespielern bereits arg strapaziert, nicht auch noch von zwei Gespenstern der Vergangenheit beleidigt wird.

Dafür war Geld da und der Wille und das Interesse wohl auch.


Montag, 23. Juni 2014

Die Abtei von Sénanque

Sénanque ist eine Messe wert und eine Reise allemal.
Im Mittelalter war das Kloster Cîteaux in Burgund ein Megastore des Glaubens: Vor einem Jahrtausend versammelten sich dort besonders strenge Mönche, die dem Ideal des ora et labora kompromisslos folgten. In einer Epoche, in der sich Spiritualität noch nicht in Buddhafiguren auf der Fensterbank erschöpfte, weihten sich Tausende dem nach dem Mutterkloster benannten neuen Orden der Zisterzienser. Filialen entstanden, mehr und immer mehr, über 700 schließlich in ganz Europa, ein Franchise-Unternehmen, das Askese, Arbeit und Schweigen verlangte und dafür den Weg zur Errettung der Seele anbot. Drei der berühmtesten Filialen wuchsen in der Provence empor, deren berühmteste wiederum ist die Abbaye Notre-Dame de Sénanque.


Der Fluss Sénancole hat bei Gordes eine Kerbe ins Gebirge geschnitten, von der man nicht recht weiß, ob sie noch ein Tal oder schon eine Schlucht ist. Unzugänglich ist der Ort allemal und heiß und satt vom Duft nach Baumharz und sandigem Boden. Die Zisterzienser haben sich die einsamen und herben Flecken ausgesucht, um dort ungestört zu arbeiten und zu beten. Heute windet sich ein Asphaltband die Bergflanke hinunter, und auf jeden Mönch – es sind zur Zeit kaum mehr als ein halbes Dutzend – kommen wohl zehntausend und mehr Besucher im Jahr. Und doch ist das Tal sogar noch etwas schroffer geworden als im Mittelalter, denn ein Erdbeben Anfang des 20. Jahrhunderts kappte den Flusslauf, so dass die Sénancole bloß noch ein Rinnsal ist.
1148, als die ersten Zisterzienser hier Steine aufschichteten, um ihre kühle, strenge Kirche, den Kreuzgang, um Dormitorium und Kapitelsaal und all die anderen notwendigen Bauwerke zu errichten, strömte mehr Wasser durch das Tal. Heute kann man, außer am Sonntagmorgen (Warum wohl?), auch dann durch Kirche und Kreuzgang schlendern, wenn man kein Gelübde abgelegt hat. Wie oft mögen wohl schon die Lavendelfelder vor dem Hintergrund der wuchtigen Kirchenmauern fotografiert worden sein? Wieviele CDs mit gregorianischen Gesängen sind im Klostershop schon über den Tresen gegangen?
Zwar bewundert man das karge Kirchenschiff, wo das Licht weich ist wie in einem gelben Aquarium und zwei Glöcknerseile in der Vierung baumeln, als könnte man von hier aus die Glocken des Himmels läuten. Zwar verlangsamt man unwillkürlich den Schritt, wenn man die Säulenpaare des Kreuzgangs passiert und man von diesem geschützten steinernen Herz die Welt nur noch durch Bögen und Vierecke in Ausschnitten sieht. Zwar lauscht man den Stimmen im Kapitelsaal mit seiner perfekten Akustik, wo sich sonst die Mönche versammeln, um dem Abt zuzuhören, der jeweils ein Kapitel der Klosterregel vorliest.
Und doch versteckt sich die Magie von Sénanque nicht im Großen, sondern im Detail, ja im Unsichtbaren:
In den Buchstaben und Zeichen etwa, die an Kirchenwänden und Bänken in manche Steine gehauen sind: Mit ihnen haben Steinmetze ihre Werke gekennzeichnet, denn sie wurden von den Mönchen pro zugehauenem Stein bezahlt. Mehr als zweitausend verschiedene Markenzeichen haben Forscher in der Abtei gezählt – stumme Zeugnisse von buchhalterischem Ernst, von Berufsstolz, von der Job-Maschine, die so ein Kloster auch war, selbst an diesem entlegenen Ort.
Auf die Konsole über der Säule im Kreuzgang, die genau gegenüber vom Eingang des Kapitelsaals aufragt. Ein Dämonenkopf wächst dort heraus, praktisch die einzige Skulptur in der Abtei. Mönche, die sich im Kapitelsaal vor ihren Mitbrüdern rechtfertigten und Verfehlungen gestanden, blickten (und blicken noch heute) auf diese Fratze. Sie ist wohl der Tarasque von Tarascon nachempfunden, einem mythischen Monster der Rhône, das im Midi seit grauer Vorzeit gefürchtet wird, weil es unvorsichtige Reisende und Jungfrauen verschlingt. Und so konserviert ausgerechnet eine Festung mittelalterlichen Christentums zutiefst heidnischen Spuk.

Und die Lavendelfelder, die in langen Reihen vor dem Kloster wachsen und die so viele Fotografen anziehen, sind vor noch gar nicht so langer Zeit angelegt worden. Ursprünglich nämlich erstreckte sich dort … der Friedhof des Klosters. Der Lavendel von Sénanque blüht über den Gebeinen unzähliger Mönche. Ein poetischer Gottesacker - und ein sanft-ironisches Denkmal für jene Männer, die sich um des Glaubens willen so viel Strenge und Schmucklosigkeit aufgezwungen haben.



Montag, 26. Mai 2014

Front National, die Partei des Midi


Merde alors. Jede vierte Stimme für den Front national in Frankreich. In der Region Sud-Est, in der Provence und Korsika, Côte d'Azur und Ardèche, die Region von Lyon und die Alpen vereint sind, erreicht der FN sogar 28,8 Prozent. Spitzenkandidat im Süden: Jean-Marie Le Pen, der 86 Jahre alte Patron und Ehrenvorsitzende der Partei, ein Mann, dem man vieles vorwerfen kann, aber ganz bestimmt nicht, dass er altersmilde ist... (Schwacher Trost für uns im Süden, dass der Front national in manchen anderen Regionen NOCH stärker geworden ist. Die Tochter Marine Le Pen holte im Nordwesten schlappe 32 Prozent.)
Die Grünen haben sich bei uns, mit derselben Spitzenkandidatin wie vor fünf Jahren, mit ungefähr 9,5 Prozent mal eben halbiert. Die Sozialisten sind gerade so stark, wie die FDP in besten Zeiten einst war. Und mit all den linken Klein- und Kleinstparteien kommen sämtliche Gruppierungen links von der Mitte zusammen auf weniger Stimmen als der FN allein.
Warum hat sich der FN von einer zur nächsten Europawahl verdreifacht? 

Selbstverständlich glimmt in Frankreich ein Zorn „auf Brüssel“, eine an Hass grenzende Verachtung der fernen EU-Bürokratie, eine diffuse Angst vor jenen (osteuropäischen) „Fremden“, die eben nun EU-Bürger und mithin keine Fremden mehr sind. Dieses Sentiment brodelt auch in Kopenhagen und Athen, in London und sogar in der deutschen Provinz... In der Provence ist dafür der Lavendel zur Zeit das Symbol par excellence. Brüssels Bürokraten, so die Fama, möchten alle Lavendelprodukte (Seifen etwa) mit Totenköpfen versehen. Denn da einige wenige Menschen auf Lavendel allergisch reagieren, müssten Lavendelstoffe eben mit Warnhinweisen versehen werden. Totaler Quatsch? Vielleicht. Sicher ist aber, dass EU-Bürokraten tatsächlich auch Lavendelfelder und Savon de Marseille mit Paragraphen einhegen wollen.

Darüberhinaus sind hierzulande Wahlen wie die zum Europäischen Parlament jedoch auch, ebenso wie die erste Runde der Präsidentschaftswahl, klassische Protestwahlen: Man lässt mit seinem Kreuz mal so richtig die Sau raus, weil die Wahl ja eh nicht wichtig ist. (Bei Präsidentschaftswahlen hat sich das bekanntlich ja schon einmal als Fehlkalkulation erwiesen.) Das Europäische Parlament gilt als überflüssiges Gebilde, in dem nichts Wichtiges entschieden wird, also kann man auch hineinwählen, wen man will - schaden tut's sowieso nicht. Jean-Marie Le Pen hat denn auch schon am Wahlabend verkündet, dass er zwar gewählt worden ist, aber so selten wie möglich zu Sitzungen erscheinen werde, um seine Verachtung zu demonstrieren.
Warum wählen dann gerade die Leute, die sich am meisten von der EU gegängelt fühlen, ausgerechnet Politiker, die lauthals kundtun, dass sie möglichst wenig Einfluss auf die EU ausüben wollen?
Weil man mit nichts Gaullisten und Sozialisten, Kommunisten und Grüne gleichermaßen so ärgern kann, wie mit einem Kreuz für Le Pen Senior et Fille.

Ob Links oder Rechts, Politiker gelten hier als sozusagen angeboren korrupt. Die Pariser Granden: Höfisch-fern, arrogant, parteienblind, total unfähig zum Kompromiss, zu Reformen, zu irgendeiner Form von Zusammenarbeit. Politiker streiten erbittert über wirklich jede Frage des Landes, und wenn sich Parteien nicht gegenseitig blockieren, dann zerfleischen sich Partei“freunde“ untereinander, dass es einem die Tränen in die Augen treibt: Gaullisten, Sozialisten, radikale Linke, Grüne, alle, alle sind sich untereinander spinnefeind.
Und lokale und regionale Größen halten gerne mal ein Händchen auf, der eine links, der andere rechts. Oder, besonders beliebt bei Bürgermeistern der Sozialisten und Kommunisten, sie blähen öffentliche Verwaltungen so auf, dass möglichst jede Familie der Gemeinde mindestens einen Beamten in ihren Reihen zählt. Folge: Hypertrophe Administrationen, die in ihrer Langsamkeit und Gleichgültigkeit an Breschnews späte Sowjetunion erinnern.
Beispiel Istres: Die Stadt am Étang de Berre zählt etwas mehr als 40 000 Einwohner und kommt auf mehr als 800 Kommunalbeamte. Der Bürgermeister ist selbstverständlich links. 2009 kam der Front national hier als fünftstärkste Partei auf 10 Prozent. Jetzt sind es 37 Prozent, und keine andere Partei ist auch nur annähernd so stark.
Sind die Hände von rechtsextremen Politikern etwa verschlossen? Sind sie immun gegen Durchstechereien und Nummernkonten? Darauf möchte ich lieber kein Geld wetten - allein, die Frontisten hatten bislang noch nicht allzu viele Gelegenheiten, sich zu bereichern. Erst seit dem März 2014 stellen sie sieben Bürgermeister im Süden. Jetzt wird man sehen...

So lange jedoch ist eine Stimme für den FN vor allem ein Protest gegen das Althergebrachte. Gegen Stillstand, Lähmung, Stau, Korruption. Es ist ja nun keineswegs so, dass hier Glatzen in Springerstiefeln abendlich saufend an Tankstellen lungern und Baseballschläger schwingen. Im Alltag ist der FN total unsichtbar. Du redest mit den Leuten und weißt (bis auf wenige exponierte Gestalten) nie, ob sie rechts gewählt haben oder nicht. In unserem Städtchen leben etwa 1400 Leute, davon dürfen 1156 wählen. Auch bei uns ist der FN mit einigem Abstand stärkste Partei geworden - aber letztlich sind es bloß 197 Bürger, die für Le Pen gestimmt haben.

Die Europawahl ist deshalb vor allem ein Appell gewesen: Einigt euch! Brecht endlich - und zwar gemeinsam - diese verdammte Starre auf, die das Land seit zwei Jahrzehnten lähmt! Ob die Politiker das verstanden haben? Am Wahlabend sagte ungefähr jeder, vor den man ein Mikrofon hielt: „Ja, wir alle sind schuld. Aber die anderen, die sind viel schuldiger als ich. Die haben nämlich...“ Es ist ein Elend. Der Front national war einst ein ungebetener, ungehobelter Gast, der aus dem ganz braunen Sumpf kam. Dieser Gast hat sich inzwischen eingerichtet, um zu bleiben, weil sich die Familie im Wohnzimmer lieber streitet, als diesen Eindringling zu vertreiben. Merde alors.

Freitag, 16. Mai 2014

Mörderischer Mistral

Es mag vielleicht etwas seltsam erscheinen, seine Wahlheimat dadurch zu ehren, dass man ihr Mörder und Totschläger andichtet. Aber genau das möchte ich tun: Eine Liebeserklärung an die Provence zu schreiben, auch wenn in ihren Zeilen neben Olivenöl und Rosé auch Blut und Schwarzgeld fließen: Voilà, der „Mörderische Mistral“ ist da!



Capitaine Roger Blanc ermittelt im Süden des Südens, am Rand der Provence, hart vor der Mittelmeerküste, dem Étang de Berre - und hart vor Marseille. Aber: Er kennt das Land nicht, er hasst die Hitze, er will überhaupt nicht in der Provence sein, er versteht nicht, wie die Menschen hier ticken und die Verbrecher versteht er erst recht nicht. Zunächst jedenfalls.
Die wichtigsten Orte der Handlung sind fiktiv, doch Eingeborene und Eingeweihte werden den einen oder anderen Platz mehr als erahnen. Sie werden Berge und Wälder und Bergstädtchen und verschlafene Häfen wiedererkennen und die nächtlichen Schatten der Fledermäuse und das Konzert der Zikaden und, selbstverständlich, den Atem des Mistrals, der alle Menschen erschöpft, bevor er sich selbst erschöpft.
Nicht fiktiv sind die Verbrechen: Ob es um einen verbrannten Toten am Rande einer elenden Müllkippe geht oder um die seltsame SMS einer zwielichtigen Gestalt an eine andere: Alles echt. Solche Verbrechen gibt der Süden her, man muss sie nur pflücken wie Thymian und Rosmarin am Rande der Wege durch die Garrigue-Wälder. Dank an meine Cousine, die Untersuchungsrichterin hier ist und, so weit sie das darf, von ihren Klienten berichtet! Dank an die Kollegen von „La Provence“, die, gut informiert, die Seiten ihrer Zeitung mit den schrecklichsten und den absurdesten Untaten füllen! Der ganze Fall allerdings, mit seinen Irrungen und Wirrungen und seinen Bösewichten und nicht ganz so bösen Wichten, mit Tod und Liebe, mit Freundschaft und Verrat, dieser Fall also, der ist allein meiner Fantasie geschuldet...


P.S.: Die Tür zur kriminellen Provence kann jeder Leser übrigens ganz leicht und vollkommen kostenlos einen Spalt weit öffnen, sofern man einen eReader oder die entsprechende App besitzt - bei Amazon & Co. gibt’s die ersten beiden Kapitel als Leseprobe. Gratis. Für das "echte" Buch aus Papier wende man sich an den Buchhändler seines Vertrauens. 




P.P.S.: Capitaine Roger Blanc est arrivé en France, enfin! Voilà "Le Mistral Meurtrier". Vive Le Masque, Vive La France!

Freitag, 2. Mai 2014

Die Provence ist eine Idee

Die Kirche Saint Vincent ist kaum größer als ein Bauernhaus und mehr als 900 Jahre alt: Ein hoher Giebel über der Fassade, in dem drei kleine Bronzeglocken im blauen Himmel schwingen; meterdicke Mauern aus sandfarbenen, grob behauenen Steinen; ein Dach, dessen Last auf wenigen, runden Bögen und stämmigen Pfeilern ruht; ein Chor hinter dem Altar, in dem sich keine zwei Dutzend Sänger aufstellen könnten; moderne Glasfenster in alten Streben, durch die Sonnenlicht gelb, rot und orange hereinflutet, als lodere draußen ein Feuer; ein Taufbecken, dessen Alter niemand kennt, glatt gewaschen vom Wasser der Jahrhunderte. Der schwere Duft nach altem Weihrauch in der stillstehenden Luft. Vor diesem Altar haben meine Frau und ich geheiratet. Über dem Becken wurden unsere drei Kinder getauft.
Genau die gleichen Zeremonien an genau dem gleichen Ort wurden hier schon gefeiert, als in Deutschland die Stauferdynastie herrschte, Spanien noch zur Hälfte muslimisch war und Byzanz blühte. Als Kolumbus Amerika entdeckte. Als sich am 14. Juli 1789 in Paris die Wut des Volkes gegen die Bastille richtete. Als im Spätsommer 1939 ein französisches Ultimatum in Berlin einging.
Und warum sollte es in den nächsten 900 Jahren anders sein? Ist hier nicht alles von Dauer? Spannt nicht, nur wenige Kilometer südlich der Kirche Saint Vincent, bein Saint-Gilles eine von den Römern errichtete Brücke seit zwei Millennien einen Fluss? Glitzern nicht zu Fuß des Hügels, auf dem das Dorf mit der Kirche errichtet wurde, die silbrig schimmernden Blätter unzähliger Olivenbäume - die Äste schwer mit schwarzen Perlen, die schon die Menschen vorchristlicher Zeiten hegten?
Und doch: Eben jene Olivenbäume sind kaum ein halbes Jahrhundert alt, weil alle mächtigen, älteren Pflanzen in einem mörderischen Winter während der 1950er-Jahre erfroren. Neben jenem Fluss, den die Römerbrücke spannt, strömt ein Kanal Richtung Mittelmeer, der erst ein Werk der Neuzeit ist - und so viel Süßwasser an die Küste ergießt, dass mancherorts die in Jahrmillionen gewachsene einmalige Tier- und Pflanzenwelt brackiger Buchten verschwindet.
Saint Vincent liegt in der Provence, die Provence ist uraltes Kulturland, Kulturland ist Menschenwerk - und Menschenwerk verändert sich. Kaum irgendwo sonst in Europa allerdings wird man eine Landschaft finden, wo sich dieses mal behutsame, mal brutale Miteinander von Mensch und Natur seit zweieinhalb Jahrtausenden ununterbrochen studieren lässt. Wo jede Generation ändert, ergänzt, erneuert, abreißt, erbaut, zerstört. Wo Künstler ebenso hinzogen wie Heere, weltfliehende Mönche ebenso wie Weltliches liebende Händler. Wo Fremde kamen und niemals wieder gingen: Griechen und Römer in der Antike, Sarazenen, Spanier und Nordfranzosen im Mittelalter, Italiener im 19. Jahrhundert, Briten, Niederländer, Russen - und Deutsche im scheinbar grenzenlos gewordenen 21. Jahrhundert.
Und zur Gemeinde von Saint Vincent - die so gut wie gar nicht von Touristen und eiligen Reisenden entdeckt worden ist, selbst heute - gehörte ein Deutscher, der 1945 als junger Kriegsgefangener auf einem Hof arbeiten musste, heiratete, blieb und kaum noch seine ursprüngliche Muttersprache beherrschte. Eine Familie aus Nordafrika, für die einst Marseille das Tor zu Europa, zur Arbeit, zu bescheidenem Wohlstand war. Ein belgischer Pilot und seine Frau, eine Stewardess, die irgendwie ein in einem Tal versteckt gelegenes Haus entdeckten und dort mit ihren Töchtern hinzogen. Und Dutzende „urfranzösische“ Familien mit italienischen und korsischen Nachnamen.
Was also ist die Provence?


Die Provence ist eine Idee. Ist der Name eines Sehnsuchtsortes, irgendwo im Süden, wo es nach Bouillabaisse und frischen Tomaten in Olivenöl, nach Pastis und gekühltem Rosé schmeckt. Wo die Luft süß ist vom Lavendel und trocken von rotbrauner, in der Hitze gebackener Erde und würzig von Pinien im Wind. Wo Zikaden unsichtbar an Bäumen kleben und von der Mittagshitze bis zum Sonnenuntergang ein sägendes Konzert veranstalten - wenn nicht der Mistral tobt, der eiskalte, zornige Nordwind, der aus den Alpen steigt und den Himmel frei wischt. Wo das Licht flirrend ist und zugleich so glasklar, als habe man sinneserweiternde Drogen geschluckt. Ein Land, in dem sich felsenfarbene Dörfer unter Donjons und Burgmauerzacken auf Hügelkuppen drängen. In dem die chaotische Hafenmetropole Marseille Bühne ist für alle Verbrechen dieser Welt - und für alle Hoffnungen. Und in dem, nur ein paar Dutzend Kilometer weiter, strenge Zisterzienserabteien in entlegenen Tälern wachen, so einsam wie vor tausend Jahren.
Offiziell aber existiert die Provence gar nicht, hat weder Grenzen noch Hauptstadt.
PACA kürzen Funktionäre und Journalisten in Frankreich ihre südöstlichste Festlandsregion ab. Eine Région, das ist eine Art Verwaltungseinheit, erst vor wenigen Jahrzehnten eingeführt. Eine Hierarchieebene zwischen den traditionellen Départements sowie Präfekturen und der fernen Zentrale in Paris. Nur dort, in diesem eher lieblosen Kürzel, versteckt sich eine offizielle Anerkennung dessen, dass es die Provence gibt: „Région Provence-Alpes-Cote d’Azur“ heißt dieses - im übrigen relativ unautonome - Gebilde, das den ganzen Südosten Frankreichs umfasst.
Und damit eben, auch, die Provence.
Da es keine offiziellen Grenzen der Provence gibt, kann sie sich jeder geneigte Reisende selber ziehen. Man muss sie sich geformt wie eine Art Satteldach oberhalb der Küstenlinie des Mittelmeeres vorstellen: Im Westen liegt dieses Dach an der Küste auf, verankert auf den Mauern der Stadt Aigues-Mortes, die aus den Sümpfen der Camargue herauswächst, als hätte sie ein größenwahnsinniger König einst dort hineingesetzt. (Was ungefähr der Wahrheit entspricht.) Nördlich der Camargue markiert die Rhône die Grenze, bis hoch zum römischen Stadttor von Orange. (Puristen mögen aufschreien, weil wir uns jenseits dieses Flusses eigentlich im Languedoc befinden: Aber allen praktischen Gründen nach sollte jeder Reisende auch Nîmes und den Pond-du-Gard in seine Provence einschließen.)
Von Orange aus wölbt sich die gedachte Nordgrenze über den Mont Ventoux bis Sisteron, dem Tor zu den Alpen. (Großherzige Freunde Südfrankreichs verschieben diese Grenze bis fast vor Lyon...) Über Digne und den Route-Napoléon getauften uralten Straßenweg führt sie bis zur Parfumstadt Grasse. Dort knickt die Linie scharf nach Westen ab, bis sie fast Aix-en-Provence erreicht, vollführt dann einen Zacken gen Süden und erreicht bei Cassis wieder das Mittelmeer. Von dort an die Küste entlang bis zurück nach Aigues-Mortes - et voilà.
Fünf Départements liegen mehr oder weniger vollständig innerhalb dieses imaginären Raumes: Bouches-du-Rhône (Postleitzahl und, zumindest bis zur 2009 verfügten Änderung aller Nummernschilder, auch Autokennzeichen: 13), Alpes-de-Haute-Provence (4), Var (83), Vaucluse (84) und Gard (30), falls der Abstecher gen Nîmes unternommen wird.
Als eigenes Land hat es die Provence nie gegeben - wiewohl es im Mittelalter eine Grafschaft diesen Namens gab, deren Herr jedoch stets anderen, mächtigeren Fürsten verpflichtet war, unter anderem dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der das „Arelat“ getaufte Territorium um Arles nominell regierte. Als Kulturland ist die Provence hingegen Jahrtausende alt.
Ursprünglich eine Region mit einer felsigen Mittelmeerküste, an der Pinien gedeihen, mit Sümpfen und Brackwasserseen im kilometerbreiten Mündungsdelta der Rhône. Das hügelige, zu den Alpen hin immer höher sich aufwerfende Hinterland ein riesiger Märchenwald aus Eichen, ein paar Flüsse, unergründliche Quellen, schroffe Felsen, die aus dem Grün ragen.
Schon in der Steinzeit haben Menschengruppen, aus denen sich irgendwann die Stämmen der Kelten und Ligurer bildeten, die Natur verwandelt. Sie rodeten Wälder und schichteten flache Steine auf. Als Hirten zu kuppelförmigen, knapp drei Meter hohen Bories, die Häuser, Ställe und Vorratskammern zugleich waren und deren bienenstockförmige Kuppeln mancherorts noch stehen - nirgendwo so viele wie bei Gordes, wo ein ganzes, allerdings deutlich jüngeres Dorf erhalten ist. Bauern aus der Vorzeit terrassierten Land, das sie mit Steinwällen abstützten - auch hier sind die Spuren oft noch zu sehen, uralte, abgestützte Hänge, längst von Bäumen überwachsen.
So etwas wie staatliche Strukturen - auch wenn das, streng genommen, für die Antike ein Anachronismus ist - schufen erstmals die Griechen: Um 600 v. Chr. gründeten seefahrende Kolonisten aus der kleinasiatischen Mertropole Phokäa an einem von Felsen geschützten, fast kreisförmigen Naturhafen eine Stadt, die sie Massalia tauften - das heutige Marseille, das sich damit „älteste Stadt Frankreichs“ nennen darf.
Diese Kolonisten aus dem östlichen Mittelmeer brachten Kulturpflanzen mit, die das Gesicht der Provence für immer verwandelten: Den Olivenbaum, die Weinrebe, die Feige.
In den Jahrhunderten vor und nach der Zeitenwende modellierten die Römer Südfrankreich um, das sie als Provinz dem Imperium einverleibt hatten: Straßen, Brücken, Aquädukte als linear das Land zerteilende Zeugnisse ihrer Herrschaftstechnik. Städte als Orte der Macht und des Handels: Aix-en-Provence (Aqua Sextiae), Orange, Arles, Vaison-la-Romaine; Amphitheater, Tempel, Siegessäulen, Triumphbögen, Thermen.
Unter römischer Herrschaft kamen auch die ersten Christen nach Südfrankreich, früher als fast überall sonst in Westeuropa. Später gründeten Mönche Klöster in entlegenen Tälern, wie Sénanque und Silvacane. Oder Pilgerstationen mitten im Sumpf, wie Saint-Gilles in der Camargue, wo auch die Frommen Rast machten, die auf dem Jakobsweg gen Spanien zogen. Und wieder veränderte sich das Land: Kräutergärten und Felder gediehen dort, wo die strengen Brüder den Boden beackerten, oft als erste Menschen überhaupt.
Und während die Mönche Urwälder rodeten, eroberten Bauern und Händler die Hügel: Erst im Mittelalter, geplagt von ständigen Kriegszügen lokaler Ritter ebenso wie fremder Invasoren (selbst Sarazenen kamen Jahrhunderte lang über das Mittelmeer und plünderten Südfrankreichs Küste), schleppten die Menschen Steine, Dachziegel, Baubalken auf die Kuppen.
Was heute malerisch, ja organisch aus der Landschaft gewachsen und damit fast „natürlich“ wirkt, war im Mittelalter aus der Not geboren. Eigentlich ist Land auf Hügeln steil, schwer zu bebauen, oft fehlen auch Quellen, Felder lassen sich dem Boden nur mühsam aufzwingen. Die Täler sind feuchter, besser vor glühender Sonne und eisigem Mistral geschützt, leichter urbar zu machen - aber eben auch schlechter zu verteidigen. Auf einer Bergkuppe war ein heranrückender Feind schon aus großer Entfernung auszumachen, und ein steiles, unzugängliches Dorf ließ sich von entschlossenen Bauern eher verteidigen als ein lieblicher Weiler im Tal.
Im Absolutismus ließ sich der König in seinem Versailler Schloss mit Duftwasser und anderen Essenzen besprengen - und in der Provence erblühen seit dem 17. Jahrhundert riesige Lavendelfelder, wo der violette Grundstoff gedeiht, der herrschaftliche Nasen erfreut. In Marseille und Nachbarstädten wie Salon-de-Provence wird in schwimmbadgroßen steinernen Wannen Savon de Marseille angerührt, sanfte Seife, deren Grundstoff Olivenöl Essenzen beigemischt werden, die man aus der Region holt: Thymian, Eisenkraut, Zitronenmelisse, Feige, Honig.
Im übrigen war die Provence lange eine eher arme Region. Die Handelsströme über den Atlantik waren größer als die über das Mittelmeer, Marseille, der einzige südfranzösische Hafen internationalen Ranges, deshalb weniger wichtig als etwa Bordeaux. Von dort wurden auch die meisten Weinfässer exportiert, Rebensaft aus der Gironde oder aus Burgund, berühmter als die meisten Gewächse des Südens. Im Norden war der Boden schwerer, fiel der Regen reichlicher, waren die Felder und die Bauern, die sie beackerten, reicher.
Um den Süden besser an den prosperierenden Norden anzuschließen, wurden schon im 18. und 19. Jahrhundert Kanäle durch die Landschaft gepflügt, Transportstrecken für Kähne, weil die Straßen so schlecht waren. Heute sind die Wasserwege, gesäumt von Platanen, beschauliche Gewässer, etwa im Umland der Rhône - und es wirkt, als habe es auch sie schon ewig gegeben.
Neu ist auch der Tourismus: Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckten wohlhabende Briten das milde Klima der Mittelmeerküste, den Reiz beschaulicher Fischerdörfer, den Duft nach Pinien und Salz. Lords und Industriebarone aus dem Vereinigten Königreich reisten an die Côte d’Azur, um ihrer nassen, nebeligen Heimat zu entfliehen - und zwar im Winter.
Die Côte d’Azur um alte, doch unbedeutende Städtchen wie Nizza und Cannes war zuallererst Fluchtort für die kalten Monate, das Meer keineswegs ein Ort des Badens, die glühende Sommersonne schon gar nicht eine Quelle gebräunter Haut - ein blasser Teint war im 19. Jahrhundert en vogue, zeugte er doch davon, dass man es sich leisten konnte, nicht draußen zu arbeiten. Bauern und Tagelöhner waren sonnengebräunt, die Herrschaften wandelten behütet, verschleiert und unter Sonnenschirmchen dahin.
Mit dem Tourismus einher ging eine Art kultureller Abspaltung: Erst seit dem 19. Jahrhundert entwickelt sich die Côte d’Azur - jener Küstenstreifen von Toulon bis zur italienischen Grenze - anders und im anderen Rhythmus als die Provence: schneller, mondäner, urbaner. Heute ist aus einem dünn besiedelten Felsenstreifen am Meer ein einziger städtischer Großraum geworden, ist, eingeklemmt zwischen Ozean und Alpen, aus den Gemeinden von Saint Tropez bis Monte Carlo eine Mega-City erwachsen.
Tiefgreifend und manchmal brutal ist die Provence dann nach 1945 umgestaltet worden, zumindest in einigen Regionen. Nach dem Schock der Niederlage im Zweiten Weltkrieg sollte Frankreich radikal modernisiert werden, auch der Süden. Atomkraftwerke wuchsen an den Ufern der Rhône empor. In Fos und Martigues, noch bis etwa 1960 verschlafene Fischerdörfer westlich von Marseille, planierten Pariser Planer Tankerterminals, Öltanks, Raffinerien und Pipelines in eine bis dahin verschilfte, einsame Landschaft. Der aus den Alpen entspringende Fluss Verdon, der in den Felsenboden der nordöstlichen Provence die größte, spektakulärste Schlucht Europas gefräst hat, endet nun im Lac de Sainte-Croix, einem kaum weniger spektakulären, kobaltblauen Stausee.
Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte sind viele Eichen abgeholzt worden, heute wachsen statt ihrer Sträucher und harzhaltige Pinien - Pflanzen, die leichter entflammen und Brände heute häufiger und verheerender machen als früher.
Vielleicht hat aber nichts so die Provence verändert wie die Autobahn A 7 und die TGV-Schnellzuglinie. Aus einer schönen, doch entlegenen Landschaft ist ein schönes, naheliegendes Reiseziel geworden. Es soll bereits Pariser geben, die mit Familie in die Provence gezogen sind und nun jeden Morgen, jeden Abend per TGV in die Seinemetropole pendeln, wie andere Angestellte mit der Metro.
Als der Maler Vincent van Gogh Ende des 19. Jahrhunderts von Paris aus gen Süden aufbrach, erreichte sein Zug erst nach fast anderthalb Tagen Arles. Heute zählt die Provence beinahe schon zur Banlieu der Kapitale. Und mit dem (Billig-)Flieger rücken die Airports von Marseille und Nizza, von Montpellier und selbst der winzige Flughafen von Nîmes Mittel- und Nordeuropa bis auf weniger als zwei Stunden nah.
Und doch: Die Provence ist in den allermeisten ihrer Regionen selbst heute noch dünn besiedelt. Märkte ohne Touristen, schlauchenge, baumbeschattete Landstraßen ohne ein Auto auf viele Kilometer, kleine Museen ohne Besucher, halb vergessene Kirchen, Wanderrouten zwischen Hügeln, Felsen, duftenden Wäldern, durch die niemand sonst schreitet, uralte steinerne Häuser, wo der nächste Nachbar kilometerweit weg wohnt - das alles kann man noch entdecken. Und je weiter die Monate vor oder hinter der französischen Sommerferienzeit von Juli bis Mitte August liegen, desto einsamer wird es. Und zwischen November und Januar sind selbst touristisch ausgebaute Städte wie Les-Saintes-Maries-de-la-Mer am Strand der Camargue, na, nicht gerade verlassen, doch entspannend leer.


Denn auch dies ist eine Wahrheit, die sich erst demjenigen erschließt, der länger dort ist: die Provence ist ein raues Land.
Mittelmeer und Lavendelfelder, Strände und Hügel, Dörfer und Weinreben - man mag den Süden Frankreichs zunächst für eine milde Region halten, wärmer als in Deutschland, trockener, ja sogar, blickt man auf Felder und Reben oder schlendert über einen der schier überbordenden Märkte, für fruchtbarer.
In manchen Jahren regnet es jedoch nicht zwischen April und Oktober. Bauern und Winzer kämpfen dann um jeden Tropfen, den sie aus tiefen Erdschichten hochpumpen - oder (nicht immer legal) von den Flüssen abzweigen.
Im Juli und August steigt das Quecksilber auf fast 40 Grad Celsius im Schatten - und wer dann nicht im Schatten arbeiten muss, lernt ganz neue Schutzkleidung schätzen. Etwa dicke Handschuhe, weil die metallenen Ladeflächen von Lastwagen so heiß sind, dass man sich mit bloßer Haut Verbrennungen holen würde, als fasste man auf eine angestellte Herdplatte.
Dann wieder fallen die Temperaturen. Der Mistral kann, mit tückischen Folgen, mitten an einem Sommertag plötzlich losheulen, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Wer gerade noch auf dem Mont Ventoux die viele Kilometer weite Aussicht vom Gipfel genießt, jedoch keine warme Kleidung dabei hat, der riskiert im schlimmsten Fall sein Leben.
Und im Winter kann es in der Haute Provence vorkommen, dass man an einem milden Nachmittag beim Rosé im Freien die Sonne genießt, windgeschützt fast 20 Grad. Und plötzlich fällt das Thermometer und fällt und fällt... Zwischen 20 Grad und -15 Grad liegen dann manchmal nur sechs, acht Stunden.
Und nicht nur die Natur kann hier böse Überraschungen bereiten.
Um das Land ist immer wieder gekämpft worden. Schon Hannibal erzwang sich gegen einheimische Stämme den Übergang über die Rhône mit Kriegslist und Schlacht, was weniger bekannt ist als sein kurz darauf folgender Alpenübergang, aber kaum weniger dramatisch und opferreich. Der römische Feldherr Marius stellte sich bei Aix-en-Provence den Kimbern und Teutonen und erschlug Zehntausende. Festungen wie Les Beaux zeugen von den Fehden des Mittelalters - und nicht zuletzt deshalb ist eine der finstersten, trutzigsten Wehranlagen der ganzen Provence ausgerechnet der gotische Papstpalast in Avignon. Die Residenz des Oberhauptes der katholischen Kirche wurde im 14. Jahrhundert errichtet, als der Heilige Vater es vorzog, hier und nicht in Rom zu leben, aber offenbar um eben jenes Leben stets fürchten musste.

Noch der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. sicherte den Hafen von Marseille mit massiven Forts. Und im Zweiten Weltkrieg besetzte die Wehrmacht das Land. In Salon-de-Provence starteten Luftwaffenjäger. Manche stürzten ab. Und selbst heute holen Bauern Fahrgestelle und ganze Motoren beim Umpflügen aus ihren Feldern - oft einen halben Meter tief in der Erde vergraben, ein Zeugnis der Wucht des einstigen Absturzes.