Wenn
ein Kampfstier vor Zorn brüllt, dann klingt das, als würde in der
Ferne ein Kampfjet starten: Ein dumpfes Grollen, nicht besonders
laut, nicht ungewöhnlich tief, ein wenig heiser, berstend vor
Energie und sehr, sehr aggressiv. Nur steht das Tier eben nicht
irgendwo am Horizont, sondern zwei Meter unterhalb meiner
Schuhsohlen. Willkommen in Eyguières bei der neunten „Trophée des
Alpilles“, einer course camarguaise, dem Stierkampf der
Provenzalen!
Wohl
kaum eine Sportart hat eine derart zerhackte Saison wie diese: Erst
im Frühjahr staubt in den Arenen der Sand auf, dann folgt die allen
Franzosen (außer Rennradfahrern) geheiligte unendlich lange
Sommerpause, schließlich prasseln schon die Finale innerhalb weniger
Wochenenden Anfang September auf die Fans ein. Dann ist das Spektakel
verweht wie ein Traum in einer schwülen Nacht.
Ein
Spektakel, das sich in den Städten und Dörfern um Camargue und Crau
zuträgt und nigendwo sonst in der Provence. In den noch von den
Römern errichteten Amphitheatern von Arles und Nîmes
etwa, in modernen Anlagen wie in Istres – und in gänzlich
unspektakulären Arenen in gänzlich unspektakulären Kleinstädten,
wie zum Beispiel dem kaum tausend Zuschauer fassenden, ein wenig
bröckeligen, ein wenig betagten Zementoval von Eyguières, das um
ein halbes Dutzend alte Platanen herum gebaut worden ist, so dass das
Publikum im Blätterschatten auf Betonbänken sitzt, die man auch in
die Bunker des Atlantikwalls hätte einbauen können.
Die
weite, bizarre, wilde Sumpflandschaft der Camargue ist der Brutplatz
der Mücken, der Flamingos – und der manades, der etwa 150
Herden schwarzer Rinder, die von berittenen gardians, den
Cowboys des Midi, zusammengetrieben werden. Wenn sie denn
zusammengetrieben werden. Meistens ziehen die Herden unbewacht über
Gras und Schlick, so frei wie die Büffel Afrikas. Keine Ställe,
keine Zäune, keine Melkmaschinen - und die Kühe bekommen ihre
Kälber dort, wo es ihnen gerade passt.
Einige
von den niedlichen Kälbern allerdings werden von Züchtern innerhalb
von zwei, drei Jahren zu Kampfstieren herantrainiert, nachtschwarze,
bis zu 350 Kilogramm schwere Gebirge aus Muskeln und Knochen, klug,
die Sinne nicht von generationenlanger Viehwirtschaft degeneriert,
die nach oben geschwungenen, spitzen Hörner so lang wie der Arm
eines Mannes. Die Kolosse beschleunigen aus dem Stand so schnell wie
eine Moto-Cross-Maschine und sie springen auch beinahe so hoch:
Manche Tiere überwinden 1,60 Meter hohe Zäune aus starken Brettern
und Eisenpfosten.
Ein
furchterregender Gegner für den raseteur, den provenzalischen
Stierkämpfer, der nicht mit einem roten Tuch herumfuchtelt, der
keinen Degen trägt, der nicht herumstolziert wie ein spanischer
Gockel, sondern der dem Kampfstier in der Arena gegenübertritt,
bewaffnet mit nichts anderem als seinen flinken Füßen und bloßen
Händen. Beinahe bloßen Händen.
In
der, oft zum Schutz bandagierten, Hand hält ein raseteur den
crochet, eine Art vierzinkigen, mit Klingen gespickten, etwa
zehn Zentimeter langen Kamm, ohne den er kein raseteur wäre.
Denn das ist sein Ziel: Den Stieren sind Kokaden, sehr feine Bänder,
um die Wurzeln der Hörner geflochten worden, direkt über dem
wolligen Kopffell. Mit dem crochet muss der raseteur
versuchen, diese Kokaden aufzutrennen – sie also vom Kopf des
Stieres zu stehlen. Damit er überhaupt auf Armlänge an das zornige
Tier herankommt, hat jeder raseteur einen Sekundanten, den
unbewaffneten tourneur. Der versucht, den Stier auf sich zu
lenken, damit sich sein Kollege heranschleichen, einen günstigen
Moment abwarten und dann mit rascher Bewegung die Kokade stehlen
kann.
Für
jede gelöste Kokade gibt es Punkte. Mehrere raseteurs treten
immer zusammen in der Arena gegen einen Stier an, bis dem entweder
alle Kokaden abgenommen worden sind, oder aber, bis er erschöpft
ist. Dann wird das Tier hinausgeführt, ein frisches Tier kommt
herein – und weiter geht der wilde Tanz. Die Männer in weißen
Hemden, weißen Hosen, weißen Schuhen (nur ihre auf den Rücken
gestickten Namen sind andersfarbig: blauschwarz für die raseteurs,
rot für ihre tourneurs) tanzen ein wildes Ballett mit dem
Stier in ihrer Mitte, springen ihm an den Kopf, springen fort,
springen wieder heran, wieder fort. Wer am Ende eines Nachmittags die
meisten Punkte hat, ist Tagessieger. Wer die meisten Punkte über die
Kampfsaison gesammelt hat, gewinnt das Finale. So einfach ist das.
Im
Prinzip.
In
Eyguières sitzen wir in der ersten Reihe, vor uns ein Geländer aus
massivem Stahlrohr. Zwei Meter tiefer die Arena: Ein Oval aus gelbem
Sand, in das sich nur langsam die Platanenschatten fressen. Die Hitze
flirrt. Zwischen dem Betonrund der Zuschauerränge und den Sand steht
eine Palisade aus massiven, rot gestrichenen Balken in eisernen
Pfosten, die dahinter nur einen schmalen Gang für die Betreuer
freilässt. Und für die raseteurs, die sich hierhin
zurückziehen können.
Um
16.15 Uhr ziehen Demoiselles in den Trachten von Arles ein, Mädchen,
junge Frauen, Matronen, stolz und fröhlich und elegant. Kinder mit
Hüten. Alte, die Maultiere führen. Schnelle Rhytmen von einer
Kapelle rotbefrackter Zirkusmusiker. Traditionelle Tänze. Applaus
für die raseteurs, die Hemden und Hosen noch so weiß, dass
es in den Augen schmerzt.
Das
wird sich ändern.
16.30
Uhr. Scheppernde Lautsprecherdurchsagen. Musik. Ein Gatter mit der
Aufschrift „Toril“ wird zurückgeschoben – und der erste
Kampfstier stürmt in die Arena, ein junger Kerl, verwirrt, zornig,
kampfdurstig. Dann springen die raseteurs und ihre Sekundanten
über die Palisade.
Sie
schreien, schlagen auf die Balken, pfeifen, rufen den Namen des
Stiers. Der stürmt los. Die raseteurs stieben davon, Sand
spritzt auf, die Männer spurten zur Palisade, nur Zentimeter trennen
ihre Rücken von den Hörnern des verfolgenden Tiers, sie springen
auf das Holz und von dort zu den Stahlrohren des Betonovals, in
fließenden Bewegungen, mit der blinden Sicherheit von Affen im
Geäst, während das Biest wütend den Kopf in die Balken rammt, dass
sich die Hörner rot färben von der abplatzenden Farbe des Holzes.
So hängt, nur ein paar Handbreit vor mir, plötzlich ein keuchender
Mann am Gestell und wartet, bis sich der Stier einem neuen Ziel
zuwendet, bevor er sich wieder hinunterwagt, zurück in die Arena.
Es
ist ein archaisches Ritual, Weiß gegen Schwarz, Mensch gegen Tier,
eine Mutprobe, eine Herausforderung des Glücks, eine Huldigung an
die Beherztheit der Männer und die Kraft des Stiers. Manchmal reißt
ein raseteur die Hand triumphierend empor – das Zeichen
dafür, dass er eine Kokade abgenommen hat. Die Bewegung ist so
schnell, das Band um das Horn so fein, dass ich erst an dieser Geste
und also stets zu spät den Erfolg erkennen kann.
Zuerst
werden die jungen Stiere in die Arena geschickt, später folgen die
erfahrenen. In Pélissanne, ganz in der Nähe, wo am gleichen Tag
ebenfalls ein Kampf stattfindet, ehren sie Tassou, der das letzte Mal
angetreten ist – ein schwarzer Gladiator mit zehn Jahren
Kampfgeschichte. Den älteren Tieren sieht selbst ein Laie wie ich
die Erfahrung an. Die stürmen nicht mehr blind auf den Sand, sobald
sich das Tor öffnet. Die rennen nicht hierhin und dorthin und
verausgaben sich in der Hitze, bevor auch nur der erste raseteur
über die Barriere springt. Die erfahrenen Kämpfer traben bis in die
Mitte der Arena und nehmen mit erhobener Schnauze Witterung auf. Mit
klugen, schwarzen Augen mustern sie das Rund. Man hat das Gefühl,
nur einen Herzschlag lang, dass das Tier einen aufs Korn nimmt. Dann
wartet der Stier einfach ab, angespannt und ausgeruht zugleich, bis
endlich seine weißen Gegner ausschwärmen. Die nimmt er dann an –
während den raseteurs, nach mehreren Durchgängen, bereits
der Schweiß von Stirn und Armen tropft und die Beine schwer
werden...
Einer
verfehlt im Sprung eine Eisenstange und stürzt ab, wobei er sich die
Arme aufschlägt. Ein anderer verstaucht sich den Fuß zwischen
Hornspitze und Palisadenholz. Weiter. Die Hemden sind staubgelb, die
Hosen zerrissen, die Finger, die den crochet umkrallen, färben
sich an den Verbänden rot. Weiter.
Ein
Stier hat gelernt, mit seinen Hornspitzen die Balken der Barriere
einzeln aus ihren eisernen Halterungen zu lösen und in die Luft zu
schleudern, bis die Barriere zerlegt ist. Manche Holzstücke
zerschmettert er gleich ganz. Ein anderer springt mehrmals an der
gleichen Stelle einfach über das Hindernis hinweg. In beiden Fällen
stehen die Tiere jedenfalls dann jenseits der Barriere, im
schmalen Gang, direkt unterhalb des Publikums. Helfer springen weg
oder verstecken sich in bunkerartigen Nischen, die raseteurs
stehen alleine in der Arena, ohne Chance, an die Kokaden zu gelangen.
Der Stier stürmt durch den Gang, lange Speichelfäden fliegen ihm
aus dem Maul. Und nur mit List und lautem Rufen lenkt man ihn
schließlich zurück auf den Sand.
Sieben
Tiere gegen fünf raseteurs und fünf tourneurs. Am
Ende überreichen die stolzen Demoiselles David Maurel, einem jungen
Krieger mit der Figur eines Kunstturners, die neunte „Trophée des
Alpilles“, einen Stierkopf aus Keramik. Auch der Züchter wird
geehrt, dessen Lucas de la Galère als bester Stier des Tages von
einer Jury ausgewählt worden ist. Musik. „Cupo Santo“, die
provenzalische Hymne. Applaus. 19.00 Uhr. Zurück in die Gegenwart.
Denn
der Stierkampf ist eine Zeitreise. In dieser Form gibt es ihn seit
der Renaissance oder vielleicht schon seit dem Mittelalter.
Tatsächlich jedoch reicht seine Ahnenreihe bis in die archaische
Epoche der ersten Rinderzüchter zurück, in Tage, in denen Tiere
noch als beseelt galten und als fast unbezähmbar, eine konservierte
frühantike Erinnerung, ein Echo jener Stierspringer, die vor
Jahrtausenden im Palast von Knossos unsterblich gemacht worden sind:
Der Mensch düpiert, nur mit seiner Geschicklichkeit, das
unberechenbare Biest. Und zugleich ehrt er es auch. Die Stiere im
provenzalischen Kampf nämlich werden nicht getötet und nicht
verletzt. Sie verlassen die Arena mit deutlich weniger Blessuren als
die Menschen und manche sogar noch mit fast allen Kokaden an den
Hörnern – unbezähmbar, unbesiegt, wie im Anbeginn der Zeit.
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