Freitag, 20. Dezember 2019

Weihnachtliche Sintflut


Dieser Dezember ist bei uns vor allem eins: feucht. Normalerweise können wir hier ja etwa Weihnachten mittags gerne draußen essen, in dickem Pullover und mit Sonnenbrille auf der Nase. Die Alternative: Manchmal fällt ungefähr ein halber Zentimeter Schnee, dann kollabiert in der Provence gleich das öffentliche Leben. Nichts geht mehr, und das ist über die Feiertage doch auch recht schön. („Nichts geht mehr!“ funktioniert auch dieses Jahr zu Weihnachten und Silvester, das hat aber nichts mit dem Wetter zu tun: Halb Frankreich streikt, der eine oder andere wird vielleicht schon Bilder in den Nachrichten gesehen haben. Der neueste Gag: Streikende der Gewerkschaft CGT schalten Städten und ganzen Regionen den Strom ab, Blackout als Mittel des Protests. Typen, die sich darüber aufregen, dass sie nach der Reform nicht mehr mit 52 Jahren in Rente gehen können, knipsen mitten im Winter Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten und Altenheimen für vier bis acht Stunden den Saft ab – man muss halt Prioritäten setzen.)
Na, jedenfalls, jetzt das Wetter: Also Regen. Kennt man ja eigentlich als ehemaliger Hamburger, kann man gelassen sehen. Das erste Problem ist, dass diesen Winter im Midi an einem Tag so viel Regen fällt wie sonst in einem Monat. Das zweite Problem: Wir haben inzwischen mehrerer solcher Regentage im Monat...



Das hat, erklären Meteorologen, irgendwie auch mit dem Klimawandel zu tun, was irgendwie niemanden mehr überrascht. Höhere Temperaturen bedeuten mehr Verdunstung über dem Mittelmeer, mehr feuchte Luft, mehr Wolken, die gegen Alpen und Alpilles gedrückt werden und sich dort ordentlich erleichtern. Die Folge: Land unter.
Die Touloubre, ein simpler Bach, der an unserem Grundstück entlang mäandert, verwandelt sich in eine Art Seenplatte mit eingebauter Strömung. Zuerst transformieren sich die Wälder im Tal in Mangroven. Dann haben wir erdbraunes Wasser (und, ja, darin treibenden Plastikmüll) auf der Wiese. Schließlich schauen die Fluten bei unserem Nachbarn am gegenüberliegenden, zu unserem Glück und ihrem Pech tieferliegenden Ufer vorbei und sagen im Wohnzimmer fröhlich glucksend „Bonjour!“, ein paar Zentimeter hoch.
Eine kleine Brücke, die bei uns im Wald sonst über das Wasser führt, liegt plötzlich unter Wasser. Der eigentlich so harmlose Bach spült glatt drüber weg, man staunt bloß, wenn man daneben steht – so lange man noch daneben stehen kann, als es weiter steigt, muss man sich nämlich in Sicherheit bringen.



Apropos in Sicherheit bringen: Bei so einem Regen zieht sich der Norddeutsche die Funktionsjacke an und geht mit dem Hund Gassi. In Südfrankreich sterben ein Dutzend Menschen. Warum? Ein, zwei Opfer haben schlicht verdammtes Pech: Sie werden überrascht, stürzen unglücklich in den Fluten, oder sind gebrechlich und also hilflos, wenn das Wasser kommt. Die meisten sterben allerdings im, durch und wegen … ihres Autos. Manche fahren zum Beispiel mitten während der Sintflut auf kleinen Landstraßen neben besagten Bächen her, die sich leider jedoch in kürzester Zeit in Monster verwandeln können. In Südfrankreich sind schon Autos mitsamt Fahrern neben einem Flusslauf verschollen – und im Mittelmeer wiedergefunden worden, buchstäblich bis auf die offene See hinausgespült.
Andere versuchen, mit ihrem Wagen Unterführungen zu durchqueren, die sich für alle Augenzeugen (nur offenbar nicht den Fahrer selbst) erkennbar in Tauchbecken verwandelt haben. Wieder andere wollen ihre geliebten Vierradler retten und stürzen sich in Tiefgaragen, während draußen der Tsunami kommt.



Klingt nach Kandidaten für den Darwin-Award? Sie dürfen spotten, ich nicht: Bei einem Gewitter bin ich mal nachts, es war wohl drei oder vier Uhr, aufgewacht, und mein erster Gedanke war: Putain, die Karre steht noch unten auf der Wiese! Also bin ich in nicht hundertprozentig der Situation angemessener Kleidung durch die Fluten der Hölle runter getaumelt und habe meinen eigentlich schon im französischen Rentenalter befindlichen Chrysler angeworfen. Ich war nicht allein. Mein Schwager hat sich im Pyjama und mit Heldenmut in seinen Wagen geschmissen. Wir haben es so gerade mit unseren Personenkraftwagen bis zum rettenden Ufer geschafft. Wäre ich ein bisschen später aufgewacht, ich könnte diese Zeilen heute wohl nicht schreiben. Nenn mich Evolutionsnull, Mann!
In diesem Sinne: Feiern Sie fröhlich und, wenn es sein muss, feiern Sie feucht! Aber dabei immer an Darwin denken...


P.S.: Den Chrysler, für den ich meinen Allerwertesten riskiert habe, haben wir bald darauf übrigens verschrottet.