Samstag, 2. Januar 2016

Die Provence nach dem Terror, oder: Wir leben in der Schulbuch-Zeit

Wir leben in einer Zeit, die mal groß in den Schulbüchern behandelt werden wird. Das zumindest sagen unsere Kinder, und sie wissen nicht genau, ob sie das eher stolz oder eher unsicher machen soll. Sicherlich markiert das Jahr 2015 für Frankreich eine Wende – aber eine Wende wohin? Die schrecklichen Attentate zu Beginn und zum Ende (und all die Verhaftungen, Verdächtigungen, Aktionen dazwischen und danach). Der abgestürzte Airbus in den Alpen. Der schlimmste Verkehrsunfall der letzten Jahrzehnte, die opferreichste TGV-Entgleisung überhaupt, die tödlichen Sturzregen an der Côte d'Azur... Habe ich etwas vergessen? Ach ja: Den Front National.



Die Attentate vom Januar sind der Schock schlechthin gewesen, denn sie kamen, allen Drohungen und Gewalttaten davor zum Trotz, doch irgendwie aus dem Nichts. Seither weiß jeder, dass Frankreich Todfeinde hat. Und dass diese Todfeinde Franzosen sind, die verachteten Verliererer aus den unwirtlichen Vororten. Es ist der Grande Nation in den 1970er-Jahren übrigens trotz ihres legendären Stilgefühls gelungen, selbst im hinterletzten Kaff und in der malerischten Stadt unfassbar brutale Wohnmaschinen hochzuziehen. Wer's nicht glaubt, der kann ja mal eine Expedition in die Banlieus der antiken Stadt Arles, der Papst-Stadt Avignon oder der Nostradamus-Stadt Salon-de-Provence unternehmen. (Nein, nein, nein: Das ist eine rhetorische Aufforderung, KEINE echte. Wer aussieht wie ein Deutscher, wer spricht wie ein Deutscher, wer ein Auto mit deutschem, schweizerischen, österreichischem Kennzeichen bewegt, der ist an anderen Orten besser aufgehoben als ausgerechnet in den Hochhausschluchten. Einer unserer Verwandten hat Jahre lang in den Quartiers Nord von Marseille gewohnt, meine Tochter hatte einen Tanzkurs im Gemeindezentrum von Canourgues, mein Sohn hat mit den Jungs von dort Basketball gespielt: Sehr nette, und oft genug sehr hart arbeitende Leute, aber halt kein Universum, in das man naiv hineinstolpern sollte.)
Trotzdem waren die IS-Morde vom Freitag, dem 13., noch schlimmer. Nicht bloß der Zahl der Opfer wegen, sondern der Zahl der potenziellen Opfer: Zehntausende im Stadion von Paris, Tausende in den vielen Restaurants und Cafés. Dazu Tausende Polizisten und Soldaten, die mobilisiert worden sind. (Allein auf dem Flugzeugträger „Charles de Gaulle“, der in die Krisenregion entsandt worden ist, dienen mehr als 2000 Männer und Frauen.) Das führt dazu, dass erst seit Ende November fast jede Familie irgendwie spürt, dass die Einschläge näher kommen: Ein Cousin und seine Freundin leben in Paris, waren dort abends essen – und mussten sich in den hinteren Bereich eines Restaurants ein paar Meter neben einem Anschlagsort zurückziehen, bis irgendwann in der Nacht die Polizei alle wieder hinausgelassen hat. Die Familie eines Schulkameraden unseres Sohnes hat drei Freunde im „Bataclan“ verloren. Solche Dinge. Nicht dramatisch für einen selbst, aber auch nicht mehr bloß das, was man nur im Fernsehen sieht.
Vor den Schulen standen schwer bewaffnete Posten und haben die Kinder behütet. Klassenausflüge sind auch jetzt noch gestrichen – das Land befindet sich schließlich im Ausnahmezustand. Und als wir am 24. Dezember zur Weihnachtsmesse gingen, haben Polizisten mit einem Kampfhund das Gotteshaus bewacht. (Wie übrigens auch Moscheen und schon sehr lange Synagogen geschützt werden müssen.)
Was dabei wirklich frustrierend ist: Diese IS-Heinis sind ja nicht die Wehrmacht oder die Rote Armee. Das ist bloß eine Bande dünnbärtiger Kleinkrimineller, die Typen, die nie ein Mädchen abkriegen und in den Hohlraum hinter ihrer Stirn so viel Frust hochpumpen, bis dieser sich in enthemmter Gewalt (gegen Wehrlose, klar) final entlädt. Für Polizisten muss es die Hölle sein, die erratischen Taten solcher Verlierer vorherzusagen. Irgendwann, irgendwo kommst du immer zu spät, weil sie sich Opfer suchen werden, mit denen niemand gerechnet hat.
Aber Politiker? Als Staatsmann oder -frau sollte man sein „Ship of State“ doch ein wenig souveräner durch diesen Sturm steuern. Nach den „Charlie-Hebdo-“Anschlägen kamen aus Paris viele Worte und wenige Taten. Nach den November-Attentaten will man nun gleich die Verfassung ändern und bombardiert Syrien. Hallo? Strategie, wo bist du? Man hat den Eindruck, die Gestalten der Regierung (und die der Opposition) sind zu klein für ihre großen Aufgaben. Und das gilt nicht bloß für Hollande und Sarkozy.
Ein lokales Beispiel?
Vor ein paar Tagen gab es in einer Nachbargemeinde einen Arbeitskampf. Nach einer jener unglaublich komplizierten und vermutlich unglaublich wirkungslosen Hollande-Verwaltungs-Reformen werden ein paar Dutzend Waldarbeiter von einer kommunalen Organisation zu einer anderen städtischen Verwaltung versetzt. Sie verlieren dabei ein par Euro Prämien im Monat und, quelle horreur, sie haben fortan nicht mehr gegen 14 Uhr Feierabend, sondern müssen bis 16 Uhr arbeiten, mindestens!
Was tun? Amnesty International rufen? Hm. Streiken? Nun ja. Wenn Waldarbeiter im Dezember streiken, dann kriegen das die Bürger nicht so wirklich mit. Und wenn es die Bürger nicht ärgert, dann ärgert es die Politiker auch nicht. Also haben unsere wackeren Waldarbeiter, genau, zum Beispiel den Hof der Müllentsorger blockiert. Die Müllwagen kamen nicht mehr heraus, die Container blieben voll. Das ärgert Bürger!
Aber nicht genug: Also haben einige Arbeiter auch den Betriebshof unserer Nachbarstadt mit ihren Renaults und Peugeots blockiert. Überfallartig, am frühen Morgen. Die Gendarmen kommen hinzu, tun aber nichts. Der Bürgermeister erfährt das, rast hin, bekommt Anfälle. Dialog vor Augen- und Ohrenzeugen, mehr oder weniger im O-Ton:
Bürgermeister: „Frankreich befindet sich im Ausnahmezustand! Ihr dürft nicht demonstrieren!“
CGT-Funktionär: „Wir demonstrieren nicht, wir blockieren!“
Bürgermeister: „Ihr wollt bloß euren frühen Feierabend behalten, weil ihr nachmittags alle schwarz arbeitet! Seit 40 Jahren bin ich Bürgermeister, aber so etwas habe ich noch nie erlebt!“
Gendarm: „Sie sind seit 38 Jahren im Amt, Monsieur le Maire.“
Bürgermeister: Greift zum Telefon, spricht mit ein paar loyalen städtischen Angestellten. Fünf Minuten später rauschen einige zufälligerweise außerhalb des Betriebshofes abgestellte Service-Autos der Gemeinde heran und werden quer auf der Straße geparkt. Als die Steikposten nun in ihre hart erarbeitete Mittagspause gehen wollen, kommen sie plötzlich selbst nicht mehr vom Hof. Die Meta-Blockade ist errichtet, das Chaos komplett.
Louis de Funès ist wieder auferstanden, und er tobt durch die Provence. Das ist schon sehr, sehr komisch, klar, und sympathisch ist es auch (bis auf den stinkenden Müll, der aus den Containern quillt), aber irgendwann stehst du da und sagst dir: Putain, haben wir nicht gerade andere Probleme? Und sind das die Leute, die unsere Probleme lösen werden? Und werden sie die mit der Louis-de-Funès-Methode lösen? Brauchen wir nicht eher ein paar de Gaulles? Es reicht doch nicht, dass man bloß ein Kriegsschiff nach dem alten Kämpfer tauft, oder?
Dann denkt man an die Attentate, und dann fallen einem auch die Millionen absurder Vorschriften und Gesetze dieses Landes ein und die Millionen Arbeitslosen und der erstickende Stillstand und diese lähmende Mutlosigkeit der politischen Klasse und dann irgendwann weißt du, warum nicht nur der xenophobe Jobsucher den Front National wählt.
In unserem Städtchen haben bei der entscheidenden zweiten Runde der letzten Regionalwahl, als es nur noch darum ging, den Kandidaten der demokratischen oder den der extremen Rechten zu wählen (die Sozialisten und Grünen und Rest-Kommunisten hatten sich bereits nach dem ersten Wahlgang per politischem Selbstmord aus dem Rennen katapultiert), die Bürger folgendermaßen entschieden:
Nicht-Wähler, leere oder ungültige Stimmzettel: 386
Front National: 377
Republikaner: 347
Die Nation von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit erinnert in den 2010er-Jahren irgendwie sehr, sehr ungut an das Deutschland der frühen 1930er-Jahre. Ein Fall für die Schulbücher, fürwahr.