Wir
leben in einer Zeit, die mal groß in den Schulbüchern behandelt
werden wird. Das zumindest sagen unsere Kinder, und sie wissen nicht
genau, ob sie das eher stolz oder eher unsicher machen soll.
Sicherlich markiert das Jahr 2015 für Frankreich eine Wende – aber
eine Wende wohin? Die schrecklichen Attentate zu Beginn und zum Ende
(und all die Verhaftungen, Verdächtigungen, Aktionen dazwischen und
danach). Der abgestürzte Airbus in den Alpen. Der schlimmste
Verkehrsunfall der letzten Jahrzehnte, die opferreichste
TGV-Entgleisung überhaupt, die tödlichen Sturzregen an der Côte
d'Azur... Habe ich etwas vergessen? Ach ja: Den Front National.
Die
Attentate vom Januar sind der Schock schlechthin gewesen, denn sie
kamen, allen Drohungen und Gewalttaten davor zum Trotz, doch
irgendwie aus dem Nichts. Seither weiß jeder, dass Frankreich
Todfeinde hat. Und dass diese Todfeinde Franzosen sind, die
verachteten Verliererer aus den unwirtlichen Vororten. Es ist der
Grande Nation in den 1970er-Jahren übrigens trotz ihres legendären
Stilgefühls gelungen, selbst im hinterletzten Kaff und in der
malerischten Stadt unfassbar brutale Wohnmaschinen hochzuziehen.
Wer's nicht glaubt, der kann ja mal eine Expedition in die Banlieus
der antiken Stadt Arles, der Papst-Stadt Avignon oder der
Nostradamus-Stadt Salon-de-Provence unternehmen. (Nein, nein, nein:
Das ist eine rhetorische Aufforderung, KEINE echte. Wer aussieht wie
ein Deutscher, wer spricht wie ein Deutscher, wer ein Auto mit
deutschem, schweizerischen, österreichischem Kennzeichen bewegt, der
ist an anderen Orten besser aufgehoben als ausgerechnet in den
Hochhausschluchten. Einer unserer Verwandten hat Jahre lang in den
Quartiers Nord von Marseille gewohnt, meine Tochter hatte einen
Tanzkurs im Gemeindezentrum von Canourgues, mein Sohn hat mit den
Jungs von dort Basketball gespielt: Sehr nette, und oft genug sehr
hart arbeitende Leute, aber halt kein Universum, in das man naiv
hineinstolpern sollte.)
Trotzdem
waren die IS-Morde vom Freitag, dem 13., noch schlimmer. Nicht bloß
der Zahl der Opfer wegen, sondern der Zahl der potenziellen Opfer:
Zehntausende im Stadion von Paris, Tausende in den vielen Restaurants
und Cafés. Dazu Tausende Polizisten und Soldaten, die mobilisiert
worden sind. (Allein auf dem Flugzeugträger „Charles de Gaulle“,
der in die Krisenregion entsandt worden ist, dienen mehr als 2000
Männer und Frauen.) Das führt dazu, dass erst seit Ende November
fast jede Familie irgendwie spürt, dass die Einschläge näher
kommen: Ein Cousin und seine Freundin leben in Paris, waren dort
abends essen – und mussten sich in den hinteren Bereich eines
Restaurants ein paar Meter neben einem Anschlagsort zurückziehen,
bis irgendwann in der Nacht die Polizei alle wieder hinausgelassen
hat. Die Familie eines Schulkameraden unseres Sohnes hat drei Freunde
im „Bataclan“ verloren. Solche Dinge. Nicht dramatisch für einen
selbst, aber auch nicht mehr bloß das, was man nur im Fernsehen
sieht.
Vor
den Schulen standen schwer bewaffnete Posten und haben die Kinder
behütet. Klassenausflüge sind auch jetzt noch gestrichen – das
Land befindet sich schließlich im Ausnahmezustand. Und als wir am
24. Dezember zur Weihnachtsmesse gingen, haben Polizisten mit einem
Kampfhund das Gotteshaus bewacht. (Wie übrigens auch Moscheen und
schon sehr lange Synagogen geschützt werden müssen.)
Was
dabei wirklich frustrierend ist: Diese IS-Heinis sind ja nicht die
Wehrmacht oder die Rote Armee. Das ist bloß eine Bande dünnbärtiger
Kleinkrimineller, die Typen, die nie ein Mädchen abkriegen und in
den Hohlraum hinter ihrer Stirn so viel Frust hochpumpen, bis dieser
sich in enthemmter Gewalt (gegen Wehrlose, klar) final entlädt. Für
Polizisten muss es die Hölle sein, die erratischen Taten solcher
Verlierer vorherzusagen. Irgendwann, irgendwo kommst du immer zu
spät, weil sie sich Opfer suchen werden, mit denen niemand gerechnet
hat.
Aber
Politiker? Als Staatsmann oder -frau sollte man sein „Ship of
State“ doch ein wenig souveräner durch diesen Sturm steuern. Nach
den „Charlie-Hebdo-“Anschlägen kamen aus Paris viele Worte und
wenige Taten. Nach den November-Attentaten will man nun gleich die
Verfassung ändern und bombardiert Syrien. Hallo? Strategie, wo bist
du? Man hat den Eindruck, die Gestalten der Regierung (und die der
Opposition) sind zu klein für ihre großen Aufgaben. Und das gilt
nicht bloß für Hollande und Sarkozy.
Ein
lokales Beispiel?
Vor
ein paar Tagen gab es in einer Nachbargemeinde einen Arbeitskampf.
Nach einer jener unglaublich komplizierten und vermutlich unglaublich
wirkungslosen Hollande-Verwaltungs-Reformen werden ein paar Dutzend
Waldarbeiter von einer kommunalen Organisation zu einer anderen
städtischen Verwaltung versetzt. Sie verlieren dabei ein par Euro
Prämien im Monat und, quelle horreur, sie haben fortan nicht
mehr gegen 14 Uhr Feierabend, sondern müssen bis 16 Uhr arbeiten,
mindestens!
Was
tun? Amnesty International rufen? Hm. Streiken? Nun ja. Wenn
Waldarbeiter im Dezember streiken, dann kriegen das die Bürger nicht
so wirklich mit. Und wenn es die Bürger nicht ärgert, dann ärgert
es die Politiker auch nicht. Also haben unsere wackeren Waldarbeiter,
genau, zum Beispiel den Hof der Müllentsorger blockiert. Die
Müllwagen kamen nicht mehr heraus, die Container blieben voll. Das
ärgert Bürger!
Aber
nicht genug: Also haben einige Arbeiter auch den Betriebshof unserer
Nachbarstadt mit ihren Renaults und Peugeots blockiert.
Überfallartig, am frühen Morgen. Die Gendarmen kommen hinzu, tun
aber nichts. Der Bürgermeister erfährt das, rast hin, bekommt
Anfälle. Dialog vor Augen- und Ohrenzeugen, mehr oder weniger im
O-Ton:
Bürgermeister:
„Frankreich befindet sich im Ausnahmezustand! Ihr dürft nicht
demonstrieren!“
CGT-Funktionär:
„Wir demonstrieren nicht, wir blockieren!“
Bürgermeister:
„Ihr wollt bloß euren frühen Feierabend behalten, weil ihr
nachmittags alle schwarz arbeitet! Seit 40 Jahren bin ich
Bürgermeister, aber so etwas habe ich noch nie erlebt!“
Gendarm:
„Sie sind seit 38 Jahren im Amt, Monsieur le Maire.“
Bürgermeister:
Greift zum Telefon, spricht mit ein paar loyalen städtischen
Angestellten. Fünf Minuten später rauschen einige zufälligerweise
außerhalb des Betriebshofes abgestellte Service-Autos der Gemeinde
heran und werden quer auf der Straße geparkt. Als die Steikposten
nun in ihre hart erarbeitete Mittagspause gehen wollen, kommen sie
plötzlich selbst nicht mehr vom Hof. Die Meta-Blockade ist
errichtet, das Chaos komplett.
Louis
de Funès ist wieder auferstanden, und er tobt durch die Provence.
Das ist schon sehr, sehr komisch, klar, und sympathisch ist es auch
(bis auf den stinkenden Müll, der aus den Containern quillt), aber
irgendwann stehst du da und sagst dir: Putain, haben wir nicht
gerade andere Probleme? Und sind das die Leute, die unsere Probleme
lösen werden? Und werden sie die mit der Louis-de-Funès-Methode
lösen? Brauchen wir nicht eher ein paar de Gaulles? Es reicht doch
nicht, dass man bloß ein Kriegsschiff nach dem alten Kämpfer tauft,
oder?
Dann
denkt man an die Attentate, und dann fallen einem auch die Millionen
absurder Vorschriften und Gesetze dieses Landes ein und die Millionen
Arbeitslosen und der erstickende Stillstand und diese lähmende
Mutlosigkeit der politischen Klasse und dann irgendwann weißt du,
warum nicht nur der xenophobe Jobsucher den Front National wählt.
In
unserem Städtchen haben bei der entscheidenden zweiten Runde der
letzten Regionalwahl, als es nur noch darum ging, den Kandidaten der
demokratischen oder den der extremen Rechten zu wählen (die
Sozialisten und Grünen und Rest-Kommunisten hatten sich bereits nach
dem ersten Wahlgang per politischem Selbstmord aus dem Rennen
katapultiert), die Bürger folgendermaßen entschieden:
Nicht-Wähler,
leere oder ungültige Stimmzettel: 386
Front
National: 377
Republikaner:
347
Die
Nation von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit erinnert in den
2010er-Jahren irgendwie sehr, sehr ungut an das Deutschland der
frühen 1930er-Jahre. Ein Fall für die Schulbücher, fürwahr.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen