Vor
hundert Jahren ist der Tod in die provenzalischen Dörfer
geschlichen, und dort sind seine Spuren bis heute zu sehen. Weit mehr
als eine Millionen Gefallene hatte Frankreich im Ersten Weltkrieg zu
beklagen. Und auch die Städte und noch die letzten Dörfchen im Midi
– in jeder Hinsicht weit von Front und Feind entfernt – haben
zwischen 1914 und 1918 einen schrecklichen Blutzoll entrichtet.
Seither ehrt auf fast jedem Friedhof hier ein Monument – mal
pathetisch (umstellt von Granatenhülsen und Reliefs), mal schlicht
(ein Kreuz, ein Stein) – die Opfer. Und noch heute überläuft
jeden Besucher ein Schauder, wenn er liest, wie viele Namen selbst in
winzigen Gemeinden dort verewigt worden sind.
An
jedem 11. November, dem Tag des Waffenstillstands 1918, gedenken
Veteranen, Bürgermeister, Offiziere, Honoratioren und ziemlich normale
Bürger der Toten. Bei uns sind es an diesem Novembermorgen mit
Maitemperaturen und einem azurblauen Himmel drei medaillenbehangene
ältere Herren, die schwer an ihren Fahnenstangen mit der Trikolore tragen –
ehemalige Soldaten, die den Zweiten Weltkrieg oder einen der bitteren
Kolonialkriege überlebt haben, die poilus
des Ersten Weltkrieges haben ihren letzten Kampf längst ausgekämpft.
Die Männer gehen vom Rathaus den Hang zum Friedhof hinunter, gefolgt vom
Bürgermeister in der rot-weiß-blauen Schärpe, von etwa dreißig
Bürgern und zehn Kindern, die Grundschullehrerin führt zwei Eleven
an der Hand.
Nur
die Herren Offiziere sind nirgendwo zu sehen. Allüberall finden
nämlich die Gedenkfeiern um 11.00 Uhr statt, bloß in unserem
Städtchen marschiert die Delegation ausnahmsweise bereits um 10.00
Uhr auf – damit die Veteranen anschließend zu den Gedenkfeiern der
größeren Nachbargemeinden eilen und auch dort strammstehen können.
Diese Terminänderung ist offenbar jedoch weder zur Base Aérienne
mit ihren Luftwaffenoffizieren, noch zur nächstgelegenen
Gendarmeriestation durchgedrungen.
Denn
halt ohne Profis in Uniform: Aus einem silber-orangefarbenen
CD-Player, den jemand auf einen Grabpfosten gestellt hat, scheppert
militärischer Trommelwirbel, die Trikoloren senken sich.
Gedenkminute. Die Marseillaise aus dünnen Kinderstimmen weht über
die Gräber. Zwei kurze Reden. Die Sprecher erinnern an die Toten –
und daran, dass Frankreich auch in dieser Minute wieder Kriege führt,
in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und manchmal mitten in den
Herzen der eigenen Städte.
Später,
die meisten Gäste der Zeremonie sind schon davonspaziert, sehen
meine Tochter und ich uns das Monument noch genauer an: Ein
pfeilerförmiger, reliefgeschmückter Stein unter einem Kreuz , darum
schmiedeeiserne Ketten, sehr schlicht und schon ziemlich verwittert.
In Marmorplatten an den Steinseiten sind die Namen der Toten
gegraben, ihr Alter, der Tag ihres Endes: Männer in ihren zwanziger
und dreißiger Lebensjahren, als der Schnitter sie holte. Männer,
die Namen tragen, die heute noch jedes zweite Klingelschild im Dorf
schmücken. Einen hat der Tod schon wenige Wochen nach Kriegsausbruch
ereilt, hinter dem letzten Opfer steht das Sterbedatum 30. November
1918. Neunzehn Tage nach dem Waffenstillstand – ist er seinen
Verletzungen erst dann erlegen? Oder hat ihn, während er noch in der
Truppe diente, die Spanische Grippe dahingerafft? Die Inschrift
verrät es nicht.
Manche
Familien haben ihren Männern zusätzlich emaillierte Metallplaketten
an das Monument geheftet: Memento mori, vom Rost angefressen, das
Email rissig, die Farben von Sonne und Regen ausgebleicht, die
aufgezogenen Sepiafotos verblasst. Wir sehen genauer hin und
stutzen: Charles Soma ist, dreiundzwanzigjährig, 1915 auf dem Feld
geblieben. Am 10. März, so steht es in der offiziellen Liste. Am 17.
März, so verkündet es die Emailletafel seiner Familie.
Emilien
Callimand, der nur fünfundzwanzig Jahre alt wurde, ist schon 1914
gestorben. Doch ob er am 9. Oktober fiel, wie es in der Liste steht?
Oder erst am 18. Dezember, wie es seine Hinterbliebenen bekunden?
Wir sprechen den Bürgermeister an, der ziemlich verblüfft ist, denn diese unterschiedlichen Daten sind, zumindest in den letzten Jahrzehnten, niemandem je aufgefallen. Wir rätseln gemeinsam: Womöglich verrät die offizielle Liste das tatsächliche Todesdatum, die Familien haben dies jedoch erst Tage (oder Monate) später erfahren? Oder ist dann erst der Körper geborgen und damit das Hinscheiden gewissermaßen formalisiert worden?
Werden
die Somas und Callimands in den Tagen und Monaten zwischen den
fatalen Daten ahnungslos gewesen sein? Werden sie ihren Söhnen,
Brüdern, Männern noch Briefe geschrieben haben, während die doch
schon längst im Erdreich erkaltet waren? Oder haben die Familien
doch schon etwas geahnt, sind sie durch eine Art Niemandsland
zwischen zwei Todesdaten gewandert, trauernd schon und doch noch
nicht ganz todesgewiss?
In
die Marmortafeln sind später übrigens noch mehr Namen graviert
worden. Ein Soldat, der in den Zwanziger Jahren gestorben ist,
vielleicht in einem frühen Kolonialkrieg. Die (glücklicherweise
wenigen) Toten aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Algerienkonflikt.
Und es gibt noch Platz dort, auf dem Monument unter dem blauen
Himmel. Platz für die Toten von Frankreichs nächsten Kriegen.
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