Samstag, 19. Juli 2014

Mao und Stalin in der Provence

Mao und Stalin haben die Zufahrt zu unserem Haus bewacht. Zumindest ein paar Tage lang. Vor unserem Tor nämlich liegt, nun ja, „Platz“ möchte man das nicht nennen, sagen wir: eine Delle am Straßenrand. Ein Kiesstreifen unter Platanenschatten neben der Route départementale, groß genug für das Wartehäuschen des Busses. Und eines Morgens leuchteten aus diesem Häuschen schwarz und rot die Porträts der beiden grausigen Genossen heraus. Die Graffitti hätten es wohl nie ins Museum of Modern Art gebracht, aber klar genug zu erkennen waren die beiden Politiker allemal. Nostalgie und Heimatgefühle: In Deutschland hat man so etwas zuletzt prä-1989 an den Betonwänden mancher Uni-Fakultäten gesehen...
Wer hat Mao und Stalin bloß in die Provence gesprüht? Der letzte Stalinist des Südens? Oder ist das ein, auch schon nicht mehr ganz taufrisches, postmodern-ironisches Zitat? Erkennen wir dieselbe sichere Hand des unbekannten „Meister der kackenden Ente“ wieder? Das Federvieh, das sich so ungeniert erleichtert, ist einige Wochen zuvor im Wartehäuschen (und auf manchen Nebensträßchen) aufgetaucht. Wie auch immer: Der Bus fährt hier nur, wenn man ihn telefonisch bestellt. Ob als politisches Manifest oder ironisches Zitat, die beiden Kerle haben so gut wie kein Publikum.
Dachte ich...
Doch einmal im Jahr spendiert auf eben jener Straßendelle der Bürgermeister einen apéretif für das Dorf: Rosé und Saft und Cola, Pizza, Knabberkram und gute Laune. Die Nachbarn kommen, Monsieur le Maire ist da, alle haben zwei Stunden Spaß, dann geht man heim zum Mittagessen.
Diesen Sommer jedoch steht ein winziger Renault Clio der Gendarmerie vor dem Tor, drei sichtlich genervte Uniformierte quetschen sich heraus. Protest! Für die feucht-fröhliche Zusammenkunft haben sich fünf Dorfbewohner zur Demo angemeldet. (Mussten die Gendarmen deshalb ausrücken? Oder hat der Bürgermeister sie herbeordert, weil er Schlimmeres befürchtete?) Die fünf aufrechten Krieger jedenfalls haben die Platanen mit Zetteln zugepflastert. Und sie haben sich weiße Hemden übergestreift, auf denen selbst gemalte Parolen prangen: „Pas d'eau, pas d'apéro!“ - „Kein Wasser, kein Apéritif!“
Unser Weiler ist nämlich nicht ans öffentliche Leitungsnetz angeschlossen, jeder Hausbesitzer pumpt sein eigenes Grundwasser hoch. (Und nachdem das Wasser den Weg gegangen ist, den Wasser so geht, versickert es in, genau, Sickergruben.) Die fünf Protestanten der Provence hätten nun gerne Leitungswasser gehabt, hätten es schon seit Jahren gerne (alle anderern übrigens auch), doch, ach, das liebe Geld ist nicht da oder vielleicht fehlt es auch am Willen von Bürgermeister und Gemeinderat oder bloß am Interesse für einen wirklich winzigen Weiler. Jedenfalls haben die Demonstranten den Apéritif demonstrativ verweigert und sich mit ihren besprühten Hemden am Rand der Delle aufgebaut und … Boule gespielt.
Irgendwann hielten selbst die Flics, die in Frankreich viele Demonstrationen kennen, die andernorts Nummern für die „versteckte Kamera“ wären, diese Manifestation für so ungefährlich, dass sie ihre schwitzenden Leiber in den Kleinwagen zurück zwängten, ausatmeten, damit die Türen zugingen – und davonbrausten.
Das war die Revolution des Samstagmittags. Bis mir, ein Glas in der Hand, das Wartehäuschen auffiel. Neu gestrichen! Putain, sie haben Stalin und Mao und die kackende Ente in einer Nacht-und-Nebel-Aktion hinter Baumarktfarbe verschwinden lassen! Wahrscheinlich, damit der Blick unseres Bürgermeisters, von fünf Boulespielern bereits arg strapaziert, nicht auch noch von zwei Gespenstern der Vergangenheit beleidigt wird.

Dafür war Geld da und der Wille und das Interesse wohl auch.