Donnerstag, 27. November 2014

Olympique de Marseille, die größte Religionsgemeinschaft der Provence

Die Anhänger von Olympique de Marseille stellen die größte Religionsgemeinschaft in der Provence. Neulich – ein Sonntag im November, einundzwanzig Uhr, man könnte denken, die Leute hätten Besseres zu tun – wallfahrten mal wieder 55.000 Gläubige zum Stade Vélodrome. Das ultraneue Stadion leuchtet blau wie ein iPad-Spiel und wölbt sich zwischen Wohnblocks auf wie ein Ufo, das in der Mikrowelle weichgekocht worden ist. Das Schmuckstück strahlt mitten in der Mittelmeermetropole, ist die größte Vereinsanlage Frankreichs und wahrscheinlich das einzige „Fahrradstadion“ (so kann man den Namen ungefähr übersetzen), in der man mit einem Fahrrad nicht einen Meter vorankommen würde. Ganz früher, l'OM wurde schon 1899 gegründet, kickten langbehoste Helden mal umzingelt von Rennradbahnen, aber das ist lange, lange vorüber und nur der Name hallt noch fort.
Marseille ist aktuell Tabellenerster. Girondins Bordeaux läuft auf, die Nummer vier. Ein Klassiker. Schlachtgesänge, ein, zwei eingeschmuggelte bengalische Feuer, Fahnen, gefühlte etwa dreißig Gästefans, von Ordnern umzingelt und isoliert auf der Tribüne mit der schlechtesten Sicht. Die anderen 54.970 Zuschauer sind Marseiller wie Du & ich und wenn man alles zusammenrechnet, dann sitzen hier sicher auch 54.970 Jahre Gefängnis auf den weißen Plastikstühlen.



Jubel. Herrliche südfranzösische Flüche, wenn immer ein Ball am Pfosten vorbeistreift. 54.970 Pfiffe, wenn ein Spieler aus Bordeaux die Unverschämtheit besitzt, den Ball zu berühren. Beim Abschlag des Gästetorwarts oder gar bei Fouls hallen Chöre durchs Rund, deren Inhalt man nicht wiedergeben kann, weil dieses Blog sonst von Google ins Nirwana zensiert wird. Die Spieler von l'OM in Weiß, wie es sich für Helden gehört, Girondins Böse spielt selbstverständlich in Schwarz.
Trotzdem 0 : 0 zur Halbzeitpause, putain. Nach der Kabine drehen die Weißen auf, schießen, schießen, schießen – und fangen sich einen sauberen Konter ein. 0:1. Abflauende Schlachtgesänge. Besorgte Blicke auf die Stadionuhr. Eine halbe Stunde vor Ende Tumult vor dem Kasten von Bordeaux. Ich sitze auf der falschen Stadionseite, putain. Was passiert da? Plötzlich ist das Leder im Netz. 1 : 1. Erleichterung links und rechts, für hiesige Verhältnisse gemäßigte Freudenbekundungen. Plötzlich sind die Weißen wach: 2:1! Jetzt ist es etwas lauter im Stadion. 3:1! Jetzt kann man uns bis Paris hören. (Paris ist dieses Dorf, in dem ein paar Scheichs mit Pipelines voller Petrodollar eine Legion unfassbar gut bezahlter Dribbler auf den Rasen schicken. So wie Hoffenheim, nur größer.)
Abpfiff. Heiter und gelassen drängt das Publikum in die 18 Grad laue Novembernacht. Noch immer Erster und Scheiß auf PSG! Es ist nach dreiundzwanzig Uhr. Im Auto brauche ich für die ersten 300 Meter durch die Stadt etwa eine Stunde. Fans überall. Ein Mitfahrer ermutigt uns: „Seid froh, dass l'OM gewonnen hat...“
Mais oui, Olympique de Marseille (das „de“ spricht hier allerdings kein Mensch mit) ist im Midi eine Institution und auch im Rest der Grande Nation beliebter als jeder andere Club. Neunfacher Meister. Frankreichs einziger Champions-League-Sieger, 1993, und Rudi Völler war hier! Mehr Siege, mehr Tore, mehr Stars als irgendwo sonst im Land.
Und mehr Verhaftungen...
Den europäischen Titel umwabern bis heute Gerüchte, dass viele Spieler vor dem Finale in München gegen Mailand gedopt worden sind. 1994 wurden Funktionäre überführt, ein Liga-Spiel verschoben zu haben. Zwangsabstieg in die Zweite Liga. Beinahe-Pleite. Das Comeback in Ligue 1, im letzten Jahr wieder Champions League. (Über die Ergebnisse dort, äh, schweigen wir besser.) Und nun: Wieder Verhaftungen.
Mitte November wurde praktisch die gesamte Vereinsspitze von der Justiz geköpft: Untersuchungshaft für den amtierenden Präsidenten Vincent Lebrune und seine beiden Vorgänger sowie mehrere Geschäftsführer und andere Manager – und zwei Kickboxer, die „Sicherheitschefs“ von l'OM sind. Der Vorwurf: Bei Millionentransfers von Spielern – wie vom Stürmer André-Pierre Gignac, der auch gegen Bordeaux wieder zugeschlagen hat und der aktuelle Gott im Stade Vélodrome ist - sei auch das eine oder andere Milliönchen in ganz andere Kassen geflossen. Zum Beispiel in die von dubiosen „Agenten“ der Profis. Man munkelt gar: Auch in die Kasse der Marseiller Mafia...
Nach 24 Stunden waren die meisten Helden wieder auf freiem Fuß, das Verfahren aber läuft weiter. Ob sie verurteilt werden? Nicht sicher. Ob was dran ist? Aber klar, hey, das hier ist Marseille! Fußball ist Big Business und Big Business ist in Marseille immer auch Big Crime. In Marseille haben sich nach Unfällen schon die Besatzungen verschiedener Krankenwagen um das Opfer geprügelt, weil es für jeden Verletzten in jedem Krankenhaus Prämien gab. Die staatliche Krankenversicherung zahlt schließlich jedem Hospital pro Verletzten einen Betrag, ein Teil davon ging als Kick-back an besonders eifrige Rettungssanitäter. Neapel, sieh dir das an und werde neidisch! (Die Fanschals von l'OM und Napoli sind übrigens so ähnlich, dass du dir den einen wie den anderen um den Hals schlingen kannst, egal, in welches Stadion du läufst. Verschwörungstheoretiker, macht euch an die Arbeit! Das hat doch was zu bedeuten?) Wenn du im Krankenhaus über das organisierte Verbrechen stolperst, dann wirst du doch nicht erwarten können, dass dir im Fußballstadion niemand ein Bein stellt, oder?

Im übernächsten Jahr ist übrigens Europameisterschaft in Frankreich. Im Stade Vélodrome wird es garantiert super Spiele geben. Tolle Stimmung. Und alles sauber. Dafür wird die Fifa schon sorgen, deren Funktionäre sind ja schließlich nicht korrupt.

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