Die
Anhänger von Olympique de Marseille stellen die größte
Religionsgemeinschaft in der Provence. Neulich – ein Sonntag im
November, einundzwanzig Uhr, man könnte denken, die Leute hätten
Besseres zu tun – wallfahrten mal wieder 55.000 Gläubige zum Stade
Vélodrome. Das ultraneue Stadion leuchtet blau wie ein iPad-Spiel
und wölbt sich zwischen Wohnblocks auf wie ein Ufo, das in der
Mikrowelle weichgekocht worden ist. Das Schmuckstück strahlt mitten
in der Mittelmeermetropole, ist die größte Vereinsanlage
Frankreichs und wahrscheinlich das einzige „Fahrradstadion“ (so
kann man den Namen ungefähr übersetzen), in der man mit einem
Fahrrad nicht einen Meter vorankommen würde. Ganz früher, l'OM
wurde schon 1899 gegründet, kickten langbehoste Helden mal umzingelt
von Rennradbahnen, aber das ist lange, lange vorüber und nur der
Name hallt noch fort.
Marseille
ist aktuell Tabellenerster. Girondins Bordeaux läuft auf, die Nummer
vier. Ein Klassiker. Schlachtgesänge, ein, zwei eingeschmuggelte
bengalische Feuer, Fahnen, gefühlte etwa dreißig Gästefans, von
Ordnern umzingelt und isoliert auf der Tribüne mit der schlechtesten
Sicht. Die anderen 54.970 Zuschauer sind Marseiller wie Du & ich
und wenn man alles zusammenrechnet, dann sitzen hier sicher auch
54.970 Jahre Gefängnis auf den weißen Plastikstühlen.
Jubel.
Herrliche südfranzösische Flüche, wenn immer ein Ball am Pfosten
vorbeistreift. 54.970 Pfiffe, wenn ein Spieler aus Bordeaux die
Unverschämtheit besitzt, den Ball zu berühren. Beim Abschlag des
Gästetorwarts oder gar bei Fouls hallen Chöre durchs Rund, deren
Inhalt man nicht wiedergeben kann, weil dieses Blog sonst von Google
ins Nirwana zensiert wird. Die Spieler von l'OM in Weiß, wie es sich
für Helden gehört, Girondins Böse spielt selbstverständlich in
Schwarz.
Trotzdem
0 : 0 zur Halbzeitpause, putain.
Nach der Kabine drehen die Weißen auf, schießen, schießen,
schießen – und fangen sich einen sauberen Konter ein. 0:1.
Abflauende Schlachtgesänge. Besorgte Blicke auf die Stadionuhr. Eine
halbe Stunde vor Ende Tumult vor dem Kasten von Bordeaux. Ich sitze
auf der falschen Stadionseite, putain.
Was passiert da? Plötzlich ist das Leder im Netz. 1 : 1.
Erleichterung links und rechts, für hiesige Verhältnisse gemäßigte
Freudenbekundungen. Plötzlich sind die Weißen wach: 2:1! Jetzt ist
es etwas lauter im Stadion. 3:1! Jetzt kann man uns bis Paris hören.
(Paris ist dieses Dorf, in dem ein paar Scheichs mit Pipelines voller
Petrodollar eine Legion unfassbar gut bezahlter Dribbler auf den
Rasen schicken. So wie Hoffenheim, nur größer.)
Abpfiff.
Heiter und gelassen drängt das Publikum in die 18 Grad laue
Novembernacht. Noch immer Erster und Scheiß auf PSG! Es ist nach
dreiundzwanzig Uhr. Im Auto brauche ich für die ersten 300 Meter
durch die Stadt etwa eine Stunde. Fans überall. Ein Mitfahrer
ermutigt uns: „Seid froh, dass l'OM gewonnen hat...“
Mais
oui,
Olympique de Marseille (das „de“ spricht hier allerdings kein
Mensch mit) ist im Midi eine Institution und auch im Rest der Grande
Nation beliebter als jeder andere Club. Neunfacher Meister.
Frankreichs einziger Champions-League-Sieger, 1993, und Rudi Völler
war hier! Mehr Siege, mehr Tore, mehr Stars als irgendwo sonst im
Land.
Und
mehr Verhaftungen...
Den
europäischen Titel umwabern bis heute Gerüchte, dass viele Spieler
vor dem Finale in München gegen Mailand gedopt worden sind. 1994
wurden Funktionäre überführt, ein Liga-Spiel verschoben zu haben.
Zwangsabstieg in die Zweite Liga. Beinahe-Pleite. Das Comeback in
Ligue 1, im letzten Jahr wieder Champions League. (Über die
Ergebnisse dort, äh, schweigen wir besser.) Und nun: Wieder
Verhaftungen.
Mitte
November wurde praktisch die gesamte Vereinsspitze von der Justiz
geköpft: Untersuchungshaft für den amtierenden Präsidenten Vincent
Lebrune und seine beiden Vorgänger sowie mehrere Geschäftsführer
und andere Manager – und zwei Kickboxer, die „Sicherheitschefs“
von l'OM sind. Der Vorwurf: Bei Millionentransfers von Spielern –
wie vom Stürmer André-Pierre Gignac, der auch gegen Bordeaux wieder
zugeschlagen hat und der aktuelle Gott im Stade Vélodrome ist - sei
auch das eine oder andere Milliönchen in ganz andere Kassen
geflossen. Zum Beispiel in die von dubiosen „Agenten“ der Profis.
Man munkelt gar: Auch in die Kasse der Marseiller Mafia...
Nach
24 Stunden waren die meisten Helden wieder auf freiem Fuß, das
Verfahren aber läuft weiter. Ob sie verurteilt werden? Nicht sicher.
Ob was dran ist? Aber klar, hey, das hier ist Marseille! Fußball ist
Big Business und Big Business ist in Marseille immer auch Big Crime.
In Marseille haben sich nach Unfällen schon die Besatzungen
verschiedener Krankenwagen um das Opfer geprügelt, weil es für
jeden Verletzten in jedem Krankenhaus Prämien gab. Die staatliche
Krankenversicherung zahlt schließlich jedem Hospital pro Verletzten
einen Betrag, ein Teil davon ging als Kick-back an besonders eifrige
Rettungssanitäter. Neapel, sieh dir das an und werde neidisch! (Die
Fanschals von l'OM und Napoli sind übrigens so ähnlich, dass du dir
den einen wie den anderen um den Hals schlingen kannst, egal, in
welches Stadion du läufst. Verschwörungstheoretiker, macht euch an
die Arbeit! Das hat doch was zu bedeuten?) Wenn du im Krankenhaus
über das organisierte Verbrechen stolperst, dann wirst du doch nicht
erwarten können, dass dir im Fußballstadion niemand ein Bein
stellt, oder?
Im
übernächsten Jahr ist übrigens Europameisterschaft in Frankreich.
Im Stade Vélodrome wird es garantiert super Spiele geben. Tolle
Stimmung. Und alles sauber. Dafür wird die Fifa schon sorgen, deren
Funktionäre sind ja schließlich nicht korrupt.
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