Wie
zaubert man weiße Weihnachten bei 15 Grad und milder Nachmittagssonne
herbei? Indem man mitten auf dem Pausenhof der école in
unserem Städtchen ein infernalisch lautes Gebläse aufstellt, das
Seifenschaum auf jeden spritzt, der nicht schnell genug in Deckung
springt. Willkommen in der Weihnachtszeit, den tollen Tagen im Midi.
Auf
der Weihnachtsfeier der Grundschule unserer Jüngsten stolziert ein
Weihnachtsmann durch den schaumigen Matsch. Aus Lautsprechern
scheppert Jazzmusik der zwanziger Jahre, noch lauter als das
vermaledeite Gebläse. Mütter und Väter helfen den Kleinen, Kerzen
mit Heißklebepistolen auf Holzscheiben zu applizieren. Glühweinhauch
und Kakaoduft wabern durch die Luft. Und dann stellen sich die Kinder
zum Chor auf und singen Lieder und es wird doch noch alles gut.
Die
Provence ist uraltes Kulturland. Selbst wenn man mal hochnäsig all
die ur- und vorgeschichtlichen Völkerschaften ignoriert und „Kultur“
mit der Antike und dem Guten, Schönen & Wahren beginnen lässt,
dann blickt man hierzulande seit den ersten griechischen Siedlern auf
mehr als 2500 Jahre Zivilisation zurück. Zweieinhalb Jahrtausende!
Zeit genug, möchte man meinen, dass sich Traditionen unauslöschlich
tief ins kollektive Unbewusste ätzen.
Doch
irgendwie habe ich den Eindruck, und Weihnachten mehr als sonst, dass
sich in den vergangenen zehn Jahren ein kognitiver Radiergummi durch
das Gedächtnis des Midi gefräst hat. Plötzlich stehen hier überall
Weihnachtsbäume herum – und das in einer Region, in der die
nächste wild lebende Tanne Hunderte Kilometer entfernt friedlich vor
sich hin wächst. In unserem Nachbardorf hat der Gemeinderat an
buchstäblich jeder Ecke Tannenbäumchen aufstellen lassen. Die
Dinger sehen allerdings so erbärmlich aus, dass ich zuerst an eine
deutsche Stadt nach den Feiertagen denken musste: Wenn all die
Bäume vor der Haustür auf dem Bürgersteig gammeln, damit die
Müllmänner sie mitnehmen...
Wer
will – und viele, viele wollen -, der kann sich auch ein
Plastikexemplar über den Gabentisch stellen. Das größte gibt's im
Gartenladen um die Ecke schon für 699 Euro und das ist kein
Tippfehler.
Unser
Städtchen gönnt sich eine Festbeleuchtung, deren Girlanden und
Sterne noch die Aliens von Proxima Centauri um den Schlaf bringen.
Lichterketten baumeln von der Kirche quer über den Platz bis zum
Uhrenturm. Wenn es regnet, brauchst du hier keinen Schirm, die
Glühbirnen über dir lassen die Tropfen verdampfen. Und an der
einsamen Route Départementale neben unserem Haus hängt eine
Sternschnuppe, die weiß blinkt. Jedes Mal, wenn ich abends vor die
Tür gehe, glaube ich, dass jemand mit dem Blitz fotografiert oder
mit einer LED-Taschenlampe hantiert: aus – ein – aus – ein, die
ganze, verdammte Nacht lang. Kurz: Die Provence sieht im Dezember so
aus, als seien hier drei übergeschnappte Heilige Könige Amok
gelaufen.
Dabei
muss das gar nicht sein, denn kaum irgendwo ist Weihnachten so schön
wie im Midi.
Statt
Tannenbaum baut man in der guten Stube und auch in jedem Gotteshaus
die crèche
auf, die Krippe. Oft ein Erbstück, schon vom Großvater oder
Urgroßvater getischlert. Ein Schuppen für die Heilige Familie,
mitten in den nachgeformten Gipfeln der Alpilles, und Steinhäuser,
Mühlen, Burgruinen, ein Bach und Brunnen dazu.
Du
baust diese kleine Welt aus Holz und Ton auf. Danach gehst du in den
Wald, kratzt Moos von den Steinen und pflückst Zweige. In der Krippe
verwandelt sich das Moos in eine Wiese, der Zweig in einen
Olivenbaum.
Bevölkert
wird diese Welt von santons, den „kleinen Heiligen“:
Marktfrauen, Angler, Jäger, Wäscherinnen, den Menschen der Provence
in Trachten des 19. Jahrhunderts. Ein Arzt stolziert herum, der
Richter droht, ein Kind führt einen Blinden, eine alte Frau geht,
gebeugt, im schwarzen Tuch der späten Jahre. Auch der Priester
und sein Vikar fehlen nicht und niemand stört sich daran, dass es
diese Berufe in der Nacht von Christi Geburt eigentlich noch gar
nicht geben kann.
Je
nach Größe der Krippe sind es kleine, bemalte Tonfiguren oder
armlange, buchstäblich bis in die Kragenspitzen detailliert
gearbeitete Puppen. Krippen gab es schon ewig – also zumindest seit
dem Mittelalter - in den Kirchen. Als nach der Französischen
Revolution dieser archaische Brauch jedoch zeitweise verboten wurde, bauten
sich die Provenzalen heimlich Krippen für ihre Häuser. Die ersten
Figuren formten sie aus Brotteig. Heute sind es Kunstwerke aus
gebranntem Ton, Stoff und dünnstem Metall, aber die Moden dieser
kleinen Heiligen sind noch immer die vergangener Epochen.
Traditionellerweise
kauft jede Familie für jedes Weihnachtsfest einen neuen Santon
hinzu, so dass man über die Jahre – oder nach einem Erbfall –
die Bevölkerung einer Kleinstadt um das Jesuskind versammeln kann.
(In Miramas-le-Vieux bieten Santon-Künstler beispielsweise ihre
Gestalten an, andere verkaufen sie auf speziellen Märkten, wo man
sogar Pétanque-Spieler erstehen kann. Dann schleudert ein Santon seine
Boulekugeln Joseph und Maria vor die Füße und die Engel singen
dazu.)
Im
Dezember wird in manchen Dörfern die Pastorale aufgeführt, eine Art
lebende Krippe. Ein Weihnachtsstück, das die Ereignisse der Heiligen
Nacht in die Provence versetzt. Jesus wird im Midi geboren. Es sind
Schäfer und Bäuerinnen, die dieses Abenteuer im Dialekt oder noch
auf Provençal mit
drastischen Worten beschreiben und besingen.
Das
Festtagsessen ist eine herrliche Völlerei, deren leichtester Gang
noch der letzte ist: Treize Desserts beenden den Schmaus,
dreizehn Nachtische: Obst, kandierte Früchte, Nüsse, Gebäck,
Nougat... Das Mahl wird auf drei weißen Tischdecken serviert,
Symbole für den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Und was
übrigbleibt, das wird am Abend nicht abgeräumt, damit die
verstorbenen Ahnen nachts davon speisen können. Ein Brauch, der
verdächtig nach uraltem Heidentum duftet.
Um
Mitternacht die Messe: Tausend Jahre alte Kirche, Kerzenlicht,
Gläubige, die aussehen wie ihre Santons – und echte Schäfer
kommen schließlich von draußen herein, Lämmer auf den Schultern.
(Schäfer ist hier ein so normaler Beruf wie Buchhalter, im Midi
grasen noch Zehntausende Tiere die Wiesen kurz.) Das schüchterne
Blöken weht dann durch das Kirchenschiff, begleitet den Chor,
umspielt das Glockengeläut, kommentiert die Predigt - und erwärmt
das Herz. In diesem Sinne: Joyeux Noël!
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