Die
Kirche Saint Vincent ist kaum größer als ein Bauernhaus und mehr
als 900 Jahre alt: Ein hoher Giebel über der Fassade, in dem drei
kleine Bronzeglocken im blauen Himmel schwingen; meterdicke Mauern
aus sandfarbenen, grob behauenen Steinen; ein Dach, dessen Last auf
wenigen, runden Bögen und stämmigen Pfeilern ruht; ein Chor hinter
dem Altar, in dem sich keine zwei Dutzend Sänger aufstellen könnten;
moderne Glasfenster in alten Streben, durch die Sonnenlicht gelb, rot
und orange hereinflutet, als lodere draußen ein Feuer; ein
Taufbecken, dessen Alter niemand kennt, glatt gewaschen vom Wasser
der Jahrhunderte. Der schwere Duft nach altem Weihrauch in der
stillstehenden Luft. Vor
diesem Altar haben meine Frau und ich geheiratet. Über dem Becken
wurden unsere drei Kinder getauft.
Genau die gleichen Zeremonien an
genau dem gleichen Ort wurden hier schon gefeiert, als in Deutschland
die Stauferdynastie herrschte, Spanien noch zur Hälfte muslimisch
war und Byzanz blühte. Als Kolumbus Amerika entdeckte. Als sich am
14. Juli 1789 in Paris die Wut des Volkes gegen die Bastille
richtete. Als im Spätsommer 1939 ein französisches Ultimatum in
Berlin einging.
Und warum sollte es in den nächsten
900 Jahren anders sein? Ist hier nicht alles von Dauer? Spannt nicht,
nur wenige Kilometer südlich der Kirche Saint Vincent, bein
Saint-Gilles eine von den Römern errichtete Brücke seit zwei
Millennien einen Fluss? Glitzern nicht zu Fuß des Hügels, auf dem
das Dorf mit der Kirche errichtet wurde, die silbrig schimmernden
Blätter unzähliger Olivenbäume - die Äste schwer mit schwarzen
Perlen, die schon die Menschen vorchristlicher Zeiten hegten?
Und doch: Eben jene Olivenbäume
sind kaum ein halbes Jahrhundert alt, weil alle mächtigen, älteren
Pflanzen in einem mörderischen Winter während der 1950er-Jahre
erfroren. Neben jenem Fluss, den die Römerbrücke spannt, strömt
ein Kanal Richtung Mittelmeer, der erst ein Werk der Neuzeit ist -
und so viel Süßwasser an die Küste ergießt, dass mancherorts die
in Jahrmillionen gewachsene einmalige Tier- und Pflanzenwelt
brackiger Buchten verschwindet.
Saint Vincent liegt in der Provence,
die Provence ist uraltes Kulturland, Kulturland ist Menschenwerk -
und Menschenwerk verändert sich. Kaum irgendwo sonst in Europa
allerdings wird man eine Landschaft finden, wo sich dieses mal
behutsame, mal brutale Miteinander von Mensch und Natur seit
zweieinhalb Jahrtausenden ununterbrochen studieren lässt. Wo jede
Generation ändert, ergänzt, erneuert, abreißt, erbaut, zerstört.
Wo Künstler ebenso hinzogen wie Heere, weltfliehende Mönche ebenso
wie Weltliches liebende Händler. Wo Fremde kamen und niemals
wieder gingen: Griechen und Römer in der Antike, Sarazenen, Spanier
und Nordfranzosen im Mittelalter, Italiener im 19. Jahrhundert,
Briten, Niederländer, Russen - und Deutsche im scheinbar grenzenlos
gewordenen 21. Jahrhundert.
Und zur Gemeinde von Saint Vincent -
die so gut wie gar nicht von Touristen und eiligen Reisenden entdeckt
worden ist, selbst heute - gehörte ein Deutscher, der 1945 als
junger Kriegsgefangener auf einem Hof arbeiten musste, heiratete,
blieb und kaum noch seine ursprüngliche Muttersprache beherrschte.
Eine Familie aus Nordafrika, für die einst Marseille das Tor zu
Europa, zur Arbeit, zu bescheidenem Wohlstand war. Ein belgischer
Pilot und seine Frau, eine Stewardess, die irgendwie ein in einem Tal
versteckt gelegenes Haus entdeckten und dort mit ihren Töchtern
hinzogen. Und Dutzende „urfranzösische“ Familien mit
italienischen und korsischen Nachnamen.
Was also ist die Provence?
Die Provence ist eine Idee. Ist der
Name eines Sehnsuchtsortes, irgendwo im Süden, wo es nach
Bouillabaisse und frischen Tomaten in Olivenöl, nach Pastis und
gekühltem Rosé schmeckt. Wo die Luft süß ist vom Lavendel und
trocken von rotbrauner, in der Hitze gebackener Erde und würzig von
Pinien im Wind. Wo Zikaden unsichtbar an Bäumen kleben und von der
Mittagshitze bis zum Sonnenuntergang ein sägendes Konzert
veranstalten - wenn nicht der Mistral tobt, der eiskalte, zornige
Nordwind, der aus den Alpen steigt und den Himmel frei wischt. Wo das
Licht flirrend ist und zugleich so glasklar, als habe man
sinneserweiternde Drogen geschluckt. Ein Land, in dem sich
felsenfarbene Dörfer unter Donjons und Burgmauerzacken auf
Hügelkuppen drängen. In dem die chaotische Hafenmetropole Marseille
Bühne ist für alle Verbrechen dieser Welt - und für alle
Hoffnungen. Und in dem, nur ein paar Dutzend Kilometer weiter,
strenge Zisterzienserabteien in entlegenen Tälern wachen, so einsam
wie vor tausend Jahren.
Offiziell aber existiert die
Provence gar nicht, hat weder Grenzen noch Hauptstadt.
PACA
kürzen Funktionäre und Journalisten in Frankreich ihre
südöstlichste Festlandsregion ab. Eine Région,
das ist eine Art Verwaltungseinheit, erst vor wenigen
Jahrzehnten eingeführt. Eine Hierarchieebene zwischen den
traditionellen Départements sowie Präfekturen und der fernen
Zentrale in Paris. Nur dort, in diesem eher lieblosen Kürzel,
versteckt sich eine offizielle Anerkennung dessen, dass es die
Provence gibt: „Région Provence-Alpes-Cote d’Azur“ heißt
dieses - im übrigen relativ unautonome - Gebilde, das den ganzen Südosten Frankreichs
umfasst.
Und damit eben, auch, die Provence.
Da es keine offiziellen Grenzen der
Provence gibt, kann sie sich jeder geneigte Reisende selber ziehen.
Man muss sie sich geformt wie eine Art Satteldach oberhalb der
Küstenlinie des Mittelmeeres vorstellen: Im Westen liegt dieses Dach
an der Küste auf, verankert auf den Mauern der Stadt Aigues-Mortes,
die aus den Sümpfen der Camargue herauswächst, als hätte sie ein
größenwahnsinniger König einst dort hineingesetzt. (Was ungefähr
der Wahrheit entspricht.) Nördlich der Camargue markiert die Rhône
die Grenze, bis hoch zum römischen Stadttor von Orange. (Puristen
mögen aufschreien, weil wir uns jenseits dieses Flusses eigentlich
im Languedoc befinden: Aber allen praktischen Gründen nach sollte
jeder Reisende auch Nîmes und den Pond-du-Gard in seine Provence
einschließen.)
Von Orange aus wölbt sich die
gedachte Nordgrenze über den Mont Ventoux bis Sisteron, dem Tor zu
den Alpen. (Großherzige Freunde Südfrankreichs verschieben diese
Grenze bis fast vor Lyon...) Über Digne und den Route-Napoléon
getauften uralten Straßenweg führt sie bis zur Parfumstadt Grasse.
Dort knickt die Linie scharf nach Westen ab, bis sie fast
Aix-en-Provence erreicht, vollführt dann einen Zacken gen Süden und
erreicht bei Cassis wieder das Mittelmeer. Von dort an die Küste
entlang bis zurück nach Aigues-Mortes - et voilà.
Fünf Départements liegen mehr oder
weniger vollständig innerhalb dieses imaginären Raumes:
Bouches-du-Rhône (Postleitzahl und, zumindest bis zur 2009 verfügten
Änderung aller Nummernschilder, auch Autokennzeichen: 13),
Alpes-de-Haute-Provence (4), Var (83), Vaucluse (84) und Gard (30),
falls der Abstecher gen Nîmes unternommen wird.
Als eigenes Land hat es die Provence
nie gegeben - wiewohl es im Mittelalter eine Grafschaft diesen Namens
gab, deren Herr jedoch stets anderen, mächtigeren Fürsten
verpflichtet war, unter anderem dem Kaiser des Heiligen Römischen
Reiches, der das „Arelat“ getaufte Territorium um Arles nominell
regierte. Als Kulturland ist die Provence hingegen Jahrtausende alt.
Ursprünglich eine Region mit einer
felsigen Mittelmeerküste, an der Pinien gedeihen, mit Sümpfen und
Brackwasserseen im kilometerbreiten Mündungsdelta der Rhône. Das
hügelige, zu den Alpen hin immer höher sich aufwerfende Hinterland
ein riesiger Märchenwald aus Eichen, ein paar Flüsse,
unergründliche Quellen, schroffe Felsen, die aus dem Grün ragen.
Schon in der Steinzeit haben
Menschengruppen, aus denen sich irgendwann die Stämmen der Kelten und
Ligurer bildeten, die Natur verwandelt. Sie rodeten Wälder und
schichteten flache Steine auf. Als Hirten zu kuppelförmigen, knapp
drei Meter hohen Bories, die Häuser, Ställe und Vorratskammern
zugleich waren und deren bienenstockförmige Kuppeln mancherorts noch
stehen - nirgendwo so viele wie bei Gordes, wo ein ganzes, allerdings
deutlich jüngeres Dorf erhalten ist. Bauern aus der Vorzeit
terrassierten Land, das sie mit Steinwällen abstützten - auch hier
sind die Spuren oft noch zu sehen, uralte, abgestützte Hänge,
längst von Bäumen überwachsen.
So etwas wie staatliche Strukturen -
auch wenn das, streng genommen, für die Antike ein Anachronismus ist
- schufen erstmals die Griechen: Um 600 v. Chr. gründeten
seefahrende Kolonisten aus der kleinasiatischen Mertropole Phokäa an
einem von Felsen geschützten, fast kreisförmigen Naturhafen eine
Stadt, die sie Massalia tauften - das heutige Marseille, das sich
damit „älteste Stadt Frankreichs“ nennen darf.
Diese Kolonisten aus dem östlichen
Mittelmeer brachten Kulturpflanzen mit, die das Gesicht der Provence
für immer verwandelten: Den Olivenbaum, die Weinrebe, die Feige.
In den Jahrhunderten vor und nach
der Zeitenwende modellierten die Römer Südfrankreich um, das sie
als Provinz dem Imperium einverleibt hatten: Straßen, Brücken,
Aquädukte als linear das Land zerteilende Zeugnisse ihrer
Herrschaftstechnik. Städte als Orte der Macht und des Handels:
Aix-en-Provence (Aqua Sextiae), Orange, Arles, Vaison-la-Romaine;
Amphitheater, Tempel, Siegessäulen, Triumphbögen, Thermen.
Unter römischer Herrschaft kamen
auch die ersten Christen nach Südfrankreich, früher als fast
überall sonst in Westeuropa. Später gründeten Mönche Klöster in
entlegenen Tälern, wie Sénanque und Silvacane. Oder Pilgerstationen
mitten im Sumpf, wie Saint-Gilles in der Camargue, wo auch die
Frommen Rast machten, die auf dem Jakobsweg gen Spanien zogen. Und
wieder veränderte sich das Land: Kräutergärten und Felder gediehen
dort, wo die strengen Brüder den Boden beackerten, oft als erste
Menschen überhaupt.
Und während die Mönche Urwälder
rodeten, eroberten Bauern und Händler die Hügel: Erst im
Mittelalter, geplagt von ständigen Kriegszügen lokaler Ritter
ebenso wie fremder Invasoren (selbst Sarazenen kamen Jahrhunderte
lang über das Mittelmeer und plünderten Südfrankreichs Küste),
schleppten die Menschen Steine, Dachziegel, Baubalken auf die Kuppen.
Was heute malerisch, ja organisch
aus der Landschaft gewachsen und damit fast „natürlich“ wirkt,
war im Mittelalter aus der Not geboren. Eigentlich ist Land auf
Hügeln steil, schwer zu bebauen, oft fehlen auch Quellen, Felder
lassen sich dem Boden nur mühsam aufzwingen. Die Täler sind
feuchter, besser vor glühender Sonne und eisigem Mistral geschützt,
leichter urbar zu machen - aber eben auch schlechter zu verteidigen.
Auf einer Bergkuppe war ein heranrückender Feind schon aus großer
Entfernung auszumachen, und ein steiles, unzugängliches Dorf ließ
sich von entschlossenen Bauern eher verteidigen als ein lieblicher
Weiler im Tal.
Im Absolutismus ließ sich der König
in seinem Versailler Schloss mit Duftwasser und anderen Essenzen
besprengen - und in der Provence erblühen seit dem 17. Jahrhundert
riesige Lavendelfelder, wo der violette Grundstoff gedeiht, der
herrschaftliche Nasen erfreut. In Marseille und Nachbarstädten wie
Salon-de-Provence wird in schwimmbadgroßen steinernen Wannen Savon
de Marseille angerührt, sanfte Seife, deren Grundstoff Olivenöl
Essenzen beigemischt werden, die man aus der Region holt: Thymian,
Eisenkraut, Zitronenmelisse, Feige, Honig.
Im übrigen war die Provence lange
eine eher arme Region. Die Handelsströme über den Atlantik waren
größer als die über das Mittelmeer, Marseille, der einzige
südfranzösische Hafen internationalen Ranges, deshalb weniger
wichtig als etwa Bordeaux. Von dort wurden auch die meisten
Weinfässer exportiert, Rebensaft aus der Gironde oder aus Burgund,
berühmter als die meisten Gewächse des Südens. Im Norden war der
Boden schwerer, fiel der Regen reichlicher, waren die Felder und die
Bauern, die sie beackerten, reicher.
Um den Süden besser an den
prosperierenden Norden anzuschließen, wurden schon im 18. und 19.
Jahrhundert Kanäle durch die Landschaft gepflügt, Transportstrecken
für Kähne, weil die Straßen so schlecht waren. Heute sind die
Wasserwege, gesäumt von Platanen, beschauliche Gewässer, etwa im
Umland der Rhône - und es wirkt, als habe es auch sie schon ewig
gegeben.
Neu ist auch der Tourismus: Erst in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckten wohlhabende
Briten das milde Klima der Mittelmeerküste, den Reiz beschaulicher
Fischerdörfer, den Duft nach Pinien und Salz. Lords und
Industriebarone aus dem Vereinigten Königreich reisten an die Côte
d’Azur, um ihrer nassen, nebeligen Heimat zu entfliehen - und zwar
im Winter.
Die Côte
d’Azur um alte, doch unbedeutende Städtchen wie Nizza und Cannes
war zuallererst Fluchtort für die kalten Monate, das Meer keineswegs
ein Ort des Badens, die glühende Sommersonne schon gar nicht eine
Quelle gebräunter Haut - ein blasser Teint war im 19. Jahrhundert en
vogue, zeugte er doch davon, dass man es sich leisten konnte, nicht
draußen zu arbeiten. Bauern und Tagelöhner waren sonnengebräunt,
die Herrschaften wandelten behütet, verschleiert und unter
Sonnenschirmchen dahin.
Mit dem Tourismus einher ging eine
Art kultureller Abspaltung: Erst seit dem 19. Jahrhundert entwickelt
sich die Côte d’Azur -
jener Küstenstreifen von Toulon bis zur italienischen Grenze -
anders und im anderen Rhythmus als die Provence: schneller, mondäner,
urbaner. Heute ist aus einem dünn besiedelten Felsenstreifen am Meer
ein einziger städtischer Großraum geworden, ist, eingeklemmt
zwischen Ozean und Alpen, aus den Gemeinden von Saint Tropez bis
Monte Carlo eine Mega-City erwachsen.
Tiefgreifend und manchmal brutal ist
die Provence dann nach 1945 umgestaltet worden, zumindest in einigen
Regionen. Nach dem Schock der Niederlage im Zweiten Weltkrieg sollte
Frankreich radikal modernisiert werden, auch der Süden.
Atomkraftwerke wuchsen an den Ufern der Rhône empor. In Fos und
Martigues, noch bis etwa 1960 verschlafene Fischerdörfer westlich
von Marseille, planierten Pariser Planer Tankerterminals, Öltanks,
Raffinerien und Pipelines in eine bis dahin verschilfte, einsame
Landschaft. Der aus den Alpen entspringende Fluss Verdon, der in den
Felsenboden der nordöstlichen Provence die größte, spektakulärste
Schlucht Europas gefräst hat, endet nun im Lac de Sainte-Croix,
einem kaum weniger spektakulären, kobaltblauen Stausee.
Im Laufe der letzten zwei
Jahrhunderte sind viele Eichen abgeholzt worden, heute wachsen statt
ihrer Sträucher und harzhaltige Pinien - Pflanzen, die leichter
entflammen und Brände heute häufiger und verheerender machen als
früher.
Vielleicht hat aber nichts so die
Provence verändert wie die Autobahn A 7 und die TGV-Schnellzuglinie.
Aus einer schönen, doch entlegenen Landschaft ist ein schönes,
naheliegendes Reiseziel geworden. Es soll bereits Pariser geben, die
mit Familie in die Provence gezogen sind und nun jeden Morgen, jeden
Abend per TGV in die Seinemetropole pendeln, wie andere Angestellte
mit der Metro.
Als der Maler Vincent van Gogh Ende
des 19. Jahrhunderts von Paris aus gen Süden aufbrach, erreichte
sein Zug erst nach fast anderthalb Tagen Arles. Heute zählt die
Provence beinahe schon zur Banlieu der Kapitale. Und mit dem
(Billig-)Flieger rücken die Airports von Marseille und Nizza, von
Montpellier und selbst der winzige Flughafen von Nîmes Mittel- und
Nordeuropa bis auf weniger als zwei Stunden nah.
Und doch: Die Provence ist in den
allermeisten ihrer Regionen selbst heute noch dünn besiedelt. Märkte
ohne Touristen, schlauchenge, baumbeschattete Landstraßen ohne ein
Auto auf viele Kilometer, kleine Museen ohne Besucher, halb
vergessene Kirchen, Wanderrouten zwischen Hügeln, Felsen, duftenden
Wäldern, durch die niemand sonst schreitet, uralte steinerne Häuser,
wo der nächste Nachbar kilometerweit weg wohnt - das alles kann man
noch entdecken. Und je weiter die Monate vor oder hinter der
französischen Sommerferienzeit von Juli bis Mitte August liegen,
desto einsamer wird es. Und zwischen November und Januar sind selbst
touristisch ausgebaute Städte wie Les-Saintes-Maries-de-la-Mer am
Strand der Camargue, na, nicht gerade verlassen, doch entspannend
leer.
Denn auch dies ist eine Wahrheit,
die sich erst demjenigen erschließt, der länger dort ist: die
Provence ist ein raues Land.
Mittelmeer und Lavendelfelder,
Strände und Hügel, Dörfer und Weinreben - man mag den Süden
Frankreichs zunächst für eine milde Region halten, wärmer als in
Deutschland, trockener, ja sogar, blickt man auf Felder und Reben
oder schlendert über einen der schier überbordenden Märkte, für
fruchtbarer.
In manchen Jahren regnet es jedoch
nicht zwischen April und Oktober. Bauern und Winzer kämpfen dann um
jeden Tropfen, den sie aus tiefen Erdschichten hochpumpen - oder
(nicht immer legal) von den Flüssen abzweigen.
Im Juli und August steigt das
Quecksilber auf fast 40 Grad Celsius im Schatten - und wer dann nicht
im Schatten arbeiten muss, lernt ganz neue Schutzkleidung schätzen.
Etwa dicke Handschuhe, weil die metallenen Ladeflächen von Lastwagen
so heiß sind, dass man sich mit bloßer Haut Verbrennungen holen
würde, als fasste man auf eine angestellte Herdplatte.
Dann wieder fallen die Temperaturen.
Der Mistral kann, mit tückischen Folgen, mitten an einem Sommertag
plötzlich losheulen, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Wer
gerade noch auf dem Mont Ventoux die viele Kilometer weite Aussicht
vom Gipfel genießt, jedoch keine warme Kleidung dabei hat, der
riskiert im schlimmsten Fall sein Leben.
Und im Winter kann es in der Haute
Provence vorkommen, dass man an einem milden Nachmittag beim Rosé im
Freien die Sonne genießt, windgeschützt fast 20 Grad. Und plötzlich
fällt das Thermometer und fällt und fällt... Zwischen 20 Grad und
-15 Grad liegen dann manchmal nur sechs, acht Stunden.
Und nicht nur die Natur kann hier
böse Überraschungen bereiten.
Um das Land ist immer wieder
gekämpft worden. Schon Hannibal erzwang sich gegen einheimische
Stämme den Übergang über die Rhône mit Kriegslist und Schlacht,
was weniger bekannt ist als sein kurz darauf folgender Alpenübergang,
aber kaum weniger dramatisch und opferreich. Der römische Feldherr
Marius stellte sich bei Aix-en-Provence den Kimbern und Teutonen und
erschlug Zehntausende. Festungen wie Les Beaux zeugen von den Fehden
des Mittelalters - und nicht zuletzt deshalb ist eine der
finstersten, trutzigsten Wehranlagen der ganzen Provence ausgerechnet
der gotische Papstpalast in Avignon. Die Residenz des Oberhauptes der
katholischen Kirche wurde im 14. Jahrhundert errichtet, als der
Heilige Vater es vorzog, hier und nicht in Rom zu leben, aber
offenbar um eben jenes Leben stets fürchten musste.
Noch der „Sonnenkönig“ Ludwig
XIV. sicherte den Hafen von Marseille mit massiven Forts. Und im
Zweiten Weltkrieg besetzte die Wehrmacht das Land. In
Salon-de-Provence starteten Luftwaffenjäger. Manche stürzten ab.
Und selbst heute holen Bauern Fahrgestelle und ganze Motoren beim
Umpflügen aus ihren Feldern - oft einen halben Meter tief in der
Erde vergraben, ein Zeugnis der Wucht des einstigen Absturzes.
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