Merde
alors. Jede vierte Stimme für den Front national in Frankreich.
In der Region Sud-Est, in der Provence und Korsika, Côte
d'Azur und Ardèche, die Region von Lyon und die Alpen vereint sind,
erreicht der FN sogar 28,8 Prozent. Spitzenkandidat im Süden:
Jean-Marie Le Pen, der 86 Jahre alte Patron und Ehrenvorsitzende der
Partei, ein Mann, dem man vieles vorwerfen kann, aber ganz bestimmt
nicht, dass er altersmilde ist... (Schwacher Trost für uns im Süden,
dass der Front national in manchen anderen Regionen NOCH stärker
geworden ist. Die Tochter Marine Le Pen holte im Nordwesten schlappe
32 Prozent.)
Die
Grünen haben sich bei uns, mit derselben Spitzenkandidatin wie vor
fünf Jahren, mit ungefähr 9,5 Prozent mal eben halbiert. Die
Sozialisten sind gerade so stark, wie die FDP in besten Zeiten einst
war. Und mit all den linken Klein- und Kleinstparteien kommen
sämtliche Gruppierungen links von der Mitte zusammen auf
weniger Stimmen als der FN allein.
Warum
hat sich der FN von einer zur nächsten Europawahl verdreifacht?
Selbstverständlich glimmt in Frankreich ein Zorn „auf Brüssel“,
eine an Hass grenzende Verachtung der fernen EU-Bürokratie, eine
diffuse Angst vor jenen (osteuropäischen) „Fremden“, die eben
nun EU-Bürger und mithin keine Fremden mehr sind. Dieses Sentiment
brodelt auch in Kopenhagen und Athen, in London und sogar in der
deutschen Provinz... In der Provence ist dafür der Lavendel zur Zeit
das Symbol par excellence. Brüssels Bürokraten, so die Fama,
möchten alle Lavendelprodukte (Seifen etwa) mit Totenköpfen
versehen. Denn da einige wenige Menschen auf Lavendel allergisch
reagieren, müssten Lavendelstoffe eben mit Warnhinweisen versehen
werden. Totaler Quatsch? Vielleicht. Sicher ist aber, dass
EU-Bürokraten tatsächlich auch Lavendelfelder und Savon de
Marseille mit Paragraphen einhegen wollen.
Darüberhinaus
sind hierzulande Wahlen wie die zum Europäischen Parlament jedoch
auch, ebenso wie die erste Runde der Präsidentschaftswahl,
klassische Protestwahlen: Man lässt mit seinem Kreuz mal so richtig
die Sau raus, weil die Wahl ja eh nicht wichtig ist. (Bei
Präsidentschaftswahlen hat sich das bekanntlich ja schon einmal als
Fehlkalkulation erwiesen.) Das Europäische Parlament gilt als
überflüssiges Gebilde, in dem nichts Wichtiges entschieden wird,
also kann man auch hineinwählen, wen man will - schaden tut's
sowieso nicht. Jean-Marie Le Pen hat denn auch schon am Wahlabend
verkündet, dass er zwar gewählt worden ist, aber so selten wie
möglich zu Sitzungen erscheinen werde, um seine Verachtung zu
demonstrieren.
Warum
wählen dann gerade die Leute, die sich am meisten von der EU
gegängelt fühlen, ausgerechnet Politiker, die lauthals kundtun,
dass sie möglichst wenig Einfluss auf die EU ausüben wollen?
Weil
man mit nichts Gaullisten und Sozialisten, Kommunisten und Grüne
gleichermaßen so ärgern kann, wie mit einem Kreuz für Le Pen
Senior et Fille.
Ob
Links oder Rechts, Politiker gelten hier als sozusagen angeboren
korrupt. Die Pariser Granden: Höfisch-fern, arrogant, parteienblind,
total unfähig zum Kompromiss, zu Reformen, zu irgendeiner Form von
Zusammenarbeit. Politiker streiten erbittert über wirklich jede
Frage des Landes, und wenn sich Parteien nicht gegenseitig
blockieren, dann zerfleischen sich Partei“freunde“ untereinander,
dass es einem die Tränen in die Augen treibt: Gaullisten,
Sozialisten, radikale Linke, Grüne, alle, alle sind sich
untereinander spinnefeind.
Und
lokale und regionale Größen halten gerne mal ein Händchen auf, der
eine links, der andere rechts. Oder, besonders beliebt bei
Bürgermeistern der Sozialisten und Kommunisten, sie blähen
öffentliche Verwaltungen so auf, dass möglichst jede Familie der
Gemeinde mindestens einen Beamten in ihren Reihen zählt. Folge:
Hypertrophe Administrationen, die in ihrer Langsamkeit und
Gleichgültigkeit an Breschnews späte Sowjetunion erinnern.
Beispiel
Istres: Die Stadt am Étang de Berre zählt etwas mehr als 40 000
Einwohner und kommt auf mehr als 800 Kommunalbeamte. Der
Bürgermeister ist selbstverständlich links. 2009 kam der Front
national hier als fünftstärkste Partei auf 10 Prozent. Jetzt sind
es 37 Prozent, und keine andere Partei ist auch nur annähernd so
stark.
Sind
die Hände von rechtsextremen Politikern etwa verschlossen? Sind sie
immun gegen Durchstechereien und Nummernkonten? Darauf möchte ich
lieber kein Geld wetten - allein, die Frontisten hatten bislang noch
nicht allzu viele Gelegenheiten, sich zu bereichern. Erst seit dem
März 2014 stellen sie sieben Bürgermeister im Süden. Jetzt wird
man sehen...
So
lange jedoch ist eine Stimme für den FN vor allem ein Protest gegen
das Althergebrachte. Gegen Stillstand, Lähmung, Stau, Korruption. Es
ist ja nun keineswegs so, dass hier Glatzen in Springerstiefeln
abendlich saufend an Tankstellen lungern und Baseballschläger
schwingen. Im Alltag ist der FN total unsichtbar. Du redest mit den
Leuten und weißt (bis auf wenige exponierte Gestalten) nie, ob sie
rechts gewählt haben oder nicht. In unserem Städtchen leben etwa
1400 Leute, davon dürfen 1156 wählen. Auch bei uns ist der FN mit
einigem Abstand stärkste Partei geworden - aber letztlich sind es
bloß 197 Bürger, die für Le Pen gestimmt haben.
Die
Europawahl ist deshalb vor allem ein Appell gewesen: Einigt euch!
Brecht endlich - und zwar gemeinsam - diese verdammte Starre auf, die
das Land seit zwei Jahrzehnten lähmt! Ob die Politiker das
verstanden haben? Am Wahlabend sagte ungefähr jeder, vor den man ein
Mikrofon hielt: „Ja, wir alle sind schuld. Aber die anderen, die
sind viel schuldiger als ich. Die haben nämlich...“ Es ist ein
Elend. Der Front national war einst ein ungebetener, ungehobelter
Gast, der aus dem ganz braunen Sumpf kam. Dieser Gast hat sich
inzwischen eingerichtet, um zu bleiben, weil sich die Familie im
Wohnzimmer lieber streitet, als diesen Eindringling zu vertreiben.
Merde alors.
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