Montag, 26. Mai 2014

Front National, die Partei des Midi


Merde alors. Jede vierte Stimme für den Front national in Frankreich. In der Region Sud-Est, in der Provence und Korsika, Côte d'Azur und Ardèche, die Region von Lyon und die Alpen vereint sind, erreicht der FN sogar 28,8 Prozent. Spitzenkandidat im Süden: Jean-Marie Le Pen, der 86 Jahre alte Patron und Ehrenvorsitzende der Partei, ein Mann, dem man vieles vorwerfen kann, aber ganz bestimmt nicht, dass er altersmilde ist... (Schwacher Trost für uns im Süden, dass der Front national in manchen anderen Regionen NOCH stärker geworden ist. Die Tochter Marine Le Pen holte im Nordwesten schlappe 32 Prozent.)
Die Grünen haben sich bei uns, mit derselben Spitzenkandidatin wie vor fünf Jahren, mit ungefähr 9,5 Prozent mal eben halbiert. Die Sozialisten sind gerade so stark, wie die FDP in besten Zeiten einst war. Und mit all den linken Klein- und Kleinstparteien kommen sämtliche Gruppierungen links von der Mitte zusammen auf weniger Stimmen als der FN allein.
Warum hat sich der FN von einer zur nächsten Europawahl verdreifacht? 

Selbstverständlich glimmt in Frankreich ein Zorn „auf Brüssel“, eine an Hass grenzende Verachtung der fernen EU-Bürokratie, eine diffuse Angst vor jenen (osteuropäischen) „Fremden“, die eben nun EU-Bürger und mithin keine Fremden mehr sind. Dieses Sentiment brodelt auch in Kopenhagen und Athen, in London und sogar in der deutschen Provinz... In der Provence ist dafür der Lavendel zur Zeit das Symbol par excellence. Brüssels Bürokraten, so die Fama, möchten alle Lavendelprodukte (Seifen etwa) mit Totenköpfen versehen. Denn da einige wenige Menschen auf Lavendel allergisch reagieren, müssten Lavendelstoffe eben mit Warnhinweisen versehen werden. Totaler Quatsch? Vielleicht. Sicher ist aber, dass EU-Bürokraten tatsächlich auch Lavendelfelder und Savon de Marseille mit Paragraphen einhegen wollen.

Darüberhinaus sind hierzulande Wahlen wie die zum Europäischen Parlament jedoch auch, ebenso wie die erste Runde der Präsidentschaftswahl, klassische Protestwahlen: Man lässt mit seinem Kreuz mal so richtig die Sau raus, weil die Wahl ja eh nicht wichtig ist. (Bei Präsidentschaftswahlen hat sich das bekanntlich ja schon einmal als Fehlkalkulation erwiesen.) Das Europäische Parlament gilt als überflüssiges Gebilde, in dem nichts Wichtiges entschieden wird, also kann man auch hineinwählen, wen man will - schaden tut's sowieso nicht. Jean-Marie Le Pen hat denn auch schon am Wahlabend verkündet, dass er zwar gewählt worden ist, aber so selten wie möglich zu Sitzungen erscheinen werde, um seine Verachtung zu demonstrieren.
Warum wählen dann gerade die Leute, die sich am meisten von der EU gegängelt fühlen, ausgerechnet Politiker, die lauthals kundtun, dass sie möglichst wenig Einfluss auf die EU ausüben wollen?
Weil man mit nichts Gaullisten und Sozialisten, Kommunisten und Grüne gleichermaßen so ärgern kann, wie mit einem Kreuz für Le Pen Senior et Fille.

Ob Links oder Rechts, Politiker gelten hier als sozusagen angeboren korrupt. Die Pariser Granden: Höfisch-fern, arrogant, parteienblind, total unfähig zum Kompromiss, zu Reformen, zu irgendeiner Form von Zusammenarbeit. Politiker streiten erbittert über wirklich jede Frage des Landes, und wenn sich Parteien nicht gegenseitig blockieren, dann zerfleischen sich Partei“freunde“ untereinander, dass es einem die Tränen in die Augen treibt: Gaullisten, Sozialisten, radikale Linke, Grüne, alle, alle sind sich untereinander spinnefeind.
Und lokale und regionale Größen halten gerne mal ein Händchen auf, der eine links, der andere rechts. Oder, besonders beliebt bei Bürgermeistern der Sozialisten und Kommunisten, sie blähen öffentliche Verwaltungen so auf, dass möglichst jede Familie der Gemeinde mindestens einen Beamten in ihren Reihen zählt. Folge: Hypertrophe Administrationen, die in ihrer Langsamkeit und Gleichgültigkeit an Breschnews späte Sowjetunion erinnern.
Beispiel Istres: Die Stadt am Étang de Berre zählt etwas mehr als 40 000 Einwohner und kommt auf mehr als 800 Kommunalbeamte. Der Bürgermeister ist selbstverständlich links. 2009 kam der Front national hier als fünftstärkste Partei auf 10 Prozent. Jetzt sind es 37 Prozent, und keine andere Partei ist auch nur annähernd so stark.
Sind die Hände von rechtsextremen Politikern etwa verschlossen? Sind sie immun gegen Durchstechereien und Nummernkonten? Darauf möchte ich lieber kein Geld wetten - allein, die Frontisten hatten bislang noch nicht allzu viele Gelegenheiten, sich zu bereichern. Erst seit dem März 2014 stellen sie sieben Bürgermeister im Süden. Jetzt wird man sehen...

So lange jedoch ist eine Stimme für den FN vor allem ein Protest gegen das Althergebrachte. Gegen Stillstand, Lähmung, Stau, Korruption. Es ist ja nun keineswegs so, dass hier Glatzen in Springerstiefeln abendlich saufend an Tankstellen lungern und Baseballschläger schwingen. Im Alltag ist der FN total unsichtbar. Du redest mit den Leuten und weißt (bis auf wenige exponierte Gestalten) nie, ob sie rechts gewählt haben oder nicht. In unserem Städtchen leben etwa 1400 Leute, davon dürfen 1156 wählen. Auch bei uns ist der FN mit einigem Abstand stärkste Partei geworden - aber letztlich sind es bloß 197 Bürger, die für Le Pen gestimmt haben.

Die Europawahl ist deshalb vor allem ein Appell gewesen: Einigt euch! Brecht endlich - und zwar gemeinsam - diese verdammte Starre auf, die das Land seit zwei Jahrzehnten lähmt! Ob die Politiker das verstanden haben? Am Wahlabend sagte ungefähr jeder, vor den man ein Mikrofon hielt: „Ja, wir alle sind schuld. Aber die anderen, die sind viel schuldiger als ich. Die haben nämlich...“ Es ist ein Elend. Der Front national war einst ein ungebetener, ungehobelter Gast, der aus dem ganz braunen Sumpf kam. Dieser Gast hat sich inzwischen eingerichtet, um zu bleiben, weil sich die Familie im Wohnzimmer lieber streitet, als diesen Eindringling zu vertreiben. Merde alors.

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