Die
Nocturnes von Chopin klingen gut, ganz besonders, wenn
Marie-Catherine Girod sie spielt und erst recht, wenn dazu Gewittergrollen über den Himmel rollt. Willkommen in La
Roque-d'Anthéron!
Das
Städtchen im Lubéron mit dem Namen, der aus einem französischen
Mittelalter-Roman entlehnt sein könnte, spielt im Reigen der
allsommerlichen provenzalischen Kulturfestivals eine herausragende
Rolle. Vor ungefähr vier Jahrzehnten sind bei uns im Süden die
ersten Besessenen, Fanatiker, Sammler, Aktivisten und sonstige
Begeisterte, die nicht in Kosten-Nutzen-Kategorien denken, auf die
Idee gekommen, im langen Sommer des Midi Fotos rund um eine antike
römische Arena aufzuhängen. Oder Kammermusik in einer
mittelalterlichen Burg zu geben. Oder Dichter auf einen Marktplatz zu
locken. Oder Opernsänger in einem antiken Theater gegen den Mistral
anschmettern zu lassen.
Die
Organisatoren vieler Festivals sind so gut und die Provence ist so
schön, dass Einheimische wie Besucher seit vielen Sommern nun schon
die herausragendsten zeitgenössischen Künstler fast jeder
erdenklichen Richtung quasi vor der Haustür bewundern können.
Manche Veranstaltungen sind teuer, die Karten sind nach wenigen
Minuten ausverkauft. Andere sind gratis und für jedermann zu
bestaunen. Ich bin immer noch fassungslos, dass man hier selbst im
hinterletzten Kaff unversehens über leibhaftige Meister und höchst
greifbare Meisterwerke stolpert, die ich sonst bloß vom Hörensagen
kenne.
Les
Rencontres de la photographie in Arles etwa, der Prototyp der
provenzalischen Kulturfestivals, vereinigt seit vier Jahrzehnten
Fotografenlegenden, Bildredakteure, Kuratoren, Sammler und alle
Lichtbildliebhaber auf Tage, wenn nicht Wochen in einer Stadt mit
zwei Dritteln der Einwohnerzahl von Norderstedt. Mais oui:
Arles – gut 52 000 Bürger. Norderstedt – gut 75 000. Die
Rencontres de la photographie in Norderstedt? Der Gedanke zaubert
einem ein Lächeln ins Gesicht.
La
Roque-d'Anthéron ist ein Städtchen, das wahrscheinlich im 11.
Jahrhundert gegründet worden ist und sich dadurch auszeichnete, dass
hier 900 Jahre lang so gut wie nichts geschah. Doch 1980 beschlossen
Paul Onoratini und René Martin, ein Klavierfestival zu organisieren.
Seit 35 Jahren gelingt es dem Dorf tatsächlich, die besten und
wirklich die besten Pianisten der Welt anzulocken. Monsieur Martin ist noch
immer künstlerischer Leiter der Veranstaltung und, so steht zu
vermuten, inzwischen der vielleicht am besten vernetzte Kulturmanager
der internationalen Tastenszene.
Das
Festival ist nicht bloß jeden Juli und August ein musikalisches
Epizentrum der Provence, es ist längst ein Kristallisationspunkt
geworden, um den sich Wirtschaftskraft und Jobs anlagern – und der
auch Bürger anzieht: 1793, als die erste aussagekräftige Erhebung
gemacht worden ist, lebten 1228 Menschen in La Roque-d'Anthéron. (Im
Mittelalter waren es vermutlich auch nicht mehr.) 1962 war die Zahl
auf 1415 gestiegen, und man liegt wohl nicht falsch zu behaupten,
dass der Ort alle Zeiten und Epochenbrüche verschlafen hatte. Und
heute? Mehr als 5400 Einwohner, Tendenz steigend. Eine, grob
gerechnet, Vervierfachung binnen einer Generation, die erste
Bevölkerungsexplosion, die dieses Städtchen in 1000 Jahren erlebt
hat...
Selbstverständlich
hat das auch andere Ursachen: Der Midi ist schön, Aix-en-Provence
ist nahe. Trotzdem dürften es vor allem die Pianisten gewesen sein,
die La Roque-d'Anthéron erst auf die Landkarte gehievt haben.
Die
Musiker kommen gerne, es ehrt sie, eingeladen zu werden – und wo
sonst spielen sie unter den Schatten einer Mammutbaumallee?
Die
Szenerie: Das Château
de Florans liegt neben dem Zentrum des Städtchens. Vor dem Schloss
grünt ein standesgemäßer Park. In diesem Park ist eine Allee ganz
und gar nicht standesgemäßer amerikanischer Sequoias angelegt
worden – jeder Baum inzwischen mächtig wie ein Kathedralenturm.
Hinter diesen hölzernen Sauriern ist eine moderne, muschelförmige
Bühne aufgebaut worden, ein Flügel im Zentrum, ein paar
Scheinwerfer – et
voilà,
der Tempel der Klavierkunst ist bereit!
Wir
sitzen am 13. August irgendwo in den theaterähnlich ansteigenden
Rängen, die sich im Halbkreis um die Bühne winden. 18 Uhr. Dohlen
krächzen im Park, ansonsten erwartungsvolle Stille. Madame Girod
betritt die Bühne, Applaus, Chopin – und dann Gewittergrollen.
Vielleicht
liegt es an uns. Wir waren im früheren Leben Hamburger, und jeder Hamburger
ist ein Regengott, der von den Wolken geliebt wird. Seit gefühlt
vier Monaten hat sich die Provence nicht mehr eingenässt – doch
ausgerechnet an dem Tag, an dem wir ein Freiluftkonzert besuchen,
gehen schon mittags die ersten Schauer nieder...
Grauer
Himmel. Windböen. Die Organisatoren haben an jeden Besucher
durchsichtige Einweg-Regenponchos ausgegeben. Wir hocken auf den
Stühlen, nicht vollkommen entspannt, wie celophanverpackte
Sandwiches. Am Rand des Sichtfeldes zerreißen Blitze den Himmel,
direkt über den Wipfeln der Sequoias. Ich bin in der klassischen
Musik ein Neunzig-Prozent-Analphabet, meine Aussage hat also nur
begrenzten Wert: Marie-Catherine Girod, eine Pariser Künstlerin, ist
berühmt für ihre eigenwilligen Interpretationen, gerade auch von
Chopin. Aber bilde ich mir bloß ein, dass die Meisterin an diesem
frühen Abend ihren Chopin immer drängender, immer
leidenschaftlicher und, ja doch, immer rasender spielt? Noch mehr
Donner. Einzelne Tropfen...
Aber
Chopin und Marie-Catherine Girod gewinnen das Duell.
Die
Wolken ziehen respektvoll um La Roque-d'Anthéron herum. Das Gewitter
geht einige Hundert Meter neben uns nieder, man sieht die Regenwand
und spürt die Feuchtigkeit in den Böen, die von dort
herüberstreifen, doch außer ein paar Tropfen bleiben wir
unbehelligt – und Chopin weht über die Bühne, bis zur Zugabe, bis
zum Applaus und zu den „Bravo“-Rufen. Und bis zur Dunkelheit, die
inzwischen den Park des Château
de Florans umspült.
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