Eine
hundertdreißig Meter lange Stahlbrücke trägt mich durch den Himmel von
Marseille. Sie führt von einer alten Festung wohl siebzig Meter
hoch bis auf das Dach des MUCEM, des schönsten, leersten,
seltsamsten Museums an den Gestaden des Mittelmeeres.
Der
Kulturtempel wurde im Juni 2013 eingeweiht, aus Anlass und zur
Krönung jenes Jahres, in dem Marseille sich als Kulturhauptstadt
Europas einen ordentlichen Hausputz gönnte. Entworfen hat es vor
allem Rudy Ricciotti, ein Architekt aus der Stadt. Benannt haben es
aber sicherlich ein paar beruflich schwerst deformierte
Kulturbürokraten in irgendeinem Ministerium, die einer Logik folgen,
der ich auch nach intensiverem Nachdenken nicht folgen mag. Also,
Luft holen, MUCEM steht für Musée
des civilisations de l'Europe et de la Méditerranée.
Der spektakuläre Neubau zum Jubeljahr 2013 – es gibt weitere
Bauten, wir kommen noch zu ihnen – heißt hingegen, genau: J4.
(Muss ich erwähnen, dass es im ganzen Museum keine Gebäudekomplexe
J1
bis J3
gibt, dafür aber ein l'I2MP?
J4
heißt dafür auch die Promenade, auf der dieser Komplex steht.) Der
Museumsbereich in J4
(es finden sich dort auch, zum Beispiel, Büros) heißt Galerie
de la Méditerranée.
Wer also eine Sonderausstellung besuchen will, der besucht die
Galerie
de la Méditerranée
im J4
im Musée
des civilisations de l'Europe et de la Méditerranée.
Alles
klar? Genau. Bon,
für unsere Zwecke: MUCEM, das ist dieser spektakuläre, irgendwie
vergittert wirkende neue Kasten am Meeressaum von Marseille.
Jahrzehntelang
hatte sich Marseille nämlich vor dem Mittelmeer versteckt. Der Vieux
Port, der Alte Hafen, wo schon Griechen und Römer ihre Galeeren
anladeten: ein Yacht-gespicktes viereckiges Becken, so tief in der
Stadt, dass man von seinen Kais den Ozean nicht einmal sehen kann.
Der moderne Hafen, immerhin der (neben Algier) größte des
Mittelmeeres: Eine Industrie- und Tankerwüste viele Kilometer
westlich der Stadt, ein Dschungel aus Tanks und Schuppen und
asphaltierten Rampen, die zu den Fähren nach Korsika und Nordafrika
führen. Rost, Beton, Wellblech, Lastwagen, Lärm und Dreck, Dreck,
Dreck.
Erst,
als sich die Stadtregierung um Europas Ehrenplatz bemühte, entdeckte
man das Meer wieder: steingepflasterte Esplanaden laden nun wieder
zum Flanieren ein, zu einem Spaziergang bis hin zu den Wellen des wie
eh und je unfassbar blauen Mittelmeeres. Eine Idylle ist das noch
längst nicht, denn die Narben der industriellen Verwüstung kann
kein urbaner Schönheitschirurg kaschieren. Mancherorts schlagen
Schnellstraßen noch immer Schneisen zwischen der maritimen Promenade
und den ersten Häusern, fault das Wasser in aufgegebenen
Hafenbecken, die höchstens dekadente Modefotografen als Location
begeistert.
Und
doch: Marseille hat sich auf den Weg gemacht, den Barcelona schon
länger geht. Eine alte Stadt am alten Meer, die auf einmal wieder
schön wird und jung und lebenswert und modern und Besucher anzieht
und Besucher nicht mehr loslässt, so dass manche für immer hier
bleiben. (Zu schön, um wahr zu sein? Wiko, Frankreichs – nach
Samsung und vor Apple – zweiterfolgreichster Handyhersteller ist,
mais
oui,
ein Start-up aus Marseille.)
Das
MUCEM ist dabei in dieser Sehnsucht nach Meer, nach Jugend, nach
Kultur, nach Schönheit und Zivilisation die Kaaba von Marseille, das
Zentrum, um das alle diese weltlichen Hoffnungen kreisen. Ein Kasten
mit 72 Metern Kantenlänge, eingehüllt in ein Geflecht aus
Betonplatten, das von Weitem so aussieht, als habe jemand ein
Tarnnetz über eine gigantische Kiste geworfen. Der Würfel steht
neben dem Fort Saint-Jean, einer Festung aus dem Ancien Régime, die
einst den Vieux Port bewachte. Festung und Museum sind durch jene
Stahlbrücke quer durch Marseilles Himmel verbunden. Eine ähnliche
Traverse führt ins Quartier Panier, ein verlottertes, von massivster
Gentrifizierung bedrohtes Hafenviertel, doch überwölbt diese kein
Wasserbecken, sondern eine schnöde mehrspurige Straße.
Das
MUCEM ist dabei zur großartigsten, nun ja, Museumshülle geworden,
die ich je gesehen habe. Am besten betritt man, vom Vieux Port
kommend, den Komplex an der Tour du Roi René, dem Turm der Festung
Saint-Jean, der mit seinem Mauerwerk fast noch im Becken des alten
Hafen steht. Das Fort selbst, noch immer massig, wuchtig, feucht,
verbirgt hinter, nein auf seinen Mauern eine luftige Parklandschaft.
Wiesen und Kräuter verschiedener provenzalischer Regionen blühen
dort, wo einst Kanonen standen, und wer ein wenig sucht, der findet
sogar einen ordentlichen mediterranen Gemüsegarten.
Apropos
Gemüse: Neben dem Garten hat Le
Café
seine Pforten geöffnet, das genau, im MUCEM heißt alles anders, als
es ist, gar kein Café ist, sondern ein veritables Restaurant –
allerdings eines, in dem Köche und Kellner ausgebildet werden, damit
sie dereinst in den Michelinsternetempeln der Grande Nation zaubern
dürfen. Man kann rund um den Vieux Port schlechter essen als hier...
Schräg
hinter dem Café erblickt der (wenn's geht: schwindelfreie) Besucher
jene Brücke, die, näher betrachtet, fast wie eine etwas übergroße
Regenrinne wirkt, auf der wir Menschlein wie die Kellerasseln zum J4
strömen.
Dessen
betonrissiges „Netz“ stellt sich – man kann es vom anderen Ende
der Brücke aus betasten – als leicht vernarbtes, armdickes,
ich-möchte-nicht-wissen-wieviele-Tonnen schweres Kettenhemd heraus.
Auf dem Dach endet die Brücke in einer Art Lichthof. Von dort taucht
man ein, unter, neben, über das Betongewirr. Man kann nämlich auf
einer Rampe zwischen Netz und Glasfassade außen um das Gebäude,
sich langsam abwärts schlängelnd, herum gehen. Spiel aus Licht und
Schatten, durchbrochene Blicke auf Segelboote im silbrigen Meer, auf
das schwarz-weiße Zuckerbäckergebirge der Kathedrale La Major im
Viertel Panier, auf das Fort Saint-Jean. Irgendwie modern, irgendwie
arabisch – ein Hauch Marokko in Marseille – und auf jeden Fall
schön. Eine Oase der Ruhe, selbst mit vielen Besuchern – zwei
Millionen waren es im ersten Jahr. Weniger der akustischen, mehr der
optischen Ruhe. Das Netz ist ein Filter zwischen Gehirn und
Wirklichkeit.
Diese
Wirklichkeit holt mich dann, leider, leider, im Innern von J4
mit einem vernehmlichen „Pfft“ wieder ein. Vielleicht ist das
MUCEM nämlich das erste Museum ohne Sammlung, der erste
Ausstellungstempel ohne Ausstellung. Klar, selbstverständlich stehen
hier Exponate herum, von einer permanenten und von je mehreren
Sonderausstellung. Aber das ist, hey, eine von Designern und
wohlmeinenden Pädagogen aufgepeppte Rumpelkammer, ein Sammelsurium
von Resten, die in den Depots von Marseille irgendwie übrig
geblieben sind: Da hängen mittelgute Ölbilder mit Ansichten
Venedigs aus dem 18. Jahrhundert in recht unvermittelter und
unerklärlicher Nähe neben einer Guillotine, mit der der Staat im
19. Jahrhundert in einem Marseiller Gefängnis seine Schwerverbrecher
entsorgte. Irgendwie hat das alles mit Europa und der Zivilisation
und dem Mittelmeer zu tun, und sei es nur, dass irgend ein armer
Verurteilter unter dem Fallbeil mit seinem letzten Atemzug noch
einmal die pinien- und salzgewürzte mediterrane Luft eingesogen
hatte, bevor dann das Eisen niedersauste und er nichts mehr hatte,
womit er sie wieder hätte ausatmen können.
Aber
was soll uns das bloß sagen? Warum hängen die Ölschinken neben dem
Staatsmordwerkzeug?
Man
merkt es dem MUCEM vor jeder Vitrine an: Marseille hat sich, weil es
halt Kulturhauptstadt werden wollte, unbedingt ein neues Museum
gönnen wollen. Aber man hatte nichts, um dieses Museum auch zu
füllen.
So
ist das MUCEM selbst sein bestes Museum geworden: Ein Schaukasten
moderner, mutiger Architektur, verbunden mit einem brutal wuchtigen
Altbau, dem auf äußerst elegante Art Leben eingehaucht worden ist.
Ein Ort des reduzierten Lärms in einer tobenden Metropole, der
erfrischenden Luft in einem sommerlichen Glutofen, der Schattenspiele
in einer Stadt aus grellem Licht und finsterster Dunkelheit.
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