Vorgestern
waren die Rolling Stones in Marseille und die beste Sicht auf Mick
Jagger & Co. hatte eine gelassene Möwe. Liebte der Meeresvogel
Rockmusik? Berauschte er sich aus den nicht hundertprozentig legalen
Duftwolken, die sich aus den Reihen der Fans in den Himmel
kräuselten? Oder genoss die Möwe einfach bloß den Aufwind heißer
Luft, weil sich unter ihren Schwingen 58 000 Wahnsinnige die Abwärme
aus dem Körper tanzten? Jedenfalls traten die legendären englischen
Altrocker am 26. Juni im legendären Neustadion der
Mittelmeermetropole auf, und ganz Marseille war auf den Socken,
beziehungsweise Schwingen. Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr,
normale neunundzwanzig Grad, der Himmel jenseits des wellenförmig
schwingenden Arenadachs changierte im Abenddämmer von hellblau über
türkis ins ungesund Grüne, dann wurde es gelb, violett und
schließlich Nacht. Und einsam, einsam über allem schwebte jene
Möwe, die Keith Richards bei seinen Soli mitten auf den Kopf... hat
sie aber nicht.
Die
Stones hier, zum einzigen Konzert in Frankreich, meine Frau hat uns
Karten besorgt, und dann geht das so in Marseille: Zwischen unserem
Haus und dem Vélodrome erstreckt sich, wenn ich Google Maps glauben
darf, eine Fahrstrecke von etwa 55 Kilometern. Nur ein Wahnsinniger
würde mit dem Auto direkt bis vors Stadion rollen wollen – wir
entscheiden uns, in La Joliette zu parken und danach quer durch die
Stadt mit der Metro zu fahren. (Mais oui, Marseille hat eine U-Bahn
mit, äh, ich glaube zwei Linien...) Leider sind auch andere auf
diese Idee gekommen, dazu gibt's die üblichen Pendler (ist ja unter
der Woche) und gerade hat sich Frankreich mit Dänemark müde
duelliert und Fans strömen vom Public Viewing zurück. Alors:
50 Kilometer geht es so dahin, für die letzten fünf Kilometer in
Marseille brauchen wir dann aber fast zwei Stunden. Dann die
überfüllte Métro. Dann eine Security-Schranke vor dem Vélodrome.
Dann noch eine. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Wir haben
das Haus um 15.30 Uhr verlassen, um 20.05 Uhr waren wir im Vélodrome.
Doch,
putain,
was hat sich das gelohnt! Die alten Säcke sind so was von gut drauf
und so lässig und machen so unfassbar tolle Musik und... d'accord,
ich muss hier niemandem mehr was von den Rolling Stones erzählen,
das können die Kollegen vom Feuilleton eh viel besser. Sagen wir so:
58 000 Marseiller auf einem Haufen. Manche so alt, dass du sie die
Treppen auf die Ränge hochtragen musst. Andere gerade der
Grundschule entwachsen. Eine Stunde, bevor irgendwer auf die Bühne
tritt, machen wir schon „La Ola“, einfach so. Und als die alten
Herren dann aufspielen, geht die Post ab bis Mitternacht. Unfassbar.
Apropos
„alte Herren“. Mick Jagger hat dem Publikum verkündet (Mais oui,
Mick parle français.),
dass er 1964 zum ersten Mal in Frankreich gewesen war. Da fühlte ich
mich unglaublich toll. 1964, hey, der gute Mick war in Frankreich,
bevor ich auch nur geboren war! Ich bin gar nicht sooo alt.
Eigentlich bin ich sogar noch jung. Ich meine, wenn einer vor meiner
Geburt, okay, ja, ich sehe gerade in den Spiegel. Vergiss es.
Dann
halt ne andere alte Geschichte, die möglicherweise sogar der eine
oder andere Kollege aus dem Musik-Feuilleton nicht so auf Anhieb auf
der Pfanne hat: Mick Jagger hat bei seinem ersten Konzert in
Marseille die Fresse vollgekriegt. Echt. Also nicht absichtlich,
aber, na ja, ist halt Marseille. Das ging so: Ende März 1966, die
Stones treten zum ersten Mal hier auf, im Salle Vallier, einer Halle,
die wirklich bescheiden ist im Vergleich zu den Arenen, die sie
später füllen werden. Auf der Bühne Mick Jagger und die Band.
Unten: die Fans. Dazwischen: eine Reihe Polizisten, soll ja alles
seine Ordnung haben. Was für eine bescheuerte Idee. Alors,
ein Fan, der sich in seiner Begeisterung nicht mehr halten kann,
zerlegt seinen Stuhl (Ein Stuhl in einem Rockkonzert, noch so eine
tolle Idee.) Jedenfalls hat der Typ plötzlich ein größeres
zweckentfremdetes Stück Holz in der Hand und denkt sich: Merde
alors,
das werfe ich jetzt mal einem Flic an den Kopf. Nur ist er zu blöd
oder zu kräftig oder zu besoffen, um die Polizisten zu treffen. Sein
Holzbein (also das vom Stuhl) segelt hoch über die Képis der Flics
hinweg – und erwischt Mick Jagger am Kopf. Volltreffer direkt
rechts neben dem Auge, Platzwunde, Veilchen, der Held geht zu Boden.
Das kann dir nur in Marseille passieren.
Trotzdem
(oder gerade deshalb) ist er danach immer mal wieder gekommen,
zuletzt war's 2003, und jetzt halt endlich wieder. Seine Show war
galaktisch, auch auf dem Rückweg standen wir im Stau - und die Möwe
kreist wahrscheinlich immer noch über dem Vélodrome, halb taub und
total bekifft.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen