Nach
den Worten von Präsident Macron gestern Abend befindet sich
Frankreich im Krieg. Und seit ein paar Minuten gilt Ausgangssperre.
Putain,
wer hätte gedacht, dass einem so etwas mal in der Provence passieren
könnte?
Damit
das gleich klar ist: Zu unserer Familie zählen mehrere
Ärztinnen und eine Krankenschwester, die ungefähr die Woge sehen,
die da auf das Land zurollt. Niemand von uns nimmt das deshalb cool
und easy, Macron hat, finde ich, gut und absolut richtig gesprochen.
Das klingt für deutsche Ohren immer ein bisschen pathetisch, und die
Beschwörung der Union
Sacrée
wie 1914 ist schon schweres rhetorisches Kaliber. Aber, hey, wenn man
sich einmal die Statistiken ansieht und nachrechnet, wie viele Opfer
es allein in Frankreich theoretisch geben könnte, dann ist das
Gerede vom Krieg plötzlich gar kein Gerede mehr, sondern eine
nüchterne Beschreibung dessen, was uns bevorstehen könnte, wenn wir
nicht alle ein wenig auf uns und unsere Mitbürger aufpassen.
Also:
Masken haben wir nicht, sind längst alle, brauchen wir auch
glücklicherweise momentan nicht. Desinfektionslösung: zwei
Fläschchen. Vorräte haben wir auf dem Land eh immer, also
verzichten wir auf Hamsterkäufe. Allerdings ist uns aufgefallen,
dass unserem Hund bald das Fressen ausgehen würde. Also ist meine
Frau heute morgen zum Laden nach Lançon
gefahren, wo es eigentlich Pferdebedarf gibt, aber auch was für
Schnuffi und Mausi. Die haben dort über Nacht einen Drive-in
organisiert, McDonalds für Heu und Hundefutter und die Hälfte der
Kunden fährt mit Pickups und Geländewagen vor. Dann hat meine
Liebste noch schnell Grundnahrungsmittel eingekauft: Baguettes bei
der Boulangerie. Dann wollte sie noch tanken.
Erste
Tankstelle: leer. Bei der zweiten Tankstelle füllt sie den Wagen –
und direkt danach leuchtet ein rotes Warnsignal. Tanke leer. Meine
Gattin hatte diese Tankstelle leergeschlürft, weitere werden
sicherlich folgen. Vermutlich werden auch die Supermärkte inzwischen
in Wüsteneien verwandelt worden sein. Und vermutlich wird ab Mitte
dieser Woche alles wieder normal verproviantiert sein, nur wird es
dann kaum noch Kunden geben, die die Sachen kaufen, denn wir müssen
ja jetzt alle zu Hause bleiben.
Für
Frau, Sohn und Tochter gibt’s kein Home Office, die müssen raus
und arbeiten. Ich hingegen sitze sowieso immer im Home Office, das
war auch in seuchenfreien Zeiten schon so. Insofern ändert sich da
wenig. (Und unser Nachbar treibt wie eh und je seine Ziegen in den
Wald und Scheiß auf Quarantäne.) Nur unsere Jüngste freut sich
über Coronaferien, und ich habe das zweifelhafte Vergnügen, einer
pubertierenden Tochter zu erklären, dass sie weiterhin pauken soll.
Unterricht gibt’s per Computer, die entsprechenden Webseiten sind
teils sofort aufgrund des Ansturms kollabiert. Teils wissen wir
nicht, ob diese Seiten kollabieren würden, denn in unserem Tal ist
die Internetverbindung so zwanzigstes Jahrhundert (Gefühlt
Modemverbindung mit Telefonhörer in Muschel, erinnert sich noch
jemand daran?), dass die Lektionen byteweise durch die
Kupferleitungen tröpfeln.
Ansonsten?
Ruhe mitten im Sturm. Meine nächsten Lesungen in Frankreich und
Deutschland haben sich ins Nirwana verabschiedet. Unsere Tochter muss
weder zum Tanzen, noch zum Klavierunterricht oder ins Theater
gefahren werden. Meine tiefreligiöse Schwägerin muss Catho-TV
sehen, denn es werden keine Messen mehr gelesen. Im Bekanntenkreis
hat es leider einen (vom Virus ganz unabhängigen) Todesfall gegeben
– und sie können nun wohl praktisch niemanden zur Trauerfeier
kommen lassen. Meine Frau hat Bücher für die ruhigen Tage bestellt,
online, denn die drei Leib-und-Magen-Buchhandlungen der Nachbarstädte
sind nun bedauerlicherweise genauso dicht wie Büchereien. (Da fällt mir ein:
Wir haben per Mail ein paar Mahnungen bekommen, weil gleich etliche
ausgeliehene Sachen fällig sind. Wie bringen wir die bloß zurück?)
Meine
Frau arbeitet in einer Behinderteneinrichtung. Da sind über Nacht
die Hälfte aller Handdesinfektionsflaschen abhanden gekommen,
vermutlich von einer oder mehreren Mitarbeiterinnen gestohlen. Wir
haben spontan eine Whats-App-Gruppe, die eigentlich für ganz
trivial-praktische Dinge eingerichtet worden war, in eine Art
„Geht's-Euch-allen-gut?“-Runde verwandelt. Und wir haben ein
PDF-Formular von der Seite des Innenministeriums heruntergeladen, das
wir jedes Mal ausfüllen und auf Ehre signieren müssen, wenn wir
fortan für Einkäufe, Arztbesuche und die zwei, drei anderen noch
erlaubten Exkursionen das Haus verlassen wollen. (Hunderttausend
Gendarmen und Polizisten werden die Straßen abpatrouillieren, um zu
kontrollieren, dass sich die notorisch undisziplinierten Franzosen
auch wirklich an das Ausgangsverbot halten. Jeder, der angehalten wird,
muss so eine Erklärung vorweisen können, sonst hagelt es eine Strafe. Das ist die Theorie. Mal sehen, wie das in der Praxis
funktionieren wird...)
Zum
Joggen, Spazieren- und Gassigehen darf man übrigens auch noch raus,
sofern man es alleine tut. Laufen ja, Fußballspielen nein. Promenade
ja, Picknick nein. Draußen vom Walde komme ich her, und muss Euch
sagen, es ruhet sehr: Ich bin ganz allein durch die Gegend gelaufen.
Auf der Route Départementale ist kein Auto gefahren. Und obwohl wir
gar nicht so weit vom Flughafen von Marseille entfernt wohnen, kreuzt
kein Jet, kein Kondensstreifen mehr den Himmel.
Jetzt
arbeite ich und harre der Dinge und höre von draußen die Vögel
singen. Sie klingen unglaublich fröhlich – und ein ganz klein
bisschen so, als lachten sie uns aus.
Kleines
Update, vor allem für die Freunde in Deutschland, denen der Shutdown
ja noch bevorsteht:
Tag
drei der Ausgangssperre. Einer der wenigen erlaubten Gründe, um sein
Haus zu verlassen: Einkaufen! Also lade ich mir von der Seite des
Innenministeriums ein PDF-Formular herunter und drucke es aus, eine
Art Ehrenerklärung: handschriftlich fülle ich darin Namen, Adresse,
Geburtsdatum aus, kreuze an, dass ich Fressalien holen will (weitere
Gründe, um das Haus zu verlassen, sind zum Beispiel Arztbesuche oder
Hilfe für Familienangehörige), datiere und unterschreibe das. Jedes
Mal, wenn ich das Haus in den nächsten Tagen verlassen werde, muss
ich selbiges Formular neu ausdrucken und ausfüllen – schöne
Sch..., wenn man vor dem Ausnahmezustand die Druckerpatronen nicht
nachgefüllt hat...
Gut,
mit dem Papier im Auto geht’s zum kleinen Supermarkt der kleinen
Stadt nebenan. Gendarmen kontrollieren überall, mein Sohn ist gleich
am ersten Tag zweimal angehalten worden. Wenn man das Formular nicht
dabei hat, oder die Flics einem den vorgeblichen Grund der Fahrt
nicht glauben, hagelt es 135 Euro Strafe.
Bon.
Heil zum Supermarkt gekommen, Parkplatz voll wie nie, aber immerhin
keine Schlange am Eingang. Die Kunden tragen Einwegplastikhandschuhe,
manche auch Masken. Eine Frau hat sich aus buntem Stoff und
Gummibändern von Jogginghosen einen ganz eigenwilligen
Gesichtsschutz fabriziert. Niemand lacht, klar, überhaupt sagt kaum
jemand ein Wort. Zwischen Regalen und Einkaufswagen schiebt man sich
mehr oder weniger artistisch aneinander vorbei – ein Meter Abstand,
putain! Ein älterer Herr, der mich unbedingt überholen will,
hält tatsächlich vorher die Luft an, stürzt sich an mir vorbei und
atmet zwei Meter weiter tief ein, als wäre er soeben aus hundert
Metern aufgetaucht.
Gefühlt
ist – es ist Freitagmittag – bereits die Hälfte der Regale
leer, wobei sich seltsame Schlagseiten gebildet haben. Warum ist
Müsli ausverkauft, Cornflakes sind es nicht? Warum sind Toastbrote
fort, aber noch massig Tüten mit Milchbrötchen und anderem Gebäck
da? Warum fehlen Eier, Milch und Joghurt, aber Käse (ausgerechnet
Käse in Frankreich!) quillt aus dem Kühlregal? Warum fehlen Nudeln
und Reis, aber Couscous wird nicht angerührt? Warum, ja doch, ist
tatsächlich auch die letzte Rolle Toilettenpapier weggebeamt?
(Verwechseln die Leute Corona- mit Noro-Viren?) Andererseits: Warum
sind Obst und Gemüse, also genau die Sachen, die dein Immunsystem
stärken, im Überfluss vorhanden? Glauben die Kunden, sie stecken
sich mit Tomaten und Orangen an, mit Spaghetti aber nicht? Rätsel
über Rätsel...
Kein
Rätsel: Beim Drogeriebedarf ist jedes Wässerchen, das auch nur
einen Hauch Alkohol enthält, fort: Anti-Pickel-Lotion, das
Handwaschgel der Generation Corona.
Während
man durch die Regale um Mitkunden Slalom fährt, hallen Durchsagen
durch den Markt: mehr und mehr Kollegen sollen die Kassen bemannen.
Zwischen diesen Ankündigungen läuft das Mantra der Regierung, eine
offizielle Verlautbarung, der du nirgends mehr entkommen kannst, im
Fernsehen nicht, im Internet nicht, im Radio nicht und auch nicht im
Supermarkt: Hände waschen, Abstand halten...
Vor
der Kasse sind mit orangefarbenem Tesaband
Ein-Meter-Abstandsmarkierungen auf den Boden geklebt worden – und
die Leute halten sich auch daran. (Abgesehen davon, dass jeder hoch
beladene Einkaufswagen eh wie eine Barriere wirkt.) An der Kasse
bedient mich ein junger Mann, in den anderen Reihen arbeiten seine
Kolleginnen. Seine Stimme klingt dumpf hinter der Maske, aber er sagt
jedem Kunden freundlich „Bonjour“. Wenn du Helden sehen
willst, dann hier: ein Junge, der für den Mindestlohn schuftet und
mit Gummihandschuhen und einem Mundschutz vom Baumarkt auf Posten
bleibt, wie ein Soldat in der Schlacht.
P.S.:
Diesmal gibt’s keine passenden Fotos zum Text, denn Menschen mit
Gesichtsmasken und Schlangen vor Apotheken habe ich in den letzten
Tagen so viele gesehen, dass es für mein Restleben reicht.
Stattdessen: die Provence mal hier, mal dort. Sieht ja auch nicht
schlecht aus.
Danke für den Lagebericht aus der Provence in Corona-Zeiten. Unser Sohn lebt in Paris und berichtet ähnliches. Viel Kraft für die Familie, die ja offensichtlich an vorderster Linie mithilft. Ach ja, lese Ihre Romane sehr gerne!
AntwortenLöschenBesten Dank, herzliche Grüße und bleiben Sie gesund - das wünsche ich selbstverständlich auch Ihrem Sohn. Ihr Cay Rademacher
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