Dienstag, 21. April 2020

Die Ruinen von Vernègues


Heute erzähle ich Ihnen was von einer Katastrophe, die ganz ohne selbstgeschneiderte Gesichtsmasken und Bundesligageisterspiele auskommt – einer gar nicht so fernen Katastrophe, die uns stattdessen verwunschene Ruinen und düstere Legenden hinterlassen hat.
Einem Erdbeben.
Erdbeben? In der Provence? Mais oui.



11. Juni 1909, 21.19 Uhr. Tief unter den Ländern des nordwestlichen Mittelmeers schiebt sich die adriatische nordwärts gegen die eurasische Platte, ein paar Millimeter jährlich, ein gewaltiger geologischer Prozess, der unter anderem die Alpen aufgeworfen hat, nichts anderes als eine Stein gewordene Knautschzone zweier Erdplatten. Dabei verhaken sich diese Platten, Spannungen bauen sich auf – bis sie sich in ruckartigem Zittern und Grollen entladen. So wie an diesem Spätfrühlingsabend, kurz nach einem Regenschauer. Stärke 6,2 auf der Richterskala werden Seismologen später feststellen, die Stöße sind von Montpellier bis Genua zu spüren.
Das Epizentrum des Bebens lag aber in der Provence. Wie schon im 16. Jahrhundert. Wie schon im 13. Jahrhundert. „Ich kam aus Saint Cannat zurück, ich hörte dreimal Lärm wie Detonationen, dann ein Grollen“, schrieb ein Augenzeuge. „Ich dachte an die schrecklichen Prophezeiungen des Nostradamus...“
1909 wurden innerhalb weniger Sekunden allein in der Provence dreitausend Gebäude zerstört oder beschädigt. In Salon-de-Provence etwa stürzten von der gewaltigen mittelalterlichen Burg im Zentrum, dem Château Empéri, ein Turm und zwanzig Meter Mauer ein, vom nahen Rathaus fiel eine Balustrade auf die Straße – und ausgerechnet das Haus des Nostradamus wurde demoliert. In Avignon steht seither der Turm des Augustinerkonvents schief, in Cornillon-Confoux stürzte das Glockengestell der tausend Jahre alten Kirche zu Boden und in Lambesc blieb die Kirchturmuhr stehen. (Weshalb wir das Beben auf die Sekunde genau bestimmen können.) Zweihundert Menschen wurden verletzt, sechsundvierzig von Trümmern erschlagen.



Das Epizentrum des Epizentrums lag – wie schon im Mittelalter – unter dem Städtchen Vernègues, etwa zehn Kilometer nordöstlich von Salon-de-Provence. Ein Dorf mit Burg und Kirche und Windmühle, auf einem beinahe vierhundert Meter hohen Bergsporn im Massif des Costes. Im 8. Jahrhundert wurde auf dem gut zu verteidigenden Hügel das „Castrum Alvernicum“ errichtet (daher der Name), das über die Jahre zu einer gewaltigen Burg ausgebaut wurde. Einer ihrer Herren – Guillaume de Damian – heiratete im 15. Jahrhundert eine De Sade, seither waren die aus Vernègues mit den Sadisten verwandt.
Das Beben von 1909 machte Vernègues den Garaus, eine Art Aleppo in der Provence, nur ohne Zutun eines blutrünstigen Diktators: Die Burg wurde regelrecht zersprengt, kaum mehr als zwei Außenmauern und Reste eines gotischen Gewölbes im Innern blieben erhalten. Die Windmühle ein paar hundert Meter weiter wirkt, als sei sie geköpft worden, es steht nur noch ein zylinderförmiger Steinstumpf. Der Kirche Saint-Jacques kamen Fassade und überhaupt die vordere Hälfte abhanden. Und von den Häusern wurde jedes einzelne zerstört – bis auf eine große, aus massigen Steinen gefügte Werkstatt am Dorfrand. Wie durch ein Wunder starben „nur“ zwei der damals dreihundert Einwohner.



Die Überlebenden flohen und bauten ihre Stadt fast hundert Meter tiefer am Hang wieder auf. Seit 1909 ist Vernègues daher eine Geisterstadt, ein von Ginster und Eichen überwuchertes Ruinenfeld, durch das Füchse und Fledermäuse streifen. Ein provenzalisches Pompeji, Betreten auf eigene Gefahr, dafür ohne Kassenhäuschen, Eintrittskarten und Schautafeln. Ein stiller, manchmal düsterer Ort, in dem es jedoch nach Thymian und Rosmarin duftet. Ein Labyrinth zwischen aufgerissenen Kellergewölben und bedrohlich instabil wirkenden Ruinen.



Seit 2011 ist die ganze Region als zone seismique deklariert, jedes neue Haus muss seither erdbebensicher gebaut werden. Aber alte Bauwerke? Tja...
Unsere Ölmühle steht gut zwanzig Kilometer von Vernègues entfernt. Die Nordwand des Gebäudes ist mehr als zwei Jahrhunderte alt, sie ist aus schweren Steinen gemauert und etwa einen Meter dick. Doch noch heute erkennt man einen Riss vom Erdboden bis fast zum Dachstuhl – ein Souvenir von 1909. Hoffen wir einfach, dass wieder einige Jahrhunderte verwehen werden, bevor sich adriatische und eurasische Platte erneut schütteln.

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