Heute
erzähle ich Ihnen was von einer Katastrophe, die ganz ohne
selbstgeschneiderte Gesichtsmasken und Bundesligageisterspiele
auskommt – einer gar nicht so fernen Katastrophe, die uns
stattdessen verwunschene Ruinen und düstere Legenden hinterlassen
hat.
Einem
Erdbeben.
Erdbeben?
In der Provence? Mais
oui.
11.
Juni 1909, 21.19 Uhr. Tief unter den Ländern des nordwestlichen
Mittelmeers schiebt sich die adriatische nordwärts gegen die
eurasische Platte, ein paar Millimeter jährlich, ein gewaltiger
geologischer Prozess, der unter anderem die Alpen aufgeworfen hat,
nichts anderes als eine Stein gewordene Knautschzone zweier Erdplatten.
Dabei verhaken sich diese Platten, Spannungen bauen sich auf – bis
sie sich in ruckartigem Zittern und Grollen entladen. So wie an
diesem Spätfrühlingsabend, kurz nach einem Regenschauer. Stärke
6,2 auf der Richterskala werden Seismologen später feststellen, die
Stöße sind von Montpellier bis Genua zu spüren.
Das
Epizentrum des Bebens lag aber in der Provence. Wie schon im 16.
Jahrhundert. Wie schon im 13. Jahrhundert. „Ich
kam aus Saint Cannat zurück, ich hörte dreimal Lärm wie
Detonationen, dann ein Grollen“, schrieb ein Augenzeuge. „Ich
dachte an die schrecklichen Prophezeiungen des Nostradamus...“
1909
wurden innerhalb weniger Sekunden allein in der Provence dreitausend
Gebäude zerstört oder beschädigt. In Salon-de-Provence etwa
stürzten von der gewaltigen mittelalterlichen Burg im Zentrum, dem
Château
Empéri, ein Turm und zwanzig Meter Mauer ein, vom nahen Rathaus fiel
eine Balustrade auf die Straße – und ausgerechnet das Haus des
Nostradamus wurde demoliert. In Avignon steht seither der Turm des
Augustinerkonvents schief, in Cornillon-Confoux stürzte das
Glockengestell der tausend Jahre alten Kirche zu Boden und in Lambesc
blieb die Kirchturmuhr stehen. (Weshalb wir das Beben auf die Sekunde
genau bestimmen können.) Zweihundert Menschen wurden verletzt,
sechsundvierzig von Trümmern erschlagen.
Das
Epizentrum des Epizentrums lag – wie schon im Mittelalter – unter
dem Städtchen Vernègues, etwa zehn Kilometer nordöstlich von
Salon-de-Provence. Ein Dorf mit Burg und Kirche und Windmühle, auf
einem beinahe vierhundert Meter hohen Bergsporn im Massif des Costes.
Im 8. Jahrhundert wurde auf dem gut zu verteidigenden Hügel das
„Castrum Alvernicum“ errichtet (daher der Name), das über die
Jahre zu einer gewaltigen Burg ausgebaut wurde. Einer ihrer Herren –
Guillaume de Damian – heiratete im 15. Jahrhundert eine De Sade,
seither waren die aus Vernègues mit den Sadisten verwandt.
Das
Beben von 1909 machte Vernègues den Garaus, eine Art Aleppo in der
Provence, nur ohne Zutun eines blutrünstigen Diktators: Die Burg
wurde regelrecht zersprengt, kaum mehr als zwei Außenmauern und
Reste eines gotischen Gewölbes im Innern blieben erhalten. Die
Windmühle ein paar hundert Meter weiter wirkt, als sei sie geköpft
worden, es steht nur noch ein zylinderförmiger Steinstumpf. Der
Kirche Saint-Jacques kamen Fassade und überhaupt die vordere Hälfte
abhanden. Und von den Häusern wurde jedes einzelne zerstört – bis
auf eine große, aus massigen Steinen gefügte Werkstatt am Dorfrand.
Wie durch ein Wunder starben „nur“ zwei der damals dreihundert
Einwohner.
Die
Überlebenden flohen und bauten ihre Stadt fast hundert Meter tiefer
am Hang wieder auf. Seit 1909 ist Vernègues daher eine Geisterstadt,
ein von Ginster und Eichen überwuchertes Ruinenfeld, durch das
Füchse und Fledermäuse streifen. Ein provenzalisches Pompeji,
Betreten auf eigene Gefahr, dafür ohne Kassenhäuschen,
Eintrittskarten und Schautafeln. Ein stiller, manchmal düsterer Ort,
in dem es jedoch nach Thymian und Rosmarin duftet. Ein Labyrinth
zwischen aufgerissenen Kellergewölben und bedrohlich instabil
wirkenden Ruinen.
Seit
2011 ist die ganze Region als zone
seismique
deklariert, jedes neue Haus muss seither erdbebensicher gebaut
werden. Aber alte Bauwerke? Tja...
Unsere
Ölmühle steht gut zwanzig Kilometer von Vernègues entfernt. Die
Nordwand des Gebäudes ist mehr als zwei Jahrhunderte alt, sie ist
aus schweren Steinen gemauert und etwa einen Meter dick. Doch noch
heute erkennt man einen Riss vom Erdboden bis fast zum Dachstuhl –
ein Souvenir von 1909. Hoffen wir einfach, dass wieder einige
Jahrhunderte verwehen werden, bevor sich adriatische und eurasische
Platte erneut schütteln.
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