In
„Verlorenes Vernègues“ muss Roger Blanc nicht allein mit seinen
Freuden und Feinden (und mit sich selbst) klarkommen – sondern auch
mit einem Rudel Wölfe. Wölfe sind für manche Menschen archaische
Todesboten aus finstersten Zeiten, für andere The World's Sexiest
Vierbeiner Alive. So oder so: Sie gehören wieder zur Provence dazu
wie Olivenbäume oder Lavendelsträucher oder die Flamingos der
Camargue.
Das
Comeback der Wölfe hat vor fast dreißig Jahren begonnen. Eigentlich
waren die Tiere in Frankreich ausgerottet worden. Doch ab den
1990er-Jahren wanderten zunächst einzelne Wölfe, dann ganze Rudel
von Italien aus in die französischen Alpen ein. Dort, im
Nationalpark Mercantour, wurden sie nicht mehr geschossen, sie waren
fruchtbar und vermehrten sich – und sie hatten Hunger. Zunächst
haben sie Bergziegen und Murmeltiere gejagt und was sonst noch im
Gebirge herum hüpft. Doch sehr rasch spezialisierten sich viele
Wölfe auf eine sehr einfach zu erlegende und zudem sehr schmackhafte
Beute: Schafe.
Schäfer
sind in den Alpen, in der Provence, überhaupt in Südfrankreich
ungefähr so exotisch wie Automechaniker in Baden-Württemberg: Das
ist ein Beruf wie Du und ich, allein in der Région PACA
(Provence-Alpes-Côte d'Azur) sind es
mehr als 1500, ungefähr sechzig Jungschäfer kommen jedes Jahr
hinzu, insgesamt hüten sie etwa 600 000 Schafe. Wer nicht gerade in
einer Großstadt wohnt, hat Schäfer im Freundes- und Bekanntenkreis.
Wir, zum Beispiel, leben nur ein paar Dutzend Meter neben einem alten
Schäferpaar. Und eine Mutter aus der Schule unserer Jüngsten ist
Schäferin, sie versorgt uns regelmäßig mit Lammfleisch. (Sorry,
hier ist niemand Veganer.)
Aber
nun gibt es den Wolf.
Zuerst
waren es ein paar Dutzend Schafe im Jahr, die gerissen wurden –
sicherlich weniger, als streunenden Hunden oder rasenden Autofahrern
zum Opfer fielen. Inzwischen sind es allerdings mehr als 10 000
Schafe im Jahr, mindestens. Ein Wolfsangriff gilt nur als solcher,
und der Schäfer wird nur dann vom Staat entschädigt, wenn im
getöteten Schaf eine DNA-Probe genommen wird, die eindeutig einem
Wolf zuzuordnen ist. Wird zum Beispiel ein Lamm gerissen und
verschwindet für immer im Unterholz, dann taucht es in dieser
blutigen Statistik nicht auf.
Durch
Frankreich streifen mindestens 500 Wölfe (das sind die Schätzungen
von Naturschützern), vielleicht sind es auch schon wieder 1000 Tiere
(das sind die Vermutungen von Schäfern und Jägern). In der Provence
sind inzwischen mehrere Rudel am Mont Ventoux und im Umland von
Aix-en-Provence heimisch, Einzeltiere – vermutlich zumeist junge
Rüden, die weite Wanderungen machen – sind schon neben dem
Krankenhaus von Manosque und der Grundschule von Digne-les-Bains
gesichtet worden, mitten in Weinstöcken, im Sumpf der Camargue und
sogar direkt neben den Raffinerien von Berre. (Und das alles in
Vor-Corona-Zeiten, als sich Wildtiere gemeinhin noch nicht so weit in
die Wüsteneien gewagt haben, die wir Zivilisation nennen.) Und ein
junger Wolf ist übrigens auch schon in den Hügeln hinter unserer
Ölmühle gesichtet worden, durch die ich jeden Morgen jogge – das
gibt einem ein ganz neues Laufgefühl, auch wenn ich bei meinen
Touren bislang bloß Kaninchen, Eichhörnchen oder bestenfalls mal
ein Wildschwein aufgescheucht habe.
Manche
Schäfer verlieren bis zu einhundert Tiere im Jahr, ein
ausgewachsenes Schaf hat einen Wert von etwa 200 Euro, es geht hier
also auch um ganz beachtliche Summen.
Man
kann sich denken, was kommt, oder?
Schäfer,
die selbstverständlich auch längst im 21. Jahrhundert angekommen
sind, filmen inzwischen ihre Herden nach einem Wolfsangriff und
stellen die Bilder auf YouTube – nix für schwache Nerven, manche
Schafherden sehen nach einem Wolfsangriff aus, als sei nachts in
ihrer Mitte eine Bombe explodiert. Viele legen sich Patous zu,
riesige Hütehunde, die für Menschen weitaus gefährlicher sind als
Wölfe (und genehmigungspflichtig wie Kampfhunde). Andere sind
bewaffnet. Und vor einiger Zeit haben sich Dutzende Bürgermeister
ländlicher Gemeinden mit ihren Knarren ablichten lassen und diese
Fotos auf Facebook gepostet, verbunden mit der kaum verklausulierten
und total illegalen Aufforderung, demnächst diese Tiere einfach
abzuknallen. Die Aktion nannte sich: „Loups
– n'obligez pas les maires à faire ça.“
Die
Wolfsfreunde sind kaum weniger aggressiv, nur andersrum. Als sich
beispielsweise ein Bauernsohn, ein Teenager, nachts bei seiner Herde
umsah, wurde er plötzlich von einem Wolfsrudel umzingelt. Es geschah
ihm nichts, aber er fühlte sich bedroht. Das zumindest berichtete
eine Lokalzeitung (nicht der Junge selbst) – und seither wird der
arme Kerl mit Morddrohungen und Hass überzogen, nur weil er
angeblich gesagt hat, dass er Angst vor Wölfen hat.
Wölfe,
hysterische Menschen, Waffen... Das, finde ich, ist doch mal einen
Krimi wert. Roger Blanc ermittelt also diesmal in Vieux Vernègues,
einer gespenstischen Ruinenstadt (siehe hier: ) und in den antiken
Ruinen von Château Bas. Eigentlich
haben bloß zwei alte Schäfer ein paar Tiere an die Wölfe verloren,
und das ist nun schon beinahe Routine. Doch dann werden die Menschen
nervös, dann schießwütig, dann schießen sie tatsächlich – und
nicht nur auf die Tiere...
Ich
hoffe, Sie haben Spaß bei der Lektüre. Und seien Sie versichert: Es
sind nicht die Wölfe, die hier die Killer sind.
P.S.:
„Verlorenes Vernègues“ kommt am 19. Mai 2020 heraus, geschrieben
habe ich den Text im letzten Jahr. Doch als ich das Manuskript Anfang
diesen Jahres mit meiner verehrten Lektorin durchgearbeitet habe, ist
mir plötzlich aufgefallen, wie gespenstisch das ist: Ein archaischer
Schrecken, die Menschen werden panisch, suchen Schuldige, bald
herrscht Ausnahmezustand... Es muss kein zentnerschwerer Wolf sein,
so etwas schafft auch ein winziges Virus.
P.P.S.: Hier gibt es noch ein Interview zum Thema:
Habe "Verlorenes Vernègues" soeben zuende gelesen. Wer hätte das gedacht (hier im Siebengebirge), dass Jäger und Naturschützer und überhaupt die Menschen in der Provence sich auch in Wirklichkeit verstärkt mit dem Thema Wölfe auseinanderzusetzen haben.
AntwortenLöschenCapitaine Blanc uns sein Freund Marius, Fabienne und Paulette sind mir mit der Zeit echt ans Herz gewachsen. Hoffe, dass ich noch viel von ihnen höre. Ich gratuliere zum neuen Werk!
Liebe Grüße, Heide
Liebe Heide, merci beaucoup und beste Grüße aus dem Süden! Cay
AntwortenLöschenGekauft (via Apple Bookstore) ... und veschlungen. Da nun wieder die Grenzen wieder offen sind und vom Tessin aus die Camargue nicht so weit ist, macht es Lust auf eine Tour an die verschiedenen Standorte ihrer Erzählungen. Wer weiss... Einzige Schwierigkeit diesmal ... sich im Juli in die Januar Ambience zu versetzen! Freu mich schon auf Februar! .... ;)
AntwortenLöschenVielen Dank - und ab Februar wird's wieder frühlingshaft warm...
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