Manchmal fragen mich Freunde, wie das ist, in einem Land zu leben, in dem die Arbeitswoche aus zwei Tagen Wochenende und fünf Tagen Streik besteht. (In welchem anderen Land auf der Welt demonstrieren Siebzehnjährige nicht wegen Klimawandel, MeToo, Black Lives Matter oder was auch immer, sondern weil das Renteneintrittsalter um 24 Monate erhöht wird? In welchem anderen Land werden diese 24 Monate von führenden Oppositionspolitikerinnen und Gewerkschaftern als „brutal“ und „gewalttätig“ geschmäht, so, als sei Rente mit 64 ungefähr dasselbe wie Krieg in der Ukraine?)
Bien, also Streik. Streik in den Raffinerien, also kein Benzin mehr an der Tankstelle. Super, wir haben ein Elektroauto. Hat aber nur eine begrenzte Reichweite und vier Plätze. Am Wochenende muss ich die Austauschpartnerin unserer Tochter und mehrere Schülerinnen am TGV-Bahnhof von Aix-en-Provence abholen – wir sollen fünf Leute in der Karre sein und die Fahrt ist zudem ziemlich weit. Wir haben genau dafür auch einen Minivan, sieben Plätze, Diesel, so was von solide – und leider praktisch leergefahren, als CGT & Co. mit brennenden Reifen die Raffinerien blockieren. Wie hole ich die Kids nun ab? (Busfahrer streiken vermutlich auch, und wenn sie nicht streiken: Ihre Busse fahren ebenfalls mit Diesel und, tja, siehe oben.)
Alle Tanken in zwanzig Kilometer Umkreis sind seit letztem Wochenende leer, Putin würde sich in die Hosen machen vor Lachen. Frankreich kriegst du ganz ohne Krieg trocken. Na, jedenfalls muss ich unsere Tochter heute kurz ins Nachbardorf fahren, dafür reicht es noch, ich rolle zufällig am Supermarkt vorbei – und da steht ein Tanklastwagen an der Tankstelle!
Mit quietschenden Reifen hin, andere Autofahrer auch, wie ein Haufen Fliegen auf einen Haufen … genau. Na, jedenfalls stehen wir hinter dem Tankwagen, der Fahrer schließt oberschenkeldicke Schläuche an. Ein Heiliger! Wie lange dauert es, eine Tankstelle zu betanken? Eine gute halbe Stunde, danke, ich bin jetzt im Bilde.
Hinter uns wird die Schlange der Fliegen, äh Autofahrer lang und länger, raus auf die Zufahrtsstraße, schließlich raus auf den Kreisel, wo der Durchgangsverkehr nicht mehr weiterkommt. Gehupe, Gedröhne von Lastwagen, wenig nette Worte aus heruntergekurbelten Seitenfenstern, die übliche Folklore. Zwei engagierte Mitarbeiterinnen stürzen aus dem Supermarkt und versuchen, das Chaos irgendwie zu regeln. Dann kommen die Flics. Erst ein Streifenwagen, dann zwei, dann drei. Irgendwie wird zwar die Warteschlange immer länger, trotzdem passt der Durchgangsverkehr auf einmal durch den Kreisverkehr und ein paar Uniformen beruhigen auch sonst die Gemüter.
Während ich warte und fasziniert zusehe, was ein Tankwagenfahrer mit Tankschläuchen so alles macht (Er haut zum Beispiel mit einem Eisengerät auf die metallenen Endstücke und löst so irgendwelche Adapter oder was weiß ich.), geht ein Mann mit einem Hund spazieren. Typ: tiefentspannter Rentner, fröhlich, mit Tennissocken in Badelatschen. Flüchtig frage ich mich, wo dieser Mann wohl herkommt? Wer treibt seinen Köter in Adiletten auf einem Supermarktparkplatz zum Gassi? Wo, verdammt, ist überhaupt das nächste Haus hier?
Irgendwann endlich donnert der Tankwagen leer und glücklich davon. Diesel! Denkste. Der Rentnertyp mit dem Gassihund ist der, sorry, Klischees sind halt manchmal doch wahr, Mercedesfahrer, der direkt hinter dem Tankwagen wartete. Also, statt dass der Mercedes jetzt zur Zapfsäule rollt, muss erst der Rentner hinein. Nein, ach, zuerst der Hund, dann das Herrchen. Dann fährt der Typ zehn Meter bis zur Säule und, nein, merde, der Tankverschluss seiner Karre ist ja auf der anderen Autoseite, das ist ihm die letzte halbe Stunde gar nicht aufgefallen. So wird das nichts, der Schlauch der Zapfsäule ist nicht lang genug. Also noch mal rückwärts näher an die Säule ranfahren und rangieren. Dann steigt er aus und … und … und sieht einen Bekannten, irgendwo weit hinten in der Warteschlange. Der Bekannte steigt auch aus dem Wagen. „Salut!“ und großes Palaver.
Der Mann ist so tiefentspannt, der ahnt nicht einmal, dass hinter ihm hundert Leute in ihren Autos sitzen und kurz davor sind, ihn skrupellos niederzufahren. Mord wabert durch die Luft, und zum Glück sind sechs Flics da, die einem Hund und seinem Herrchen das Leben retten.
Endlich ist der blöde Daimler voll, und dann der Peugeot, und dann der Fiat 500 (Nur 28 Liter zeigt das Display der Zapfsäule, ich könnte die Fahrerin küssen, gelobt seien Kleinwagen, da bleibt für uns andere mehr übrig.) Endlich fließt der stinkende Saft auch in meine Karre. Das reicht für die nächsten tausend Kilometer.
Und bis zum nächsten Streik, nach dem nächsten Wochenende.
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