Wenn
bei uns der Mistral so richtig wütet, dann schützen wir uns vor dem
eisigen Gast, indem wir ... Kissen unter die Fensterläden stopfen.
Das hat nichts damit zu tun, dass es bei starkem Wind ins Haus zieht:
in unserem alten Kasten zieht es an manchen Ecken so stark, wie die
Bundesbahn ihre ICEs gerne ziehen würde, wenn sie könnte. Da hilft
aber auch ein Ballen Stoff nichts. Nein, wir klemmen stets ein altes
Kissen außen zwischen Fensterladen und Mauer, weil der Mistral
selbst am geschlossenen und verriegelten Laden so enervierend
rüttelt, dass du nachts kein Auge zutun kannst. Der weiche Stoff ist
so etwas wie ein Böen-Stoßdämpfer, jetzt klappert unser Laden nur
noch dezent wie einstens unser Renault Espace. (Aber ja: Capitaine
Blanc fährt einen uralten Espace, und zufälligerweise weiß ich
genau, wie sich das anfühlt.)
Der
Mistral kann im Rhône-nahen
Teil der Provence zu jeder Jahreszeit Bonjour
sagen. Selbst im Juli sind es im Schnitt acht Tage, allerdings meist
verteilt auf die viereinhalb Wochen. Weiter östlich, in
Aix-en-Provence zum Beispiel, lässt sich dieser Wind nur selten
spüren. Diese Landesteile liegen zwar höher und näher an den
Alpen, aber es ist halt das große Flusstal, das wie eine Düse
wirkt. Je weiter entfernt von der Rhône
man lebt, desto ruhiger wird es.
Wir
allerdings wohnen, was das angeht, in diesem Januar genau in der
Mitte der Rhône.
Putain,
mehr Wind geht nicht. Sylvester verweht. Heilige Drei Könige
verweht. Schulbeginn verweht. Hört das denn niemals auf? Anfangs ist
es bloß so ein Gefühl, dass es eine derart ununterbrochene
Beblasung noch nie zuvor gegeben hat. Inzwischen haben wir es
amtlich: Bei uns, wie überall am Ufer des Étang de Berre, hat der
Mistral vom 1. Januar an fünfzehn Tage lang niemals mit weniger als
sechzig Stundenkilometern geblasen. Tag und Nacht, morgens und
abends, Temperatur um die null Grad, Wind wie auf der Frontscheibe
des Autos, und in Böen verdoppelt sich das.
Das
hat es niemals zuvor gegeben, zumindest seit Météo France das
Wetter aufzeichnet. Der bisherige Rekordhalter war der Januar 1965
mit zwölf Tagen nonstop.
Ist
das jetzt auch der Klimawandel? Wird alles immer wärmer, obwohl sich
das gerade so anfühlt, als bläst uns der Mistral in die
Würm-Eiszeit zurück? Keine Ahnung. Wenn Gewitter und alle Arten
sonstiger Stürme häufiger werden, warum soll dann nicht auch der
Mistral Kapriolen schlagen? Zumal es im vorangegangenen Sommer gerade
nicht geblasen hat. Wir erinnern uns: acht Tage Mistral ist das
langjährige Mittel hier. Im Juli 2018 waren es allerdings bloß
drei. Es war hier so heiß und so windstill, dass (nicht nur
deswegen, aber auch) das Wasser im flachen Étang de Berre wochenlang
über dreißig Grad warm war – und die Fische und Muscheln in der
überwarmen, sauerstoffarmen Brühe zu Tausenden verreckt sind.
Das
also ist der erste Vorteil des Dauermistral: er bläst, haben
Meeresbiologen gemessen, wieder Sauerstoff in den Étang de Berre,
das Gewässer wird ordentlich durchlüftet.
Zweiter
Vorteil: Hundespaziergang.
Jeden
Morgen schleppe ich ungefähr zu Sonnenaufgang einen noch
schlaftrunkenen, halb bewusstlosen jungen Hund auf die bewaldeten
Hügel hinter unserer alten Ölmühle. Und während Orson dann tut,
was Hunde so tun, wenn sie endlich wach sind, explodiert über mir
der Himmel. Zuerst funkeln noch die Sterne. (Mais
oui,
sie funkeln, die Luft muss nur klar genug sein!) Venus und Jupiter
liefern sich ein lustiges Rennen an der Final Frontier und der Mond
tut, was der Mond tun muss, wenn er nicht ganz untergegangen ist.
Dann
ist es, als kippe Gott versehentlich einen Eimer stark verdünnter
Wasserfarbe übers Firmament. Während oben noch die Sterne, genau,
funkeln, leuchtet es am östlichen Horizont hinter den
Scherenschnitten von Pinien und mediterranen Eichen weißbläulich,
dann ein wenig rosa und orange, schließlich blau.
Ich bleib dann
immer stehen, zücke mit klammen Fingern mein Handy und schieße
kitschige Fotos wie ein Blöder. Zumindest so lange, bis Orson sich
langweilt und mit gezielten Sprüngen gegen meine Hüfte die Bilder
verwackeln lässt.
Übrigens:
Es geht ein provenzalischer Mythos, dass der Mistral entweder einen
Tag lang weht. Weht er jedoch mehr als einen Tag, dann weht er in
einer durch drei teilbaren Zahl. Drei Tage, sechs Tage... Alles
Quatsch, Aberglauben, Unsinn, Unwissenschaft, sagen die Experten von
Météo France dazu. Dieselben Experten, die die Rekordzahlen
aufzeichnen: zwölf Tage, fünfzehn Tage...
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