Marseille, Seefahrt, Hafenromantik! Eh bien... Sehen sich Landratten wie du und ich mal die Statistiken an – wieviele Tonnen Fracht werden pro Jahr umgeschlagen, wieviele Container aus- und eingeladen, wieviele Passagiere kommen und gehen von Bord, solche Sachen – tja, dann, surprise, ist unser guter alter provenzalischer Port tatsächlich immer noch eine große Nummer im Mittelmeer. Aber wen interessieren schon Statistiken? Genau.
Historiker verkünden: Griechische Seefahrer aus Phokaia haben, wohl so um 600 vor Christus, Massalia gegründet. Damit war in Marseille schon der Seebär los, als sie in Hamburg oder Rotterdam noch auf den Bäumen saßen. Der Vieux Port, der „Alte Hafen“, ist tatsächlich ein sehr alter Hafen, denn seine Kais erstrecken sich noch ungefähr da, wo schon die alten Griechen Molen erbaut hatten. Aber wen interessiert schon Geschichte? Genau.
Landratten sehen, wenn sie um den Vieux Port herum flanieren (da brachst du keine Viertelstunde, so riesig ist der nicht) hauptsächlich Masten und Außenbordmotoren, dazwischen ein paar unverdrossene Angler: der Vieux Port ist ein Yachthafen wie du und ich, richtig cozy, man darf auch gerne träumen, mal selbst am Steuer der einen oder anderen Yacht zu stehen, aber, hey, ein richtiger Hafen ist das nicht. (Immerhin haben Archäologen und Freiwillige vor einigen Jahren die Gyptis nachgebaut, nach dem Wrack eines antiken griechischen Fischerbootes, das im Erdreich von Marseille geborgen worden ist. Damit segeln Enthusiasten wieder herum, sehr schön und sehr Old School und der Heimathafen ist der Vieux Port.) Wo, zum Klabautermann, sind dann aber die ganzen Schiffe, ich meine: die richtigen Schiffe?
Alors: Das, was heute in nautischen Kreisen „Marseille“ heißt, findet im echten Leben eigentlich fünfzig Kilometer weiter westlich statt. In Fos-sur-Mer legen geradezu gigantische Containerschiffe und Tanker an, da wird die Tonnage gemacht. Nur: Zusehen darf man dabei nicht, das ist praktisch alles abgesperrt. Nix leichte Mädchen, schwere Matrosen, das ist alles Pipeline und Lastwagenstau auf der einzigen Zubringerstraße.
Wer es doch Hardcore haben möchte, dem empfehle ich Port-de-Bouc nebenan. Dort ist ein zweiter, kleinerer Tankerhafen angelegt worden, direkt gegenüber vom Yachthafen. Wer dort mit dem eigenen oder gecharterten Bötchen herumfährt, sieht Tanker, die langsam leergepumpt werden, bewundert das Ballett der Schlepper, atmet den lieblichen Duft diverser Erdölderivate ein.
Doch in Marseille? D'accord, hier landen größenwahnsinnige Kreuzfahrtschiffe an. Wer auf diese schwimmenden Hotels steht, kann an praktisch jedem beliebigen Tag auf jede beliebige Anhöhe der Stadt steigen und diese Neo-Titanics der Meere sehen. Der Hobbysegler in mir wundert sich stets aufs Neue, dass diese Kästen, die inzwischen wolkenkratzerhoch sind (und das ist keine Übertreibung), nicht einfach bei der ersten seitlichen Böe kentern, ja, dass diese Brocken überhaupt schwimmen. Da müssen Gesetze der Quantenphysik wirken, nicht der Physik wie du und ich.
Bref, Seefahrerromantik mit Reisenden wie aus der Dritten Klasse, Auswanderern, qualmenden Schornsteinen, rosttätowierten Rümpfen, übellaunigen Matrosen, überforderten Stewards, misstrauischen Zöllnern, wagemutig gestapelter Fracht - gibt’s das nicht mehr, nicht einmal in Marseille? Mais oui. Dafür geht man einfach in ein, genau, Einkaufszentrum.
Terrasses du Port heißt es, ist ziemlich neu und ziemlich luxuriös (luxuriös genug für einen Apple-Store) und liegt hinreißend direkt am Mittelmeer. Das heißt, eben nicht ganz direkt. Zwischen Konsum und Küstensaum erstreckt sich der Kai, an dem die Fähren für Korsika und den Maghreb anlegen. Und DIE sind cool. Hier ist Seefahrt noch nicht Kreuzfahrt, sondern nüchterner Personentransport, hier ist der Passagier nicht verwöhnter Gast, hier darf er noch Fracht sein. Wenn man ahnen will, wie es in den vielleicht denn doch nicht ganz so goldenen Zeiten der Dampfschifffahrt einst überall in Europas, Amerikas und eigentlich allen Häfen zuging: Wenn du die zwei Ströme der Ankömmlinge und der Abfahrenden sehen möchtest, der Jungen und Alten, der Hoffnungsvollen und Gescheiterten, derjenigen, die voller Energie ankommen und voller Glück abreisen (oder eben nicht), der Frauen, Männer, Kinder, dann stell dich auf den Quai de la Joliette vor oder das Dach auf den Terrasses du Port und staune. Ein-, Aus- und Rückwanderer, schwere und leichte Fracht und dahinter die offene See – das gibt’s direkt hinter dem Apple-Store, das ist mein Lieblingshafen in Marseille.
Ah, Vieux Port: Heute genießen den täglich viele Touristen, und er ist ja auch wirklich schön. Die Restaurants an seinen drei Ufern sind allerdings, nun ja, formulieren wir es so: Eben vor allem auf Touristen eingestellt. Wenn man hier speisen möchte, dann empfehle ich die Wanderung bis ganz ans Ende: Au Bout du Quai, Ecke Quai du Port, Avenue de Saint-Jean. Sehr nett, gutes Essen, und da der Laden von Frauen geführt wird, haben wir neben all den Seemännern ganz am Ende des Kais auch noch ein paar Seefrauen gewürdigt.
P.S.: Chère amies, cher amis, à partir du 11 octobre nous pouvons embarquer pour un voyage (historique) entre Marseille et Mascate. Bienvenue à bord du Champollion...
https://www.editions-jclattes.fr/livre/la-traversee-vers-mascate-9782702451212/
Und hier ist der Link zum Provencebrief rund ums Original:
https://provencebriefe.blogspot.com/2022/08/die-passage-nach-maskat.html
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