Zufallsfunde sind die schönsten Funde – doch es passiert einem auch nicht alle Tage, dass man zufällig gleich über eine ganze Kirche stolpert, die sich im Wald verlaufen hat. Beziehungsweise eine halbe Kirche, die sich... Also, die Geschichte geht so:
Bei Recherchen für „Stille Sainte-Victoire“, meinen zehnten Krimi mit Capitaine Roger Blanc (mehr dazu hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2023/05/stille-sainte-victoire-roger-blancs.html), haben meine Frau und ich eines Tages Kurs auf ein Hochplateau bei Velaux genommen. Dort werden seit einigen Jahren ziemlich spektakuläre Dinosaurierfossilien entdeckt. Dafür steigen wir im Schatten von Aleppo-Kiefern einen nicht markierten Forstweg durch einen kleine Wald den Hang hinauf – und stehen plötzlich vor einer winzigen Kapelle.
Zwischen den Stämmen ragt ein kleines, ganz gut getarntes Gotteshaus auf: Die schmucklosen Außenmauern, formulieren wir es freundlich, ockerbraun verputzt, das Dach bekrönt von einem bescheidenen Glockengestell. (Das heißt, eigentlich wird das Dach von einem Micocoulier bekrönt, der aus selbigem herauswächst. Hier ist auf jeden Fall schon sehr, sehr lange kein Dachdecker mehr tätig gewesen.) Der Teilzeit-Architekturexperte in mir schätzt anhand von Form und Größe, dass die Kapelle zwischen einhundert und zweihundert Jahre alt ist. Also, für unsere in Epochen denkende Südregion, ein eher neuer Schuppen.
Nur: Von wem ist dieses Kirchlein erbaut worden? Und wozu?
Weit und breit wohnen weder Lebende in einem Ort, noch Tote auf einem Friedhof. Keine bedeutendere Straße ist in der Nähe, jeder mir bekannte Pilgerweg schlägt einen großen Bogen um diesen Flecken Erde. Genau genommen schlägt so ziemlich jeder Weg einen Bogen, denn außer dem Pfad der Förster und Waldarbeiter gibt es hier keine Schneise im Grün. Die Kapelle steht einsam im Wald, und niemand weiß warum.
Niemand kennt auch ihren Namen. Keine Inschrift am Giebel über dem Eingangsportal, keine Heiligenstatue, kein Heiligenbild. Eh bien, Bild... Der Innenraum, ich will nicht sagen: leuchtet, doch schimmert blau, rot, gelb, eigentlich in allen schönen Farben. Ein Abglanz alter Fresken, mit denen die Kapelle einst vollständig ausgemalt gewesen sein muss, ein buntes Schmuckkästchen Gottes. Heute noch, eben, schimmert es hier und dort, und ich fühle mich zwar nicht wie Howard Carter im Grab des Tutanchamun, aber doch wie ein Entdecker, der dem Abendglanz einer uralten Zivilisation bestaunt.
Dabei ist es doch bloß ein namenloses Kapellchen.
Davor steht ein schmuckloser Sockel, von dem aus vielleicht einst die so schmerzlich vermisste Heiligenfigur (Oder die Mutter Gottes? Oder ein Kreuz?) in den Himmel oder auf den verirrten Pilger blickte. Diesen Sockel verziert eine moderne, hingesprayte … Zielscheibe. Die Hand, die diese deformierte Zielscheibe malte, war so unsicher, dass ich mir lieber keine Waffe in selbiger Hand vorstellen möchte. Andererseits: Im Sockel stecken keine Einschüsse, wenn also nicht mit einer Knarre, womit hat der unbekannte Freischütz dann auf dieses Ding geballert? Pfeile mit Gummispitzen? Wasserpistolen? (Aber hier fließt weit und breit kein Bach, kein Tümpel ruhet still im Wald.) Paintball? (Ohne einen einzigen Fleck zu hinterlassen?)
Rätsel über Rätsel...
Die Provence hat circa drei Jahrtausende Kultur auf ihren Hügeln. Entdeckungen wie diese Kapelle sind selten, aber so selten denn wieder doch nicht. Von antiken Siedlungen bis zu eingestürzten modernen Tunneln darf sich so ziemlich jeder Liebhaber der letzten paar abendländischen Großepochen auf unverhoffte Zufallsfunde freuen. Sie sind spannend, schön, manchmal gruselig, gar gefährlich zu besichtigen, verwunschen, anstrengend, bescheiden, was du willst – sie geben mehr Fragen auf, als Antworten zu geben.
Alles also ziemlich coole Orte für einen Krimi.
Apropos Krimi, aber doch was ganz anderes: Am 18. Juli 2023 erscheint die Taschenbuchausgabe von „Die Passage nach Maskat“. (mehr dazu hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2022/08/die-passage-nach-maskat.html) Klein, handlich, also ich würde damit in Urlaub fahren, wenn ich nicht schon wüsste, um was es geht...
In diesem Sinne einen schönen Sommer!
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