Januar – Zeit, ans Meer zu gehen. Irgendwie, keiner von uns kann mehr sagen, wann und warum genau, ist es zur Familientradition geworden, dass wir an einem Wochenende im Januar an der Côte Bleue entlangwandern. (Mehr zur „Blauen Küste“ steht hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2017/05/capitaineroger-blanc-lost-seinen.html) Dieses Jahr waren wir für unsere Verhältnisse spät dran, nämlich erst in der zweiten Monatshälfte. Außerdem ausflüglerten wir in verminderter Zahl, weil ein gewisses Virus zwei traditionelle Mitwanderer, beziehungsweise -wanderinnen so unglaublich positiv gestimmt hat, dass sie isoliert in den eigenen vier Wänden hocken und Puzzle zusammensetzen mussten.
Alors, Côte Bleue... Pinien und steile Felsen, Sonnenlicht wie gelbe Seide und das Große Blau bis zum Horizont. Du atmest freier, sobald du da bist, und hältst die Existenz Gottes doch für möglich. Das Fischerdorf Méjean (https://provencebriefe.blogspot.com/2019/04/jedervernunftige-mensch-zogert.html) liegt so reglos da wie ein Höhlenbär im Januar, das Restaurant „Le Mangetout“ ist geschlossen, ein handschriftlich verfasster Zettel im Fenster informiert, dass man irgendwann im April wieder öffnen werde. Und auf der Terrasse, die sommers Dutzende schlemmerfreudige Gäste aufnimmt, steht seltsamerweise eine blaue Tischtennisplatte. Wer spielt Pingpong und warum ausgerechnet hier? Mysterium.
Wir nehmen den Sentier des Douaniers, den die Zöllner einst mit ihren Stiefeln in den Stein getreten haben, als sie die unzugängliche Küste auf der Jagd nach Schmugglern abpatrouillierten. (Und vermutlich sind die Schmuggler auf dem Pfad entlanggeschlichen, sobald die Zöllner wieder fort waren.) Wir grüßen alte Freunde, zum Beispiel jene Pinie, die sich über dem Meer in eine Felsspalte gekrallt hat und deren Stamm so verdreht wirkt, als machte sie gerade einen doppelten Rittberger und habe vergessen, dass da noch irgendwo Wurzeln im Boden stecken.
Alles wie gehabt also? Nicht ganz. Denn andererseits, hey, müssen wir uns immer wieder mal in die Büsche schlagen. Der Weg ist nämlich oft so schmal, dass man entgegenkommenden Wanderern ausweichen muss (oder sie uns freundlicherweise vorbei lassen). Früher, ist eigentlich erst ein Jahr her, hatte man diese Route im Januar mehr oder weniger für sich. Ich will nicht sagen, dass es nun die Hohe Straße während des Winterschlussverkaufs ist, aber wir haben doch niemals zuvor so viele Leute gesehen wie diesmal. Liegt vielleicht auch an Corona: Jeder will raus, bei jeder Gelegenheit.
Auch auf dem Meer ankern gleich mehrere Yachten, deren Crews dem Mistral getrotzt haben. Einmal wuselt sogar ein ganzes Rudel von winzigen Laserjollen vorbei. Entweder fahren die eine Regatta, oder das ist der Ausritt einer Segelschule. So oder so: Das gab's früher auch nicht im Januar.
Wie immer klettern wir schließlich aus der Steilküste einen beinahe halsbrecherischen Pfad zur Calanque de l'Érevine hinunter, einer kleinen Bucht im Nirgendwo mit einer Insel davor, die aussieht wie ein steinernes Rennboot. Hier verbirgt sich der einzige, nun ja, Strand in ein paar Kilometer Umkreis: Ein Kiesstreifen, vielleicht hundert Meter lang und zwanzig breit, die Steine sind von zahllosen geduldigen Wellen glattgeschliffen worden. Das Wasser über dem ziemlich beeindruckend in die Tiefe abrauschenden Strand schimmert türkis wie aus der Karibikwerbung. In den Höhlen der dahinter aufragenden Steilküste ruhen sich manchmal Möwen aus, die so groß sind wie Flugsaurier. Und ab und zu kommen mit der Eisenbahn (https://provencebriefe.blogspot.com/2018/08/wasfallt-einem-spontan-zum-begriff.html) ein paar Typen aus den etwas heftigeren Vierteln von Marseille an, um hier Shisha und noch ganz anderes Zeug zu rauchen.
Diesmal nicht.
Ich fasse es nicht: Der Strand ist voll wie während der Sommerferien. Überall Picknick, nasse Hunde, knutschende Pärchen und, ungelogen, Badende. Wir zählen nach und nach etwa ein halbes Dutzend Leute, Männer wie Frauen, Alte wie Junge, die wie im Juli in Bikini oder Shorts gelassen über den Kies und dann ebenso gelassen ins Meer gehen. Kein Durchatmen, kein „Brrrrrr!“, kein rasches Unter- und dann erleichtertes Auftuchen und nix wie raus. Nö, die stiefeln da einfach rein und brustschwimmen los. Ein älterer Mann macht sich sogar gleich auf zur Insel. Niemand wirkt auf uns wie ein wodka- und eisgestärkter Russe, das sind alles ganz normale Südländer.
Unsere Jüngste steckt den Fuß ins Wasser und sagt: „Nächstes Mal nehmen wir auch unsere Badesachen mit!“ Tatsächlich ist das Wasser gefühlt ungefähr so warm wie die Luft in dieser windgeschützten Bucht. Alle Schwimmer, die wir fragen, versichern uns, dass es deshalb überhaupt keinen Unterschied macht, ob man nun drinnen oder draußen ist vom Mittelmeer. Eine zufällig vorbeischauende Strömung aus wärmeren Gefilden? Klimawandel? You name it.
Erst, als es zurückgeht, verrät die frühe Dämmerung, dass es doch noch nicht Sommer ist. Die Kälte reibt auf der Haut, der Sentier des Douaniers gehört uns endlich allein, und das Meer leuchtet wie eine Millionen Tonnen flüssiges Gold. Nächstes Jahr wandern wir wieder.
Und nehmen Badehosen mit.
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