Jeder
vernünftige Mensch zögert selbstverständlich, seine absoluten
Lieblingsorte ins Netz zu pusten. Denn wenn der eigene Lieblingsort
nicht zufällig Paris oder New York heißt, dann bedeutet ins Netz
pusten automatisch: viele Leute zum eigenen Lieblingsort locken. Bis
der dann so überlaufen ist, dass er plötzlich kein Lieblingsort
mehr ist. Bien,
ich vertraue einfach darauf, dass, erstens, Texte viel weniger
populär sind als Instagram-Fotos. Wer liest das hier schon?
Zweitens, falls es doch jemand liest: mein Lieblingsort ist zwischen
Juni und September gesperrt. Ehrenwort. Es führt eine einzige Straße
hin, und die wird im Sommer mit Schranke und schwarzgekleideten
Muskelmännern eines Security-Dienstes gesperrt. Keine Gated Community, sondern aktiver Brandschutz: Die Küste ist so trocken, dass jeder Besucher mehr die Brandgefahr erhöht. Nur wer einen
Anwohnerausweis an der Windschutzscheibe kleben hat, der darf
passieren. Alle anderen müssen die letzten paar Kilometer zu Fuß
gehen und, hey, der Weg zu meinem Lieblingsort ist WIRKLICH steil und
eng und kurvenreich...
Voilà:
Méjean. Das Paradies. Zumindest das Paradies für Leute, die das
Mittelmeer lieben und Pinienduft und Felsen und Zikadenlärm und
frische Fische (unter Wasser und auf dem Teller). Für Leute, denen
für glamouröses, lärmiges Nachtleben der Vollmond über leiser
Meeresbrandung reicht. Für Leute, die lieber auf Steinen als auf
Krümeln liegen. (Sandstrände gibt es hier nirgends.) Für Leute,
die bereit sind, eine Grand-Canyon-artige Expedition zu starten, wenn
sie beim nächsten Bäcker eine Baguette kaufen wollen. Für Leute,
die sich freuen, dass ein Hafen so winzig ist, dass keine Jacht der
Côte
d'Azur hier hineinpasst. Oder genauer: nicht einmal die Beiboote
dieser Jachten passen in den Hafen von Méjean.
In
die Häfen von Méjean... denn dieser winzige Ort hat gleich zwei
noch winzigere Häfen, und das ist schräg und damit fängt meine
Begeisterung auch schon an. Méjean ist ein Fischerdorf, zwei
Motorbootstunden westlich von Marseille. Eine Bucht in den Calanques,
so steil und geschwungen wie die Ränge eines antiken Theaters.
Pinien, die in aberwitzigen Winkeln aus Felsspalten und Rissen
wachsen. Roter Boden – rot vom zerbröselten, eisenhaltigen
Sandstein, rot vom dicken Teppich vertrockneter Piniennadeln. Das
Meer ist die Bühne, blau aus der Ferne, doch wenn du nahe genug
bist, siehst du den felsigen, von subaquatischem Dschungel
überwucherten Boden in zehn Meter Tiefe. Die Boote scheinen an ihren
Ankerleinen im Wasser zu schweben wie festgebundene Luftschiffe.
Winzige Fische wie Luftblasenschwärme im knöcheltiefen Wasser
direkt an den Felsen, silberne Schwärme von Saupes in den tiefen
Buchten, misstrauische Krabben am Ufer und tief unten die schwarzen
Knollen der Seeigel, und morgens hin und wieder ein orange
leuchtender Seestern.
Die
beiden Häfen heißen Grand und Petit Méjean, getrennt durch eine
auf der Landkarte klein wie ein Komma wirkende, aber mörderisch
steile Landzunge, und ich habe auch nach dreißig Jahren nicht
begriffen, was denn das Große an Grand Méjean ist. Winzig sind
beide Becken, kaiummauerte Häfchen, sogar mit spielzeuggroßem
Leuchtturm, gesperrt für Schiffe mit mehr als siebzig Zentimeter
Tiefgang. Ein Dutzend Schlauchboote, Fischerkähne und
Plastikmotorboote dümpeln in jedem Becken, dazu ein oder zwei
Segler, die ihren Kiel hochziehen können. Um acht Uhr morgens gibt
es frischen Fisch direkt von den Booten oder in der Baracke der
Fischerkooperative neben dem Hafen.
Die
Aquädukt-artigen Riesenstelzen der Küsteneisenbahn (https://provencebriefe.blogspot.com/2018/08/wasfallt-einem-spontan-zum-begriff.html) legen manchmal
ein schönes Schattenmuster über den Ort. Wobei, „Ort“, na ja...
Hinter den Häfen geht die Küste steil gen Himmel, und in diese
Felsen haben sich zuerst Fischer und seit den Zwanziger Jahren auch
ein paar Großstadtflüchtlinge aus Marseille ihre Cabanes
hineingebaut, ihre Hütten. Die hatten früher weder Strom noch
Wasser, wobei mit „früher“ die Zeit bis in die Siebziger Jahre
gemeint ist. Inzwischen jedoch ist fast jede Cabane zu einem an den
Hang geklebten Sommerhaus gemorpht worden, Terrassen überall,
Gärten, in denen du dich anseilen musst, wenn du gießen willst, und
manche Irre haben sich, fünfzig Meter vom Mittelmeer entfernt, ein
Schwimmbad ins Terrain gebombt. (Ich meine: Wer braucht einen Pool,
wenn das große Blaue direkt vor den Augen leuchtet?)
Ich
habe Méjean vor dreißig Jahren dank meiner Schwiegereltern
kennengelernt, die Freunde hatten, die zu den glücklichen
Cabane-Eignern gehörten. Diese Cabane ist inzwischen auch ins
einundzwanzigste Jahrhundert gebeamt worden. Meine Schwiegereltern
leben leider nicht mehr, dafür sind von unseren Kindern inzwischen
schon zwei so groß, dass sie alleine hierher fahren können. Wir
sind im Januar hier und im Juli. Wir schwimmen und schnorcheln,
paddeln mit dem Kayak durch die Calanques, brummen mit Freunden auf
deren uraltem Fischerkahn herum, letzten Sommer segelte ich mit der
aufblasbaren Jolle dieses Freundes über mediterrane Wogen. Wir
wandern auf dem Sentier des Douaniers durch die Calanques. Wir
beobachten die Eichhörnchen, die abends vom Pinienast auf die
Pergola springen. Wir ertauben unter dem Sägen der Zikaden und haben
manche schlaflose Mückennacht verbracht, wenn wir nicht rechtzeitig
die Gitter vor die Fenster geschoben haben. Wir haben besorgt auf die
Rauchschwaden geblickt, die eines Sommers vom Mistral bis in unsere
Bucht gedrückt wurden, weil im Hinterland ein Wahnsinniger die
Garrigues angesteckt hatte. Wir haben manche Nacht auf der Terrasse
gesessen und die Lichtblitze des Leuchtturms von Panier gezählt, die
vom Horizont genau auf das Haus geschleudert werden. Wir erinnern uns
an jene Sommer, während der man sich gar keine Seeigelstacheln mehr
in die Füße treten konnte, und freuen uns, dass seit letztem Jahr
wieder Seeigel auf dem Grund leben. Und ich habe wie ein Bekloppter
analog und digital mindestens eine Millionen Sonnenuntergänge über
dem Meer fotografiert.
Méjean
ist ein so schöner Ort, den darf man einfach nicht verschweigen, im
Gegenteil: Ich werde ihm ein kleines Denkmal setzen, hier und jetzt
und erst recht im nächsten Monat...
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