Freitag, 12. April 2019

Méjean


Jeder vernünftige Mensch zögert selbstverständlich, seine absoluten Lieblingsorte ins Netz zu pusten. Denn wenn der eigene Lieblingsort nicht zufällig Paris oder New York heißt, dann bedeutet ins Netz pusten automatisch: viele Leute zum eigenen Lieblingsort locken. Bis der dann so überlaufen ist, dass er plötzlich kein Lieblingsort mehr ist. Bien, ich vertraue einfach darauf, dass, erstens, Texte viel weniger populär sind als Instagram-Fotos. Wer liest das hier schon? Zweitens, falls es doch jemand liest: mein Lieblingsort ist zwischen Juni und September gesperrt. Ehrenwort. Es führt eine einzige Straße hin, und die wird im Sommer mit Schranke und schwarzgekleideten Muskelmännern eines Security-Dienstes gesperrt. Keine Gated Community, sondern aktiver Brandschutz: Die Küste ist so trocken, dass jeder Besucher mehr die Brandgefahr erhöht. Nur wer einen Anwohnerausweis an der Windschutzscheibe kleben hat, der darf passieren. Alle anderen müssen die letzten paar Kilometer zu Fuß gehen und, hey, der Weg zu meinem Lieblingsort ist WIRKLICH steil und eng und kurvenreich...
Voilà: Méjean. Das Paradies. Zumindest das Paradies für Leute, die das Mittelmeer lieben und Pinienduft und Felsen und Zikadenlärm und frische Fische (unter Wasser und auf dem Teller). Für Leute, denen für glamouröses, lärmiges Nachtleben der Vollmond über leiser Meeresbrandung reicht. Für Leute, die lieber auf Steinen als auf Krümeln liegen. (Sandstrände gibt es hier nirgends.) Für Leute, die bereit sind, eine Grand-Canyon-artige Expedition zu starten, wenn sie beim nächsten Bäcker eine Baguette kaufen wollen. Für Leute, die sich freuen, dass ein Hafen so winzig ist, dass keine Jacht der Côte d'Azur hier hineinpasst. Oder genauer: nicht einmal die Beiboote dieser Jachten passen in den Hafen von Méjean.



In die Häfen von Méjean... denn dieser winzige Ort hat gleich zwei noch winzigere Häfen, und das ist schräg und damit fängt meine Begeisterung auch schon an. Méjean ist ein Fischerdorf, zwei Motorbootstunden westlich von Marseille. Eine Bucht in den Calanques, so steil und geschwungen wie die Ränge eines antiken Theaters. Pinien, die in aberwitzigen Winkeln aus Felsspalten und Rissen wachsen. Roter Boden – rot vom zerbröselten, eisenhaltigen Sandstein, rot vom dicken Teppich vertrockneter Piniennadeln. Das Meer ist die Bühne, blau aus der Ferne, doch wenn du nahe genug bist, siehst du den felsigen, von subaquatischem Dschungel überwucherten Boden in zehn Meter Tiefe. Die Boote scheinen an ihren Ankerleinen im Wasser zu schweben wie festgebundene Luftschiffe. Winzige Fische wie Luftblasenschwärme im knöcheltiefen Wasser direkt an den Felsen, silberne Schwärme von Saupes in den tiefen Buchten, misstrauische Krabben am Ufer und tief unten die schwarzen Knollen der Seeigel, und morgens hin und wieder ein orange leuchtender Seestern.
Die beiden Häfen heißen Grand und Petit Méjean, getrennt durch eine auf der Landkarte klein wie ein Komma wirkende, aber mörderisch steile Landzunge, und ich habe auch nach dreißig Jahren nicht begriffen, was denn das Große an Grand Méjean ist. Winzig sind beide Becken, kaiummauerte Häfchen, sogar mit spielzeuggroßem Leuchtturm, gesperrt für Schiffe mit mehr als siebzig Zentimeter Tiefgang. Ein Dutzend Schlauchboote, Fischerkähne und Plastikmotorboote dümpeln in jedem Becken, dazu ein oder zwei Segler, die ihren Kiel hochziehen können. Um acht Uhr morgens gibt es frischen Fisch direkt von den Booten oder in der Baracke der Fischerkooperative neben dem Hafen.



Die Aquädukt-artigen Riesenstelzen der Küsteneisenbahn (https://provencebriefe.blogspot.com/2018/08/wasfallt-einem-spontan-zum-begriff.html) legen manchmal ein schönes Schattenmuster über den Ort. Wobei, „Ort“, na ja... Hinter den Häfen geht die Küste steil gen Himmel, und in diese Felsen haben sich zuerst Fischer und seit den Zwanziger Jahren auch ein paar Großstadtflüchtlinge aus Marseille ihre Cabanes hineingebaut, ihre Hütten. Die hatten früher weder Strom noch Wasser, wobei mit „früher“ die Zeit bis in die Siebziger Jahre gemeint ist. Inzwischen jedoch ist fast jede Cabane zu einem an den Hang geklebten Sommerhaus gemorpht worden, Terrassen überall, Gärten, in denen du dich anseilen musst, wenn du gießen willst, und manche Irre haben sich, fünfzig Meter vom Mittelmeer entfernt, ein Schwimmbad ins Terrain gebombt. (Ich meine: Wer braucht einen Pool, wenn das große Blaue direkt vor den Augen leuchtet?)
Ich habe Méjean vor dreißig Jahren dank meiner Schwiegereltern kennengelernt, die Freunde hatten, die zu den glücklichen Cabane-Eignern gehörten. Diese Cabane ist inzwischen auch ins einundzwanzigste Jahrhundert gebeamt worden. Meine Schwiegereltern leben leider nicht mehr, dafür sind von unseren Kindern inzwischen schon zwei so groß, dass sie alleine hierher fahren können. Wir sind im Januar hier und im Juli. Wir schwimmen und schnorcheln, paddeln mit dem Kayak durch die Calanques, brummen mit Freunden auf deren uraltem Fischerkahn herum, letzten Sommer segelte ich mit der aufblasbaren Jolle dieses Freundes über mediterrane Wogen. Wir wandern auf dem Sentier des Douaniers durch die Calanques. Wir beobachten die Eichhörnchen, die abends vom Pinienast auf die Pergola springen. Wir ertauben unter dem Sägen der Zikaden und haben manche schlaflose Mückennacht verbracht, wenn wir nicht rechtzeitig die Gitter vor die Fenster geschoben haben. Wir haben besorgt auf die Rauchschwaden geblickt, die eines Sommers vom Mistral bis in unsere Bucht gedrückt wurden, weil im Hinterland ein Wahnsinniger die Garrigues angesteckt hatte. Wir haben manche Nacht auf der Terrasse gesessen und die Lichtblitze des Leuchtturms von Panier gezählt, die vom Horizont genau auf das Haus geschleudert werden. Wir erinnern uns an jene Sommer, während der man sich gar keine Seeigelstacheln mehr in die Füße treten konnte, und freuen uns, dass seit letztem Jahr wieder Seeigel auf dem Grund leben. Und ich habe wie ein Bekloppter analog und digital mindestens eine Millionen Sonnenuntergänge über dem Meer fotografiert.



Méjean ist ein so schöner Ort, den darf man einfach nicht verschweigen, im Gegenteil: Ich werde ihm ein kleines Denkmal setzen, hier und jetzt und erst recht im nächsten Monat...

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