Während des Dezembers im Allgemeinen und kurz vor Weihnachten im Besonderen möchte man ja gerne Besinnliches schreiben, und ganz dumm sollte es auch nicht sein. Ich hatte da schon ein, zwei Ideen sowie eine dezidierte Nicht-Idee: Ich wollte mich nicht noch einmal über meinen Weihnachtskrimi „Stille Nacht in der Provence“ auslassen, denn das hatte ich ja schon zu nicht hundertprozentig passender Zeit getan. (siehe hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2020/09/stille-nacht-in-der-provence-miramas-le.html) Jetzt muss ich aber doch, wenn schon nicht über den Roman, so doch aber über den Ort desselben ein paar Worte verlieren: Miramas-le-Vieux.
Der Anlass ist dieses Ding mit C, das uns in Deutschland wie Frankreich und überall sonst zum Hals, aus der Lunge, den Geschmacksnerven und wo auch immer raushängt. Neben der einen oder anderen Frage, die man auch gerne beantwortet hätte, will man dabei ja immer wissen: Was kommt danach? Wie kommen wir aus der Krise wieder raus? Die Provence ist seit, na, seien wir großzügig, beinahe dreitausend Jahren ein Kulturland und hat ihren Teil an Katastrophen hinter sich: Kriege (siehe hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2015/11/vorhundert-jahren-ist-der-tod-in-die.html), Erdbeben (https://provencebriefe.blogspot.com/2020/04/heuteerzahle-ich-ihnen-was-von-einer.html), die Pest und die Cholera... You name it, we got it.
Und plötzlich sind wir bei Miramas-le-Vieux.
Orte wie dieser sind nämlich Relikte einer profunden Krise und Zeugnisse dafür, wie und wann man wieder da herauskommt. Diese Krise hatte wenig mit Viren und Masken („Mund-Nasen-Schutz“ heißt das in Bundesrepublikanien, kann mir mal jemand erklären, was an dem Wort „Maske“ so verkehrt ist?), na, jedenfalls, damit hatte es nichts zu tun, eher mit der Dampfmaschine und der Guillotine. Mit dem 18. Jahrhundert nämlich begann die Industrialisierung ebenso wie die Explosion persönlicher Freiheit. Ein Bauer, beispielsweise, konnte plötzlich in der Fabrik arbeiten und war auch rechtlich nicht mehr an seine Scholle gebunden, kurz: er konnte verschwinden und sich niederlassen, wo er wollte.
Die Folge war, dass viele mittelalterlich geprägte Städtchen der Provence auf einmal so aussahen, als hätte dort jemand den Lockdown angeordnet: Es war niemand mehr zu sehen. Es war nämlich niemand mehr da. D'accord, zumindest waren immer weniger Leute da.
Diese Ortschaften lagen nämlich immer auf den Kuppen der kleineren und manchmal gar nicht so kleinen Berge des Midi. Nicht, weil es malerisch war, sondern weil sich ein Gipfel leichter verteidigen ließ als eine Ebene. Als Frankreich nun moderner wurde, verschwanden die marodierenden Söldner- oder Religionskriegsarmeen. Als der Druck von außen weg war – und als man auch nicht mehr an den Boden und einen Lehnsherrn gebunden war – stellten die Menschen fest, dass es teuer und unpraktisch ist, eine Fabrik auf einem Berg zu errichten. Dass die mittelalterlichen Häuser eng und dunkel waren. Dass es schweineteuer war, Wasser- und Kanalleitungen durch die Berge zu fräsen. Dass enge, steile Gassen gut sind für die Wadenmuskeln, aber schlecht für Kutschen, ganz schlecht für die Eisenbahn und von den Autos wollen wir gar nicht sprechen.
Also zogen die Menschen fort.
Nach der Französischen Revolution, als in Frankreich wie in ganz Europa die Bevölkerungsexplosion so richtig in Gang kam, wuchs nicht etwa die Einwohnerzahl vieler provenzalischer Städte – sie fiel, manchmal auf Null.
Wie in Miramas-le-Vieux.
Der Ort liegt nah am Mittelmeer, aber nicht ganz an dessen Ufer. Er thront auf einem Hügel, es gibt also keinen Hafen. Dafür wurde irgendwann in der Nähe die Eisenbahn gebaut – aber kein Ingenieur war so bekloppt, die Schienen auf den Gipfel zu verlegen, man fuhr lieber drumherum. Die Einwohner ließen also um 1850 ihre eh zu kleinen, zu unbequemen, zu unsauberen Häuser zurück und bauten sich große, bequeme, saubere Häuser neben der Eisenbahn. Miramas wurde praktisch ein zweites Mal gegründet. (Ist übrigens heute fast zwanzigmal so bevölkerungsreich wie früher, aber nicht unbedingt ein Kurort.)
Für die paar Frauen und Männer, die in Miramas und Dutzenden anderen provenzalischen Städten auf den Hügeln zurückblieben, war es, als hätten sich Pest, Cholera und Covid ihre Nachbarn geholt: Viele Häuser standen leer und verfielen, Kirchen und Burgen gleich mit, die Geschäfte machten dicht, und kein Politiker interessierte sich noch einen feuchten Schmutz für das, was da oben passierte. Nicht Lockdown light, das war Lockdown heavy.
Am Ende kam die Rettung aus der Krise ganz ungeplant und von Fremden. Touristen, ob nun aus Paris oder Lille, Deutschland oder England, fanden Orte, in denen seit hundert Jahren keine neue Mauer mehr hochgezogen worden war, auf einmal „authentisch“ und „pittoresk“. Die Nachteile von gestern mutierten zu den Vorteilen von heute. Das enge Haus verwandelte sich in ein gemütliches Feriendomizil, die steile Gasse wurde zur fantastischen Aussicht, das „leider nicht autogerecht“ war plötzlich ein „zum Glück autofrei“.
Die Postkarten-Provence entstand wortwörtlich aus den Ruinen der vergessenen Provence. Es zogen immer mehr Menschen, auch Einheimische, zurück auf die Hügel, damit wurden dann auch moderne Installation geschaffen, und heute leben in den Dörfern mehr Bürger als im Mittelalter und das Internet ist auch schneller als zur Zeit der Kapetinger. (Außer bei uns, aber unsere Ölmühle liegt ja auch in einem Tal, das so vergessen ist, dass hier noch Dinosaurier durch das Unter- und Oberholz brechen.) Krise, welche Krise? Die Immobilienpreise sind längst in die solide europäische Oberklasse entschwebt.
Miramas-le-Vieux ist einer der wenigen Orte, an denen sich dieses „Auferstanden aus Ruinen“ noch live miterleben lässt, denn kaum ein Ort war so lange verlassen und vergessen wie dieser. Hier ist vielleicht erst die Hälfte der Häuser schick restauriert worden, die andere Hälfte schlummert noch immer den Schlaf des Verfalls. (Mit einer gewissen Erfahrung hier wage ich die Warnung an Enthusiasten: Es wird auch nicht billig, diese Jahrhunderte alten Steinhaufen zu renovieren...)
Man sieht: Du kommst aus der Krise heraus, aber die Rettung kommt vielleicht von unerwarteter Seite und es mag hundert Jahre dauern, bis du damit halb fertig bist. Das neu implantierte Herz von Miramas-le-Vieux, das diesem Ort überhaupt erst wieder Leben schenkte, waren übrigens einige fantastische Eiscafés und Restaurants. Die hat jetzt die neue Krise schwer getroffen... Mal sehen, wie dieser Ort in Zukunft aussieht. Andererseits: Irgendwer wird hier schon irgendeine Idee haben, und vielleicht wird Miramas-le-Vieux am Ende schöner und lebenswerter sein als je zuvor und ganz anders, als man sich das in der Krisenzeit ausgemalt hat. Wäre beispielsweise ein netter Platz fürs Homeoffice, oder?
In diesem Sinne: Frohe Festtage und bleiben Sie gesund!
Ihnen auch, Frohe Festtage und ... Gesundheit! Santé!
AntwortenLöschenLieber Herr Rademacher! Ihren Roman habe ich mir selbst zu Weihnachten geschenkt - eine Art Urlaubsreise vom feinsten (und Corona-kompatibel). Spannung, Schnee und ein "mittelalterliches" Ehepaar, in dem sich bestimmt viele (auch ich) wiedererkannt haben mögen. Und wie in "Ein letzter Sommer in Mejean" ermittelt ein äußerst interessanter Kommissar - ein Typ, mit dem man nur langsam warm wird. Dass dieses Buch, das so viel mehr ist als ein Krimi, nach 158 Seiten bereits zu Ende war,ist richtig schade gewesen! Ich freue mich schon auf Ihren nächsten Roman! Liebe Grüße vom (leider) schneelosen Niederrhein! Jutta Meise
AntwortenLöschenLiebe Frau Meise, herzlichen Dank für Ihre freundlichen Worte und beste Grüße aus der Provence!
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