Manchmal öffnen sich die Pforten der Hölle, und Du erkennst es zunächst nicht, weil das Inferno aussieht wie die missglückte Bemühung eines überengagierten Hobbykochs am Holzkohlegrill. So zumindest erging es neulich uns: Wir liegen in einer Bucht von Méjean an der Côte Bleue (siehe hierzu auch: https://provencebriefe.blogspot.com/2019/04/jedervernunftige-mensch-zogert.html). Ein Augusttag, eigentlich heiß, doch der Mistral tobt in Böen bis zu knapp hundert Stundenkilometern und bläst den Himmel frei. Frei?
Am Nachmittag zieht von rechts, also von Norden kommend, eine hellgraue Wolke parallel zum Horizont. Man könnte sie für eine winzige Regenfront halten oder für Dunst, der aus dem Meer aufwallt. Doch der Mistral zerzaust eigentlich Regenwolken und Dunst in, nun ja, Windeseile. Dieser Wolkenstrich jedoch bleibt einfach über dem Horizont stehen, verweht sich schon bis zu den Inseln in der Bucht von Marseille.
Das heißt: Nein, der Mistral bläst diese Wolken schon fort, doch es quellen immer neue und noch mehr neue auf... Spätestens jetzt weiß jeder Provenzale, was das bedeutet: Putain, es brennt irgendwo. Und zwar nicht zu knapp.
Wir eilen von der Bucht hoch zum Ferienhaus von Freunden. Da haben wir einen besseren Blick – und außerdem kann man von einem Haus aus leichter evakuiert werden als aus einer engen Calanque zwischen hohen Felswänden. Inzwischen ist die Rauchfahne schmutzig-braun, hunderte Meter hoch, Kilometer weit. Die Frachter und Korsikafähren auf dem Meer wirken in ihrem Schatten wie Insekten, die unter eine Decke kriechen. Die tiefstehende Sonne zaubert orangerote Schleier hinein, es wirkt, als würde es in der Wolke selbst glühen. Die ersten Hubschrauber mit Wasserladungen donnern über unsere Köpfe. Canadairs, die Bomber, die ihr Wasser im Étang de Berre aufnehmen und es dann in tonnenschweren Güssen auf die Flammen regnen lassen (siehe hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2014/04/brummendwie-eine-trage-hornisse-fliegt.html), fliegen in Formation mitten hinein in den Qualm: Träge Kamikazes, ein, zwei, fünf, sechs, schließlich acht schwarze Kreuze am Himmel, die im Tiefflug ins Inferno brummen. Man fragt sich, wie die Piloten da je lebend herauskommen sollen. Aber sie stürzen sich im viertelstündigen Takt immer und immer wieder auf die Flammen, bis es schließlich zu dunkel wird, um irgendetwas anderes zu sehen als das Feuer.
Längst checken wir im Internet: Das Feuer ist bei Martigues ausgebrochen, keiner weiß, warum – aber es hat an vier Stellen nahezu gleichzeitig begonnen. Die rote Hölle frisst sich durch Garrigue-Gestrüpp und Pinien über die kargen Hügel der Côte Bleue Richtung Sausset-les-Pins. Obwohl auch am Boden Hunderte Feuerwehrleute kämpfen, laufen die Flammen, angefacht vom Mistral, drei bis vier Kilometer näher an die Stadt heran – pro Stunde. Langsam wird es dunkel.
Die Schnellstraße durch die Côte Bleue wird von der Polizei gesperrt. Flammen überall. Ein Schnellboot der Küstenwache stampft, aus dem Hafen von Marseille kommend, durch die vom Wind aufgewühlte See, Gischt spritzt vom Bug, auf der Brücke blinkt ein winziges Blaulicht. Das Schiff ist jetzt das einzige auf etlichen Quadratkilometern Wasser, sein Blaulicht wirkt irgendwie zugleich überflüssig und heroisch. Es verschwindet schließlich, ebenfalls wie ein Kamikaze, in der inzwischen bis auf die Wellen sich herabsenkenden Rauchwand. Kurz darauf hören wir, dass die Bewohner mehrerer Fischerdörfer über See evakuiert werden, weil angeblich keine Straße mehr offen ist.
Meine Frau ruft eine Tante und einen Onkel an, beide schon über Siebzig, sie wohnen in Sausset-les-Pins. „Pas de problème, man riecht nicht mal Rauch!“
Ob sie nicht doch ihr Haus verlassen und zu ihrer Tochter oder zu uns fahren wollen, ein paar Kilometer die Küste hinunter? Noch sind von Sausset-les-Pins aus kleine Straßen Richtung Süden frei.
„Wir hören schon Bomben!“, antwortet der Onkel zuversichtlich. Er glaubt, dass Militärjets Bomben abwerfen, deren Druckwellen dem Feuer die Luft wegblasen.
Tatsächlich knallt es nun immer wieder in unregelmäßigen Abständen durch die Dämmerung. Es hört sich an, als marschierte hinter den nächsten Hügeln die Wehrmacht ein. Es sind aber keine Bomben, zumindest nicht im eigentlichen Sinn. Inzwischen vernichtet der Brand zwei, drei eilig geräumte Campingplätze, die im August bis zum letzten Zeltplatz voll waren. Die Menschen haben sich gerade noch gerettet, doch Wohnwagen und Campingmobile blieben – und nun explodieren Dutzende, nein Hunderte Gasflaschen und Benzintanks. Kein Feuerwehrmann wird sich mehr dort hineinwagen, sie werden die Flammen brennen lassen müssen.
Inzwischen ist es dunkel. Hinter dem Hügelkamm im Norden leuchtet und glüht es rot, als sei dort plötzlich ein Vulkan aktiv. Das wirkt wie Lava, die dort irgendwo glüht und spuckt, und der Qualm darüber sieht schweflig aus. Ein monströses Traumgebilde, das wirkt, als sei es nicht von dieser Welt, obwohl es doch gerade dabei ist, eben diese Welt zu verschlingen.
Gegen Mitternacht melden sich Onkel und Tante: Ein Feuerwehrmann ist durch die Straße ihrer Wohnsiedlung gelaufen und hat alle Menschen zur sofortigen Evakuierung aufgefordert – er hat es hinausgebrüllt, ein Mikrofon hatte er nicht. Die Hälfte der Nachbarn hat ihn gar nicht gehört. Unglaublich, was Menschen alles verschlafen können.
Onkel und Tante verlassen mit einer Tasche Kleidung und Waschsachen das Haus. Ein Polizist ruft ihnen zu, dass die Notunterkunft in einer außerhalb gelegenen Turnhalle längst überfüllt ist. (Was, wie sich später herausstellt, nicht stimmt.) Ein Feuerwehrmann warnt sie, dass auch die letzten Straßen nun gesperrt sind, sie sollen die Flucht bloß nicht auf eigene Faust unternehmen. (Was ebenfalls eine Falschinformation ist.) Die beiden fahren trotzdem mit ihrem Auto eine kleine Küstenstraße entlang – und kommen schließlich bei der Tochter unter.
Mitten in der Nacht hat der Liebe Gott ein Einsehen und dreht dem verdammten Mistral endlich den Saft ab. Keine Böen mehr, nicht einmal mehr ein Hauch. Alles ruhig. Die Chance für die Feuerwehrleute, den Brand zum Stehen zu bringen.
Am nächsten Morgen sind mehr als eintausend Hektar schwarz: Natur, Autos, Campingplätze, was du willst hat sich in Asche verwandelt, aber wenigstens ist niemand gestorben. Die Flammenwand ist vor Sausset-les-Pins gestoppt worden. Es ist gut gegangen, Onkel und Tante fahren zurück, wir besuchen sie am Tag nach dem Brand, Happy End.
Diesmal zumindest.
P.S.: Im Meer treiben noch Tage später zahllose fingernagelkleine Holzkohlestückchen in den Wellen. Sieht wirklich so aus, als hätte sich da jemand an einem gigantischen Grill versucht.
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