Die
Camargue ist ein riesiger Zerrspiegel, von Gott geschaffen, um die
Sinne der Künstler zu verwirren. Vincent van Gogh ist hier in
Motiven und im Glück fast ertrunken und mit Hunderten Bildern sowie
unzähligen Erinnerungen wieder herausgekommen, aber gefestigter ist
seine Seele nicht geworden. Südlich von Arles – wo sich jener
zerquälte niederländische Maler an einem Tag vor Heiligabend am
Kopf verstümmelte - fächert sich die Rhône
zu einem 150.000 Hektar großen Dreieck auf, in dem sich Fluss und
Meer, Süß- und Salzwasser, Gras und Sonne, Erde und Wasser mischen.
Für
prosaische Gemüter: Die Camargue ist Frankreichs zweitgrößter
Sumpf nach dem Zirkel der Pariser Politik. Für empfindsamere
Gemüter: Die Camargue ist ein Wunder aus Licht.
In
der weiten Ebene ragen die weißgetünchten Mauern alter Hirtenhäuser
auf wie gekenterte Rettungsboote, das Auge ist dankbar für jeden
verkrüppelten Busch, der ihm Halt gibt, und die uralte trutzige
Kirche von Saintes-Maries-de-la-Mer steht gefühlt noch nach einer
hundert Kilometer langen Fahrt über dem Horizont. Brackwasserseen
schimmern, als wären sie illegal von einer Chemiefabrik verklappt
worden: kobaltblau, schaumig-rosa, gelb. Im oft kaum knietiefen Nass
stehen Flamingos und warten darauf, dass endlich etwas passiert. Im
flirrenden Licht verstecken sich grauweiße Pferde und schwarze
Rinder. Abends dampft der feuchte Boden Mückenwolken aus, und dann
ahnt jeder Wanderer, dass Luzifer auf uns Sünder möglicherweise
nicht mit Höllenfeuer oder ewigem Eis wartet, sondern in der
Camargue lauert und uns grinsend eine leere Flasche Autan vor die
zerstochenen Gesichter hält.
Die
Camargue ist eine seltsame Welt – und sie wird zusammengehalten von
... Reis. Mais
oui.
Vergiss das Gedöns von Lavendel und Oliven. Im Süden des Südens
ist oryza
sativa
das Gewächs, auf das es ankommt. Ohne dieses zähe, nahrhafte Zeugs
wäre die Camargue, vor allem nach den Eindeichungen der letzten zwei
Jahrhunderte, wahrscheinlich zu einer einzigen großen Saline
versalzen. Reis regelt den Wasserhaushalt und den Salzgehalt.
Etwa
200 Riziculteurs
ernten in der Camargue 110.000 bis 120.000 Tonnen jährlich, fast
sechs Tonnen pro Hektar. Damit decken sie immerhin knapp die Hälfte
des Verbrauchs in Frankreich. Irgendwann im Mittelalter wurden die
ersten Setzlinge gepflanzt, aber erst unter Henri IV. ist der Reis
wirklich populär geworden. Zumindest etliche Generationen lang. Doch
im 19. Jahrhundert lohnte sich die mühsame Ernte nicht mehr, die
Felder verödeten. Bis die Deutschen kamen. Beziehungsweise die
Wehrmacht. Beziehungsweise die Vietnamesen.
Denn
als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, beorderte die Pariser
Regierung 20.000 Männer aus der Kolonie Indochina nach Europa. Der
Plan: Die Vietnamesen sollten in Frankreichs Fabriken schuften, damit
möglichst viele echte Franzosen frei waren zum Kriegseinsatz gegen
Nazi-Deutschland. Dieser Kriegseinsatz endete bekanntlich im Debakel,
und zwar so rasch, dass jene unglücklichen Asiaten mehr oder weniger
noch auf See waren, als die nicht mehr ganz so Grande Nation bereits
kapituliert hatte. Zurückschicken konnte man die Vietnamesen auch
nicht. Mit welchen Schiffen? Und hätten das die Japaner überhaupt
zugelassen, die sich mit Waffengewalt aus der französischen
Konkursmasse in Südostasien bedienten?
Da
kam irgendjemand auf die Idee vom Klischee: Asiaten essen doch Reis –
lassen wir sie also, da sie nun schon einmal da sind, auf die
verödeten Felder...
Tatsächlich schufteten Vietnamesen unter
den harten Bedingungen der Camargue zwei Jahre lang, bis sie dem
Sumpf die erste Ernte abgerungen hatten. Und dann noch eine. Und
wieder eine. Und so ist es geblieben, bis heute. Der Reis der
Camargue, der Schweiß der Vietnamesen. (Die Arbeiter sind übrigens
1945 recht form- und danklos wieder nach Hause geschickt worden.)
Wenn,
irgendwann zwischen Mitte September und Anfang Oktober, der Reis
geerntet wird, rattern Mähdrescher über die fast trockenen Felder
und streifen die Körner von den Halmen; richtig sumpfig sind die
Felder nur im Frühjahr. Der beste Reis, den sie ernten, ist eine
lokale Mutation: rote, würzige Körner. Sie werden im Freien
ausgelegt, wo sie getrocknet werden.
Und
zwar von der Sonne und vom Mistral, wie es sich gehört.
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