Die
150 Menschen an Bord des Airbus von Germanwings-Flug 4U9525 haben
gestern ihr Leben an einem schroffen und erhabenen Ort verloren.
Verwandte besitzen ein Haus in den Alpen der Haute-Provence, bloß
eine gute Wandertour entfernt, wir sind hin und wieder dort. Auf
manchen Gipfeln umschließt dich eine Stille, so unfassbar tief, als
gäbe es kein Leben mehr auf dieser Welt.
Seyne-les-Alpes,
wo sich nun Hunderte Retter und Politiker und Journalisten und wohl
bald auch schon Hinterbliebene versammeln – versammeln müssen,
denn es ist das einzige Städtchen im Tal – ist ein Ort, der sich
an eine Bergflanke schmiegt: Eine einzige Straße, gewunden wie ein
Gebirgsfluss und hinter manchen Kurven kaum fünf Meter breit. Eine
uralte Festung über den Dächern der gedrängten Häuser. Eine
bezaubernd restaurierte Barock-Kapelle, viel zu verspielt und sanft
für diesen Ort in Steingrau. Menschen, die dich noch grüßen, wenn
sie dir auf den bürgersteiglosen Seitengassen entgegen kommen. Eine
Apotheke.
Die
nächsten größeren Städte sind Digne und Barcelonnette (Das
„kleine Barcelona“, manchmal trieft die Geschichte von schwarzer
Ironie und schlechtem Geschmack.), und die liegen je schon eine
Dreiviertelstunde Fahrt entfernt.
Wenn
das Wetter gut ist.
Verlässt
du den Ort, links oder rechts in die Flanken der Zweitausender,
Dreitausender hinein, umwölben dich Tannenwälder. Im Winter bist du
dankbar für Schneeschuhe, ihre Trittflächen verhindern, dass du bis
zu den Knien im weißen Pulver einsinkst, ihre Eisenspikes krallen
sich in den Boden, so dass man wie ein Insekt über steile Anstiege
kriecht. Ein paar Forst- und Wanderwege, dann bloß noch Unterholz.
Manchmal
öffnen sich die Wälder zu Almen und im Winter verlassenen Feldern.
Ruinen alter Häuser, kaum mehr als graue Steinhaufen. Scheunen, die
Tore verrammelt, die hölzernen Außentreppen schief und verrottet.
Aus manchen Ställen dampft es: Schafe, die in tierwarmen Pferchen
ausharren, die Körper umhüllt von Winterwolle.
Kletterst
du höher, weichen die Bäume zurück. Buckelige Hänge. Schnee.
Felsen. In der Ferne grauweiß glitzernde Gipfel, von Horizont zu
Horizont. Ein Gefühl, als würde man durch Alaska streifen, und
plötzlich erinnerst du dich wieder daran, dass sich die Wölfe die
Seealpen zurückerobert haben, inzwischen reißen die Tiere einige
Tausend Schafe pro Jahr.
Am
Hang, windgeschützt, dort, wo die Sonne hineinscheint, ist es
beinahe schon so warm wie am Mittelmeer. Im Spätsommer wachsen hier
Blaubeeren, stecknadelkopfklein und herrlich süß. Hundert Meter
weiter, wo ein sibirischer Sturm einen Felsbuckel freischält, trifft
dich die Kälte dann wie ein Sprung ins Antarktiswasser.
Die
Retter, die nun die Leichen und die Trümmer aus dem zwei Quadratkilometer
großen, zernarbten Felshang unterhalb der Gipfelkette der
Trois-Évêchés
bergen, riskieren ihr Leben für diese traurige Pflicht. Böen
zerren an den Helikoptern, die sie nach oben fliegen. Wolken
verhüllen die Bergflanken. Nur wenn der Himmel aufreißt, dann
werden sie fünfzig, hundert Kilometer weit auf Felszinnen blicken.
Und auf einen Himmel, so tiefblau wie römisches Glas. Und auf die
Kondensstreifen von Flugzeugen, die darüber ziehen, als wären sie
immateriell.
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