Mittwoch, 31. Juli 2024

Olympia in Marseille, Segeln und Fußball

Olympia in Paris ist super, Olympia in der Provence ist aber auch nicht ganz schlecht. Wir haben zwar keinen Riesenhai in der Seine, dafür jedoch die allerbesten Segler und Surferinnen, die sich an einer der schönsten Küsten der Welt Trafalgar-epische Regatten liefern. Ich hatte übrigens schon mal zur Zeiten erster Olympia-Vorbereitungen erwähnt, dass kleine Rennboote große Immobilienpreise auslösen können (https://provencebriefe.blogspot.com/2017/09/inder-gefahrlichen-c-o-tebleue-gibt-es.html). Trotz Putin, Pest und Cholera ist es auch so gekommen, und Hausverkäufer und AirBnB-Vermieter freuen sich, aber wer von uns ist das schon?




Wir haben in Marseille auch ein wundervolles Stadion. Und es war mir lange nicht bewusst, tja, dass da ja auch olympische Fußballspiele ausgetragen werden. Also hat sich der provenzalische Teil der Familie gesagt: Segeln, Fußball vor der Haustür, irgendwie müssen wir bei Olympia dabei sein.


Segeln: Wir klettern auf einen steilen Felsen in den Calanques der Côte Bleue hinauf, bis wir einen freien Blick auf Marseille in weiter Ferne haben, auf das Graf-von-Monte-Christo-mäßig berühmte Château d’If und die steinigen Inseln von Frioul.

Da!“ ruft meine Frau und zeigt mit ausgestrecktem Arm ins Große Blau.

Tatsächlich kreuzen einige weiße Dreiecke auf der azurnen Scheibe herum. Aber auch mit einem Fernglas als Zwicker kann ich nicht so wahnsinnig viel mehr erkennen. Das sind doch Segelboote wie du und ich, und wenn die da herumschippern dürfen, dann kann das kein abgesperrtes Seegebiet sein. Ergo: Nix Regatta.

Ein paar Tage später bin ich mit unserer Jüngsten auf den Terrasses du Port in Marseille.

Da!“, ruft meine Tochter und zeigt mit ausgestrecktem Arm ins Große Blau.

Tja, jetzt hätte ich mal mein Fernglas nach Marseille mitnehmen sollen… Macht nichts, diesmal ist es wirklich ein Treffer, nein es sind gleich zwei: Links, am Château d’If, rennt eine Meute Surfer um die Wette. Rechts, bei den Inseln von Frioul, sind es die 49er Rennjollen. Ahoi, ich bin Zeuge von Olympia-Regatten!








Man kann zwar nicht viel sehen, zum Beispiel schon gar nicht, wer eigentlich gewinnt. Unsere Tochter lässt die Live-Übertragung auf ihrem Handy laufen, und da verfolgen wir auf dem kleinen Monitor, was wir im großen Panorama nicht so richtig mitkriegen. Aber, hey, selbst auf den superklaren Drohnen- und Beiboot-Aufnahmen des Fernsehens erkennt doch kein Laie, wer gerade führt und warum. Da helfen auch ein paar digital eingeblendete Linien wenig, seien wir ehrlich (obwohl ich selbst extrem entspannter Hobby-Segler bin): Segeln hat was von Dressurreiten – du musst es schon selbst machen, um zu kapieren, was da gerade abgeht. Alle anderen stehen da wie der Ochs vorm Berg. (Muss man das heutzutage gendern? Die Ochs*in vorm Berg?)

Trotzdem können meine Tochter und ich angeben: Wir sind bei Olympia dabei, und sei es in zwei Seemeilen Entfernung und an Bord eines Einkaufszentrums am Hafen von Marseille.





Fußball: Olympique Marseille ist die eigentliche Religion im Süden und das Vélodrome ist ihr Tempel, habe ich vor beinahe zehn Jahren schon mal hier verkündet. (Ja, uups, wie die Zeit vergeht. Ich bin zwar bloß ein mittelfleißiger, aber immerhin ausdauernder Provencebriefe-Schreiber. Und hier an dieser Stelle einen Sonderapplaus für Sie, die und der Sie mir seit was-weiß-ich-wievielen-Jahren gewogen sind. https://provencebriefe.blogspot.com/2014/11/dieanhanger-von-olympique-de-marseille.html)

Also, aus irgendwelchen bescheuerten Marketinggründen darf das in Marseille weltberühmte Vélodrome für die Olympiade nicht so heißen, sondern ist kurzerhand in „Stade de Marseille“ umgetauft worden, putain. Na, macht nichts. Wir laden die App und kaufen darüber zwei Tickets für ein Vorrundenspiel: Frankreich gegen die Fußballgroßmacht Neuseeland.

Ich schocke unsere Jüngste, als ich sage, dass seit einer Trekkingtour anno 1988 Neuseeland mein eigentlich absolutes Lieblingsland ist und ich eventuell also für die Gäste… Dann schocke ich sie noch mehr, als ich sage, ich habe nur noch Tickets im Gästeblock kaufen können. („War ein Scherz!“)

Das Spiel ist für 19 Uhr angesetzt, zwei Stunden vorher füllt sich das Stadion. 35 Grad, ein Himmel wie blaues Glas und die Wolken haben sich zu hundert Prozent nach Paris verzogen, wo sie auf den Tag der Abschlusszeremonie und also ihren zweiten großen Auftritt warten. Geschätzt zwei Drittel der Plätze sind verkauft, aber, hey, ein Olympia-Vorrunden-Spiel an einem Dienstagabend und 40 000 Leute im Vélodrome, das hat man auch nicht alle Tage.

Neben den üblichen hartgesottenen Ultras ist das hier so etwas wie ein Familienfest: Mutter, Vater, kleine Kinder. Eine Freundesclique. Kichernde junge und nicht mehr ganz so junge Mädchen, geschminkt wie für den Barbesuch. Apropos Bar: Einige Herrschaften umgehen wortwörtlich das stadioninterne Alkoholverbot, indem sie sich einfach schon vor dem Stadion die Kanne gegeben haben und mit entsprechender Schlagseite auf die Tribünen segeln. (Auch eine Art Regatta: Findet dieser Kapitän Blau-, nun ja, -bart noch in den Hafen?) Engagierter sind die Menschen, die sich Perücken, Baskenmützen, Plastikhähne in den Farben der Trikolore auf den Kopf gepflanzt haben und mit aufblasbaren Baguettes gegeneinander schlagen.

Ich habe mir gedacht: Wenn schon, dann musst auch du Flagge zeigen, und komme im Trikot vom FC Köln. Das ist ein ziemlicher Erfolg, französisches Nationaltrikot oder Olympique Marseille oder Barcelona trägt gefühlt jeder Zweite (unsere Tochter selbstverständlich im Trikot von OM). Aber Kölle? Erstaunte Blicke: Putain, der Typ trägt einen springenden Ziegenbock auf der Brust, wo haben sie den denn freigelassen? Ich fühle mich stolz und Vélodrome-einmalig – bis ich ein paar Reihen vor mir einen Typen in einem alten HSV-Trikot ausmache. Zweimal zweite Liga in Marseille, hat man auch nicht alle Tage.

Das Spiel ist dann eigentlich wie jedes Spiel im Vélodrome. Als der Stadionsprecher kurz vor Anpfiff das Publikum zum Schreien auffordert, erreicht der Messwert auf der Anzeigentafel 130 Dezibel. (Ob das man nicht gefälscht ist? Andererseits: Ich verstehe schon nix mehr.) Dann Jubel, Trubel, Heiterkeit, La-Ola, Gesänge der Ultras von Nord- zu Südkurve und zurück. Vor uns sitzt ein geschätzt vierjähriger Zidane und sieht das Spiel seines Lebens.






Auf den Betonstufen der Treppen hocken ein paar Kerle und rauchen Kame, bald wabern überall süßliche Dämpfe durch die Runde, und es ist nicht mehr allein die Hitze, die dich zwischen zwei La-Ola-Wellen friedlich stimmt. (Es gibt im Stadion auch ein generelles Rauchverbot und geschätzt tausend Ordner, aber, hey, wir sind in Marseille, Cannabis ist hier ein Grundnahrungsmittel.)

Ach ja, das Ergebnis: 3 : 0 für Frankreich. Entgegen den Befürchtungen unserer Tochter waren nur ungefähr zehn neuseeländische Fans im Stadion (und tatsächlich in unserem Block), mit All-Black-Trikots und übergroßen Flaggen, doch selbst die waren happy.

Nettes Spiel, nette Olympiade, darf gerne so weitergehen.

Dienstag, 2. Juli 2024

Sommer in Eyguières / Mystery Magazine July 2024

Gibt es in diesen Tagen auch gute Nachrichten aus Frankreich? (Die schlechten Nachrichten muss ich nicht extra aufführen, die kann sich jedefrau und jedermann in drei Sekunden ergooglen.) Lieber was mit Sommer, Sonne, Sympathie, d’accord?





D’accord. Neulich wollte ich ganz um die Ecke von hier etwas recherchieren, in den Alpilles westlich von Eyguières. Zwischen dem Mont Menu und den Gipfeln von Les Opies hat sich etliche Milliönchen von Jahren die Durance durch die Berge gefräst. Vor etwa 800 000 Jahren hatte sie keinen Bock mehr und sich stattdessen weiter nördlich in die Rhône ergossen. Das Vallon des Glauges ist dabei zurückgeblieben, ein Tal wie eine Bresche durch die Alpilles, fruchtbarer Boden, und wenn du auch nur ein wenig im Erdreich wühlst, förderst du noch immer rundgeschliffene Flusskiesel zu Tage.

Hier wandert man durch eine Art Miniatur-Bilderbuch-Provence. Im Hintergrund leuchten blassblau und hellgrau die Felsenklippen der Alpilles mit ihrem grünschwarzen Flickenteppich aus Garrigue und mediterranen Eichen. Wer von Süden kommt, flaniert zunächst durch Olivenhaine. Es gedeihen Olivenbäume und Zypressen in trauter Eintracht, die hätte van Gogh sicher gerne gemalt.




Okay, die Agave rechts unten hätte der Meister nicht gemalt, die gab es zu seiner Zeit noch nicht. Das ist eine invasive Art in der Provence, so eine Art Pest mit stachelig-spitzen Blättern, gedeiht wie Unkraut, aber, hey, ich darf nicht meckern, bin ja schließlich selber eine invasive Art.

In manchen Hainen breiten die Bäume ihre übervollen Wipfel über den sandigen Boden.





Hundert Meter weiter sind ihre Kumpels aber wirklich, wirklich arg beschnitten worden:





(Keine Panik, das wird wieder. Die treiben neu aus, und nächstes Jahr kann man schon wieder richtig viele Oliven ernten.)

Oliven sind nicht so Ihr Ding? Macht nichts, einfach weitergehen – und schon steht man im Wein, beziehungsweise zwischen Reben, die Trauben tragen, aus denen im Herbst der nächste Jahrgang Rosé gekeltert wird, und Roten und Weißen gibt es in den umliegenden Weingütern auch. In diesem alles in allem (für unsere Verhältnisse) recht feuchten Frühsommer stehen die älteren Reben in Saft und Kraft und wunderbaren kräftiggrünen Blättern. Die Reihen der jüngst gepflanzten Stöcke stehen noch ein bisschen bescheidener in der Sonne herum.





Und nach noch einmal zehn Minuten Fußmarsch mehr tritt man dort, wo sich das Tal beim Weiler Saint-Pierre-de-Vence (ungefähr zweieinhalb Bauernhäuser) nach Norden hin öffnet, in eine antike Villa. Eh bien, zumindest stolpert man über die Grundmauern einer spätrömischen Villa, die immerhin noch erahnen lassen, wie groß dieser Gutshof aus dem 4. nachchristlichen Jahrhundert einst gewesen ist.





Die Ruinen stehen am Ende eines Feldwegs, inmitten von Reben – und also auf privatem Grund. Doch der Besitzer, gepriesen sei sein Name, hat die Relikte eben nicht untergepflügt, um noch einige Weinstöcke mehr zu pflanzen, sondern die Anlage bewahrt, einfach so. Kein Eintritt, kein Zaun, eine leicht angerostete Schautafel mit den notwendigsten Erklärungen, und ansonsten darfst du hier herumgehen, wie es dir gefällt, oder so ungefähr, wie es dir gefällt: Bitte nicht auf die Mauerreste steigen, das könnte sie beschädigen!

Alors, Alpilles, Oliven, Zypressen, Wein, Ruinen, und das auf einem einzigen lockeren Spaziergang. Nicht schlecht, oder? Das Beste zum Schluss: Ich habe das vor wenigen Tagen gemacht, schon Sommer, Hauptsaison – und doch habe ich keinen zweiten Wanderer gesehen. Ich hatte das alles für mich alleine, kein Massentourismus, keine Konservenmusik, nix, nada. Und wenn man geduldig genug in den makellosen Himmel sieht und wahnsinnig viel Glück hat, hatte ich diesmal nicht, aber okay, falls doch, dann entdeckt man vielleicht sogar über den Gipfeln der Alpilles die schwarzen Silhouetten großer Vögel, die im Aufwind kreisen. Das könnte einer der seltenen Adler der Alpilles sein, oder sogar einer der genauso seltenen Geier, die hier leben.

Es gibt sie also noch, die guten Nachrichten aus Frankreich. In diesem Sinne: Schönen Sommer, Vive la France, Vive la République!





P.S.: Something which might interest our friends in Canda, the USA or UK: This story is no Roger Blanc, though, surprise, it is a "histoire noire" in Southern France. But, hey, English is the language of short stories, I always wanted to try my hand in it... Thank you Kerry and your team for publishing "The Black Scarf"! Mystery Magazine is available on Amazon, either for Kindle or as a PoD:


https://www.amazon.com/dp/B0D8BPDPPH?&linkCode=sl1&tag=mysteryweekly-20&linkId=3d031f860e0748816aa1adb580de05d4&language=en_US&ref_=as_li_ss_tl